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Der Flug nach Warschau

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Boris hatte sich pünktlich mit Notentasche und Koffer auf dem Flughafen Tempelhof eingefunden. Am Einbuchungsschalter reichte er das Ticket der Air France der hübschen jungen Frau hinter dem Schalter, die aus großen, dunklen Olivaugen charmant über den Tresen herüber lächelte. Er stellte den Koffer auf die Waage, das Gewicht stimmte, der Koffer glitt auf dem Fließband fort und verschwand hinter einer geteilten Gummilasche. Die charmante junge Frau riss das oberste Blatt aus dem Ticketheft und reichte ihm die Bordkarte mit der Nummer elf der ‘Business class’ und wünschte ihm einen guten Flug. Es war noch Zeit, dass Boris die Duty-free-shops aufsuchte und sich die Auslagen ansah. Er suchte nach einer Armbanduhr, weil seine, die er gut fünf Jahre trug, den Geist, den Sekundenzeiger zu bewegen, aufgegeben hatte. Auch wenn keine Verkaufssteuer in den Geschäften des Flughafens erhoben wurden, waren die Preise doch höher als erhofft. Boris kaufte eine Swatch mit Lederarmband zum passenderen Preis und machte sie über dem linken Handgelenk fest. Der Flug nach Warschau mit Flugnummer und Abflugszeit wurde durch den Lautsprecher ausgerufen. Die Passagiere wurden gebeten, sich bereitzuhalten. Boris ging mit der Notentasche unterm Arm, der Bordkarte und dem Reisepass in der Hand zum Schalter der Ausweiskontrolle. Der Beamte blätterte im Reisepass, verglich das Kopffoto mit dem Gesicht des Passträgers, prüfte die Gültigkeit des Passes und drückte den Stempel ein. Er schaute nach dem Pass des nächsten Passagiers, als er Boris den Pass zurückgab.

Der Wartesaal war über halbvoll. Boris sah zwei afrikanische Gesichter unter den wartenden Fluggästen mit den sonst weißen Gesichtern. Die Tür zum überdachten und an den Seiten geschlossenen Zugang zum Transportvogel wurde geöffnet. Die Menschen gingen nach Vorzeigen der Bordkarten zum Zubringertunnel, an dessen Ende sie den Bauch der Flugmaschine bestiegen. Gedankenvoll ging Boris durch den Tunnel und ließ es sich gefallen, wenn er von Fluggästen, die es eilig hatten, ungastlich angestoßen wurde. Ob sie sich für ihr übereiltes Benehmen entschuldigten, das bekam Boris nicht mit. Das wusste er auch hinterher nicht, als er im bequemen Sessel mit der Nummer7, der ein Fensterplatz war, nachdenklich saß, der ihm von einer hochgewachsenen, blassgesichtigen Stewardess zugewiesen wurde, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte. Neben ihn auf Nummer 8 nahm ein beleibter Herr mittleren Alters Platz, der zuvor seine dicke Aktentasche im Gepäckträger über dem Fenstersitz, der der Sitzreihe zugeordnet war, verstaut hatte. Er holte ein Notizbuch aus der Brusttasche und blätterte geschäftig darin herum. Boris hatte seine Notentasche unter die Beine geschoben, um während des Fluges die Partitur zu lesen. Die hochgewachsene, blassgesichtige Stewardess reichte den Fruchtsaft und die Menükarte für’s Abendessen. Nachdem zehn Minuten vergangen waren, Boris im Geiste schon in Warschau und dort in der Philharmonie war, vor dem Flügel saß und auf den Taktstock des Dirigenten sah, um das Tempo zu erfassen, mit dem er die Oktavläufe im Stakkato im zweiten Takt des ersten Satzes, dem >Allegro non troppo<, zu spielen hatte, bat eine andere Stewardess um die Aufmerksamkeit der Fluggäste, um ihnen die Regeln und Sicherheitsmaßnahmen für den Katastrophenfall aufzusagen und vorzuführen. Dann meldete sich der Kapitän, der in französisch und dann in deutsch mit elsässischem Akzent die Anwesenden begrüßte, die Flugzeit nach Warschau auf etwas über eine Stunde angab und den Gästen einen angenehmen Flug wünschte. Über Berlin war die Dämmerung eingebrochen, als die Triebwerke erst auf der einen, dann auf der anderen Seite in Gang gesetzt wurden.

Die Passagiere hatten die Sicherheitsgurte angelegt, festgezogen und die Rückenlehnen steil nach oben gestellt. So hat es eine Frauenstimme über Lautsprecher im akzentfreien Deutsch angeordnet. Kontrolliert wurde das Muss der Sicherheitsmaßnahmen von einem Steward und einer Stewardess, die den Gang von vorn nach hinten gingen und jede Sitzreihe dem prüfenden Auge unterzogen, der Steward für die linke Seite, die Stewardess für die rechte Seite. Die Eingänge waren verriegelt, über den Notausgängen brannten die roten Lichter mit dem ‘Sortie de Secours’, darunter ‘Emergency Exit’, als sich die Maschine in Bewegung setzte. Es ging zurück, als der brummende Vogel vom Anlegedock weggeschoben wurde. Dabei wurde er in die Richtung gedreht, um auf die Rollbahn zu fahren. Nach einer kurzen Haltepause begann die Maschine in Richtung Startbahn zu fahren. Sie tat es langsam, wobei es die leichten Stöße gab, als die Räder über die Nahtstellen der breiten Betonplatten fuhren. Die Maschine drehte und kam nach der Drehung zu Stehen. Das war auf der breiten Startbahn, die zu beiden Seiten von hellen Markierungslichtern begrenzt war. Nun wurden die Turbinen auf Hochtouren gebracht. Mit einem Ruck, wobei die Rücken in die Lehnen gedrückt wurden, setzte die Maschine zum Start an. Je schneller sie wurde, desto weniger schlugen die Stöße gegen die Räder. Nach einem letzten Radstoß ging es schräg nach oben. Die beleuchteten Rollfelder und die vielen Gebäude des Flughafens mitsamt Fahrzeugen wurden kleiner, je höher es ging. Die Menschen, die außerhalb der Gerätewagen standen und gingen, wurden zu Punkten, bis sie wenig später nicht mehr zu erkennen waren. Dann schwebte die Maschine über dem Lichtermeer von Berlin mit den erleuchteten Fernsehtürmen, dem Charlottenburger Schloss, dem Rathaus, der Gedächtniskirche, den Plätzen und den Prachtstraßen. Es war nicht schwer, im erleuchteten Stadtbild den Kudamm in seiner Breite und Länge zu verfolgen.

Es dauerte nicht lange, als die Maschine die Wolkendecke durchbrach und von Berlin und seiner Weitläufigkeit nichts mehr zu sehen war. Auch dauerte es nicht lange, dass der Kapitän das Überfliegen der polnischen Grenze ansagte, war doch die Oder von der deutschen Hauptstadt weniger als neunzig Kilometer entfernt. Diese Grenze war ein Tatbestand, den der Ausgang des Zweiten Weltkrieges den Polen auf Kosten der Deutschen beschert hatte. Es war ein empfindlicher Tatbestand von nationaler und internationaler Bedeutung bezüglich der Aussöhnung der beiden Völker nach dem großen Leid, das der Wahnsinnskrieg und Naziterror angerichtet hatten, dem die Tragödie der Vertreibung von über vier Millionen Deutscher aus Schlesien folgte, das seit vielen Generationen ihre Heimat gewesen war, so wie es die Heimat Gerhart Hauptmann’s war. Nach der Ansage, nun über polnischem Territorium zu fliegen, wurde das Abendessen serviert. Boris hatte sich eine gebackene Kalbsleber mit gekochten Kartoffeln bestellt, während dem beleibten Nachbarn, der nach Durchblättern des Notizbuches bei zurückgeklappter Rückenlehne döste, durch offenen Mund kratzend schnarchte, ein Rinder-Steak mit Pommes fritesvorgesetzt bekam. Nachdem Boris ihm leicht auf die Hand geklopft hatte, fuhr der Oberkörper des Nachbarn samt Rückenlehne nach oben. Beim Trinken gab es die Auwahl zwischen Tee, Kaffee, Fruchtsäften für die verschiedenen Geschmäcker, Rot- oder Weißwein aus der Bourgogne, beim Bier zwischen Dortmunder Pils, Berliner Weißen mit Schuss oder Pilsener Urquell.

Boris bestellte den Rotwein, weil er ein trockenes Gefühl im Hals hatte, sich nach einem erlesenen Tröpfchen sehnte und die französischen Weine bevorzugte. Der Nachbar bekam die grüne Flasche mit dem Pilsener Urquell. Da Boris am Tage noch nicht zum Essen gekommen war, verzehrte er die gebackene Kalbsleber und die anschließende Nachspeise, einen Wackelpudding nach deutscher Art mit Vanillesauce überzogen und zwei halbierten Erdbeeren mit großem Appetit. Dennoch war der Nachbar mit seiner größeren Portion einschließlich Nachspeise schon fertig, als Boris noch mit dem Hauptgang beschäftigt war. Mag sein, dass er beim Essen bei Brahms und seinem zweiten Klavier-Konzert war, das er im Geiste vor sich abspielte. Eine junge Stewardess kam mit dem Essenswagen heran und räumte die Tabletts mit den leer- und nicht leergegessenen Tellern von den Klapptischen vor den Sitzen der Fluggäste. Sie hatte das Tablett mit den leergegessenen Tellern vom Nachbarn noch in der Hand, als dieser unverzüglich die Rücklehne zurück stellte und seinen Dösschlaf wieder aufnahm. Es dauerte keine zehn Minuten, als er die Kontrolle über den Mundverschluss verlor und der schnarchende Kratzton einsetzte, der nicht aufhörte, bis der Kapitän bekanntgab, dass er im Anflug auf den Warschauer Flughafen sei und die Passagiere sich anschnallen und die Rückenlehne nach oben stellen sollen. Der schnarchende Nachbar hatte es offenbar nicht mitbekommen. So klopfte ihm Boris wieder auf die Hand und sagte ihm, dass die Maschine zur Landung angesetzt habe, wobei der Schnarcher das Schnarchen einstellte und mit Knopfdruck die Rückenlehne den massigen Oberkörper nach vorn schieben ließ. Die Zeit verging für Boris im wahrsten Sinne des Wortes im Flug. Hinzu kam das Schnarchen des Fleischkolosses neben ihm, dass er zum Partiturlesen nicht gekommen war, was er sich vorgenommen hatte. Der Brahms war also ungesehen in der Notentasche mitgereist und betrat mit dem Pianisten den Warschauer Flughafen, nachdem der Kapitän aus seiner Kabine den Fluggästen mit dem Reiseziel Warschau einen angenehmen Aufenthalt in französisch und deutsch mit elsässischem Akzent und der Marketingdevise, dass er sich freuen würde, wenn die Gäste auch weiterhin von der Air France Gebrauch machen würden. Dabei hatte er die Maschine weich auf der Rollbahn aufgesetzt.

Vom polnischen Bodenpersonal wurde die Treppe herangefahren, der Steward entriegelte und öffnete die Tür. Beim Aussteigen der Fluggäste, die ihren Flug für Warschau gebucht und geflogen hatten, wurden sie von Steward und einer hübschen, jungen Stewardess mit dem charmanten “Bon soir!” verabschiedet. Boris erwiderte das Lächeln und den Gruß in französisch und stieg aus dem Flugzeug, ging die Treppe herab und bestieg den kleinrädrigen Flughafenbus mit dem niedrigen Boden, der vor der Treppe stand. Der Busfahrer, ein Mann im mittleren Alter, wartete kauend mit zurückgeschobener Fahrermütze, bis sich der Fahrgastraum gefüllt hatte. Auf Knopfdruck schloss die breite Mitteltür, und der Bus setzte sich in Bewegung, fuhr an anderen parkenden Flugzeugen vorbei, von denen neben Maschinen mit polnischer Aufschrift und polnischem Wappen andere das Logo der sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot trugen. Der Bus drehte einige Kurven und fuhr dann gerade auf das große Gebäude zu, in dem sich die Fluggäste bei der Ankunft der Pass- und Zollkontrolle zu unterziehen hatten. Die Passagiere aus der Air France zeigten Reisepass und Visum vor, wo der Beamte den polnischen Stempel eindrückte. Dann gingen sie zum Gepäckraum, um ihre Koffer und anderen Gepäckstücke in Empfang zu nehmen. Das Fließband zur Gepäckbeförderung lief durch eine quadratische Wandöffnung aus dem Nebenraum; breite, herabhängende Gummilaschen verhinderten den Durchblick in diesen Raum. Die Passagiere übten sich in Geduld, was sie auch mussten, denn für gut eine Viertelstunde Wartezeit beförderte das Band außer der stickigen Luft kein Frachtgut. Einige Passagiere schafften es mit der nötigen Geduld nicht ganz. Sie gingen auf und ab, sahen auf das Förderband, das nur die abgestandene Luft beförderte, während andere gereizte Gesichter machten und laut fragten, wo denn das Gepäck geblieben sei, und ob es überhaupt mitgekommen ist. Je länger die Wartezeit wurde, desto länger wurden die Gesichter. Als wollten einige brüllen: Typisch polnische Wirtschaft. Aber keiner sagte etwas, das verbot der Anstand. Auch der Fettleibige vom Sitzplatz Nummer 8 ging auf und ab und machte ein miesgrämiges Gesicht. Er zog zum Zeitvertreib das Notizbuch aus der Brusttasche und blätterte in ihm so geschäftig herum, wie er es auf seinem Sitzplatz in der ‘Business class’ schon getan hatte. Er musste ein vielbeschäftiger Mann mit vollem Terminkalender sein, ein Manager der oberen Etage. Nur passte die Fettleibigkeit weniger zum erfolgreichen Manager, der vital und dynamisch zu sein hatte, dachte Boris, der die wartenden Fluggäste und ihre Gesichter vor dem laufenden Förderband beobachtete und seine Schlüsse aus den Beobachtungen zog.

Dann war es soweit. Es rumpelte und klopfte hinter dem laschenverhängten Durchbruch in der Wand. Da wurde das Frachtgut auf das Förderband geworfen, die Koffer, Taschen und das andere Gepäck, das stehend, liegend und verquert in den Raum, den Gepäckerwartungsraum gebracht wurde. Nun nahmen die Wartenden, die das Förderband säumten, sich ihr Stück oder ihre Stücke vom Band, die einen von der einen Seite, die anderen von der anderen Seite. Es war darauf geachtet, den richtigen Koffer vom Band zu nehmen. Da einige Koffer zum Verwechseln ähnlich waren, musste das Gepäckschild mit dem Namen beachtet werden, das dem Kofferhenkel angehängt war. Boris half einem älteren Ehepaar beim Herunterheben der zwei Koffer, worauf es sich sehr herzlich bedankte. Die alte Dame meinte, dass es früher eine gute Zeit war, als jüngere Menschen den Alten halfen, wenn sie sahen, dass es den Alten an der körperlichen Kraft mangelt. Heute sei diese Art der helfenden Aufmerksamkeit eine Ausnahme geworden. “Wo ist der Mensch nur hingekommen?!”, sagte sie mit bitterem Unterton in gebrochenem Deutsch, weil sie wohl eine Polin war oder nach dem Kriege geworden war.

Boris dachte über den bemerkenswerten Ausspruch nach, dass er seinen Koffer vergaß vom Band zu holen, als er an ihm vorüberging. So rannte er ans Bandende, um ihn noch zu schnappen. Mit dem Koffer in der linken Hand und der Notentasche unterm rechten Arm ging er in Richtung Zollkontrolle. Dort standen bereits Schlangen vor den Zollbeamten. Boris suchte sich die kürzeste Schlange aus, der er sich anschloss. Der Zöllner war ein freundlicher, junger Mann, der bei Boris nicht tat, was er bei den Vorangegangenen getan hatte, nämlich die Koffer und Taschen zu durchsuchen. Er fragte ihn, ob er etwas zu verzollen hätte. Als Boris bei der Wahrheit blieb und ihm sagte, dass er nichts im Koffer oder in der Tasche habe, was zu verzollen sei, glaubte ihm der junge Zöllner aufs Wort und ließ ihn passieren.

Vor dem Flughafengebäude standen die Taxis in langer Reihe, die sich aus VW’s, Fiats und Renaults zusammensetzten. Die Taxis rückten nach, wenn das erste Taxi vom Gebäudeeingang abfuhr. Boris nahm das nächste nachrückende Taxi. Der Fahrer verstaute den Koffer im Gepäckraum des Fiats, der seine besten Jahre längst abgefahren hatte. “Wohin?”, fragte er, weil er Boris das Deutsche angesehen hatte. “Hotel Polnischer Hof”, sagte Boris, und der Fahrer startete den Motor. Da der Flughafen außerhalb der Stadt gelegen war, ging es zunächst über eine unbeleuchtete Straße. Je näher es an die Stadt heranging, desto besser wurde die Straßenbeleuchtung. Der Taxifahrer war ein stiller Mann, der offenbar das Reden im Sinne einer Unterhaltung während des Fahrens nicht mochte. So wurde bis zum genannten Hotel kein Wort gesprochen, geschweige denn gewechselt. Er hielt vor dem breiten, hell erleuchteten Portal des Hotels, stieg aus, gab dem Portier ein Hand- und Pfeifzeichen, der darauf zum Auto kam und den Koffer in die Hand nahm, den der Fahrer aus dem Gepäckraum holte und ihm übergab. Boris fragte, was er zu zahlen habe. Darauf sagte der Fahrer: “hundert Zloty”. Sein Gesicht klarte auf, als er im Deutsch der “drei Worte” sagte: “drei DM gut; drei DM sehr gut.” Darauf gab ihm Boris zehn [DM], was für den Taxifahrer unglaublich war. Er zog die Fahrermütze vom Kopf, dankte in polnisch, gab dem Portier, der den Koffer in der Hand hielt, die nötige Anweisung, dass dieser zu Lächeln begann, als das Taxi abfuhr und Boris dem Portier folgte.

Die junge, attraktive Polin an der Rezeption sprach ein tadelloses Deutsch: “Guten Abend, Herr Baródin. Wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Wir stehen ihnen zu jeder Zeit gerne zu Diensten. Ihr Zimmer hat die Nummer 7 und ist im ersten Stock. Unser Speisesaal ist bis 22 Uhr geöffnet. Ich kann ihnen die Spezialität des Tages sehr empfehlen. Benötigen Sie einen Telefonanschluss?” Boris: “Ja, ein Telefon brauche ich schon.” Die junge Polin an der Rezeption: “Das ist überhaupt kein Problem. Sie bekommen den Anschluss in den nächsten zehn Minuten. Falls Sie sonst etwas benötigen, ob es Getränke, der Friseur oder das Bügeln der Hemden und Anzüge sind, zögern Sie nicht, mir Bescheid zu sagen. Die Direktion hat Anweisung gegeben, ihnen unseren Vorzugsdienst zukommen zu lassen.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen.” Die junge, blonde Polin gab dem Portier den Schlüssel, der Boris zum Aufzug und dann zum Zimmer 7 im ersten Stock führte. Der Portier schaltete das Licht im großen Raum, dem Sitzraum, an, der mit zwei Sesseln, einem Klubtisch und einer Stehlampe ausgestattet war. An den Sitzraum schloss sich das Doppelbettzimmer und das Badezimmer mit Toilette an. Boris gab dem Portier zehn [DM] Trink-, beziehungsweise Tragegeld, was für ihn nicht nur ein Zeichen der Aufmerksamkeit vonseiten des Gastes, sondern ein königliches Trinkgeld war, für das sich der junge Portier mit einer Verbeugung bedankte. Boris sah die Rührung in den Augen, die zu glänzen begannen, als er die bundesdeutsche Banknote in der Hand hielt, sie zusammenfaltete und in seine Brusttasche steckte.

Der Portier verließ das Zimmer und legte die Tür von außen leise ins Schloss. Boris wusch sich die Hände und das Gesicht im lauwarmen Wasser. Dann stand er für einen Augenblick am Fenster, schaute über den erleuchteten Platz vor dem Hotel und in die vom Platz abgehenden Straßen. Die Stadt war erleuchtet, stand aber nicht in einem Lichtermeer, wie es Berlin zum Strahlen brachte. Boris war in der polnischen Metropole, der Stadt des Warschauer Aufstandes und der vielen anderen Ereignisse von historischer Bedeutung. Er setzte sich in einen der beiden Sessel, zog die Partitur aus der Notentasche und blätterte im Selbstgespräch darin herum: “Großer Brahms, hier sollst du in zwei Tagen zu hören sein. Hoffentlich haben die Polen die offenen Ohren und das offene Gemüt, dich zu verstehen, was du im zweiten Klavier-Konzert ihnen mitzuteilen hast. Musikalisch ist das polnische Volk und auch anspruchsvoll, das einen Frédéric Chopin und viele andere große Musiker hervorgebracht hat. Da muss ich mich anstrengen und gut spielen, um den Zuhörern das zu Gehör zu bringen, was sie von dir hören sollen.” Er legte die Partitur auf den Klubtisch, ließ sie am Anfang des zweiten Satzes, dem >Allegro appassionato<, aufgeschlagen und meldete ein Gespräch nach Hamburg-Blankenese an, um seiner Mutter, Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, mitzuteilen, dass er gut in Warschau angekommen sei. Die Vermittlung nahm einige Minuten in Anspruch. Dann meldete sich Frau Elbsteiner. Boris: “Mutter? Hallo Mutter! Ich bin gut in Warschau angekommen.” Mutter: “Da bin ich beruhigt. Wie fühlst du dich?” Boris: “Wie sich ein Pianist fühlt, der ein schwieriges Konzert zu spielen hat.” Mutter: “Das wirst du schon schaffen, mein Sohn. Was macht dein Husten?” Boris: “Der ist fast weg. Doch werde ich den Hustensaft weiter einnehmen, damit ich beim Spiel nicht dazwischenbelle, was der Vortrag nicht erlaubt.” Mutter: “Das ist keine gute Nachricht. Ich dachte, die Medizin hätte dir geholfen und dich kuriert.” Boris: “Sie hat mir geholfen. Die Tonsillitis ist völlig abgeheilt.” Mutter: “Die Aufführung ist übermorgen.” Boris: “Ja, Mutter. Morgen ist die Probe.” Mutter: “Dann hast du noch etwas Zeit, dich zu erholen. Nimm dir die Zeit, damit du stark genug für das Konzert bist.” Boris: “Ich werde mich bemühen. Doch ein Klavier fehlt mir hier. Wenn ich nicht ständig dran sitze, packt mich die Angst, dass ich aus der Übung komme.” Mutter: “Nun rede dir nicht noch so etwas ein. Du bist ein brillanter Pianist und beherrschst das zweite Brahms-Konzert.” Boris: “Dein Wort in Gottes Ohr, Mutter. Ich muss mich anstrengen, denn die Erwartungen sind hoch. Da darf mir kein Fehler unterlaufen.” Mutter: “Sei zuversichtlich! Die Menschen werden von deinem Spiel begeistert sein, so wie sie es in Antwerpen waren, als du vor einem Jahre dort den Brahms gespielt hast. Was mir einfällt: Frage doch bei der Rezeption nach, ob es im Hotel einen Flügel gibt, den sie dir an den beiden Tagen zur Verfügung stellen können.” Boris: “Ja, das werde ich tun. Das ist ein guter Einfall.” Mutter: “Ich wünsche dir eine gute Nacht und drücke dir die Daumen, wie ich es immer vor deinen Konzerten getan habe.” Boris: “Vielen Dank, Mutter, und auch dir eine gute Nacht.”

Boris nahm nicht den Fahrstuhl, um nach unten zum Speisesaal zu kommen, er ging die Treppe herunter, die direkt an der Rezeption endete. Die hübsche, junge Polin war mit einem Gast, einem russischen Herrn beschäftigt, mit dem sie in fließendem Russisch sprach. Boris wartete vor der Rezeption, frischte seine Russischkenntnisse dadurch auf, indem er das Gespräch, in dem es um das Auffinden von zwei Ministerien ging, verfolgte und im Geiste seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dankte, der ihm als kleines Kind neben den ersten Schritten auf dem Klavier auch die ersten Schritte in die russische Sprache mit ihren sonoren Kehllauten beigebracht hatte. Das Gespräch war beendet. Der russische Gast dankte charmant mit einem zusätzlichen Augenzwinker der attraktiven Polin und verschwand im Speiseraum. Die junge Polin schaute ihn aus ihren großen, dunklen Augen an: “Herr Baródin, kann ich etwas für Sie tun?” Das fragte sie im fehlerfreien Deutsch und lächelte Boris fast verheißungsvoll ins Gesicht. Boris: “Darf ich zunächst um ihren Namen fragen, damit ich Sie korrekt anreden kann, wenn ich mit meinen ständigen Bitten komme.” Die Polin lachte, wobei ihr strahlend weißes Gebiss zur verdienten Geltung kam: “Vera ist mein Name.” Boris: “Vielen Dank. Vera, ich brauche ein Klavier oder einen Flügel. Haben Sie so etwas im Hotel? Ich habe zu arbeiten, das heißt zu spielen.” Vera schaute aus noch größeren Augen Boris an: “Das ist ja interessant. Das kommt im Jahr selten vor, dass ein Gast nach einem Flügel fragt.” Mit dem Lächeln der Neugier fuhr sie fort: “Nun begreife ich, Sie sind der Boris Baródin, der übermorgen ein Konzert in der Philharmonie gibt.” Boris: “Ja, dieser Boris bin ich und muss mich auf das Konzert vorbereiten.” Vera: “Seit einem Jahr steht hier sogar ein neuer Konzertflügel im Musiksaal.

Ich werde Sie zum Flügel hinführen.” Sie führte Boris den breiten Flur entlang, der sich in die entgegengesetzte Richtung vom Speisesaal erstreckte. Vera ging einige Schritte voraus und begann ein freundlich lockeres Gespräch: “Da haben Sie einen großen Abend vor sich. Im Kulturteil der Zeitungen werden Sie als Pianist mit internationalem Renommée beschrieben.” Boris schwieg und folgte Vera, die sich in der Anmut ihres Ganges in den Hüften wog. Vera: “Da sind Sie durch ihre Konzerte sicher in der Welt herumgekommen.” Boris: “Ja, das bin ich.” Vera: “Das muss doch ein aufregendes Leben sein, als Künstler gefeiert zu werden.” Boris: “Wissen Sie, Fräulein Vera, oft wünschte ich mir weniger auf dem Präsentierteller zu stehen und dafür mehr Ruhe und Beschaulichkeit.” Vera: “Das können nur Sie sagen, weil Sie ganz oben auf der Ruhmesleiter stehen. Für uns Normalmenschen ist und bleibt es der große Traum.” Boris: “Aber Sie haben doch einen interessanten Beruf, der Sie mit vielen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Berufe zusammenbringt. Da sind Sie mir doch im Vorteil, denn ich habe es fast ausschließlich mit Musikern und meinem Agenten zu tun.” Vera: “Sie haben recht, Herr Baródin, in den ersten Monaten ist der Beruf einer Rezeptionistin spannend und aufregend, wenn auf einen die Menschen zukommen, um hier zu übernachten, und die anderen Menschen nach dem Frühstück gehen, die hier übernachtet und schließlich gezahlt haben. Aber dann wird es zur freundlichen Routine, die auch ihre schlechten Seiten hat, wenn sich ein Gast etwas herausnimmt, was er nicht tun sollte, weil es geschmacklos und ungezogen ist.” Boris: “Ich verstehe, was Sie sagen. Doch das sind doch die Ausnahmen.” Vera: “Das können Sie so nicht mehr sagen, denn die Respektlosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber hat in den letzten Jahren bedenkliche Ausmaße angenommen. Der Mangel an guter Erziehung zeigt nun und besonders uns gegenüber die Folgen, gegen die wir uns zu wehren haben.” Vera öffnete die hohe Flügeltür: “Kommen Sie! Jetzt sind wir im Musiksaal.” Sie schaltete das Licht an, und zwei riesige Kronleuchter ließen den Saal erstrahlen.

Vera: “Es wird gesagt, dass hier auch Chopin seine Klavierabende gegeben haben soll. Das war zu einer Zeit, als das Hotel den Namen ‘Fürstenhof’ führte. Im letzten Krieg sollen hier jüdische Künstler vor hochrangigen Nazis aufgetreten sein, auch solche von der Berliner Philharmonie, die wenig später in Auschwitz-Birkenau vergast wurden.” Boris schockierte dieser Satz. Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, als er durch die multiple Sklerose in den Beinen gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, wie brutal die Nazis mit den Juden und anderen Minderheiten sowie den Regimekritikern umgegangen waren. Vera führte ihn ans Ende des Saales, wo der Flügel stand: “Da ist er, den Sie suchen.” Boris setzte sich vor den Flügel, der ein Steinway war, und spielte ihr zum Dank die beiden ersten ‘Préludes,Opus 28’, das >C-Dur Agitato< und das >a-Moll Lento< von Frédéric Chopin vor. Vera stand wie gebannt am Flügel mit Tränen in ihren großen dunklen Augen. Da sie kein Tuch bei sich hatte, um ihre Tränen abzuwischen, zog Boris sein ungebrauchtes Taschentuch aus der Tasche und hielt es ihr mit der Frage entgegen, ob sie damit vorliebnehmen wolle. Vera nahm sein Taschentuch, das noch zusammengefaltet war, wortlos entgegen und wischte sich die Tränen vom Gesicht, während Boris die beiden nächsten ‘Préludes’, das >G-Dur Vivace< und das >e-Moll Largo< spielte. Vera: “Sie spielen wunderbar; wie ein Engel spielen Sie.” Boris: “Schön wär’s, wenn ich wie ein Engel spielen könnte.”

Vera trieb die Unruhe, weil sie ihren Dienst an der Rezeption zu verrichten hatte. “Ich muss zurück zur Rezeption. Wie gerne hätte ich ihnen weiter zugehört.” Boris: “Kann ich hier bleiben und spielen, ohne dass ich jemand störe?” Vera: “Das können Sie, Boris Baródin. Sie können hier spielen, so lange Sie wollen. Aber was ist mit dem Abendessen? Wollen Sie sich nicht vorher etwas stärken?” Boris: “Vera, ich will spielen. Das ist mein Bedürfnis. Mein Appetit ist nicht so groß. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bringen Sie mir etwa in einer Stunde ein Tablett mit Tee und etwas zu essen.” Vera: “Das bedeutet Nachtschicht für mich. Aber für Sie, den spielenden Engel auf dem Steinway tu ich das gern.” Sie verließ den Musiksaal und schloss die hohe Flügeltür leise hinter sich. Sie stand noch einen Augenblick an der Tür und lauschte seinem Spiel des ersten Satzes aus dem zweiten Brahms-Konzert. Dass sie dabei sein Taschentuch in der Hand hielt, merkte sie erst an der Rezeption, als sie es aus der Hand legte, um ein Telefonat zu tätigen. Sein Spiel hatte sie aus der Fassung gebracht, hatte sie ‘umgeworfen’. Als ein Gast an der Rezeption aufgrund ihrer ‘Abwesenheit’ fragte, ob ihr nicht wohl sei, merkte Vera, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war, sondern bei Boris Baródin war, dem jungen und schon so berühmten Pianisten aus Berlin. Er hatte sie völlig in Beschlag genommen, hatte sie erobert, ob er es wollte oder nicht.

Boris spielte Brahms und war mit seinem Spiel zufrieden. Es war Vera, die mit dem Tablett den Musiksaal betrat, um ihm den Tee und die Spezialität des Tages, eine gespickte Gänsebrust mit Bratkartoffeln und Rotkohl zu bringen. Sie stellte das volle Tablett auf einen Stuhl und goss Tee in die Tasse, als Boris beim Blick auf seine Swatch, die er ausgezogen und links neben die Tastatur gelegt hatte, erschrak, weil es kurz vor Mitternacht war und sich der Mahnung seiner Mutter erinnerte, sich aus gesundheitlichen Gründen noch zu schonen. Vera: “Sie kennen wohl gar keine Pause, Boris Baródin.” Boris schmunzelte: “Die kenne ich schon, Fräulein Vera. Aber ein Infekt mit einer Mandelentzündung hat mir lange genug die Zwangspause auferlegt. Nun muss ich nachholen, was ich versäumt habe. Und Sie wissen es so wie ich, dass das Warschauer Publikum hohe Ansprüche an den Pianisten stellt.” Vera: “Aber Sie spielen einmalig schön. Was kann da noch ausgesetzt werden?” Boris, dem das “einmalig” gefiel, griff zum Wortspiel: “Wenn es beim zweiten Mal nicht so klappt, wie es gespielt sein soll oder beim ersten Mal gespielt wurde.” Vera lachte, während Boris vor dem Flügel saß und über Mendelssohn’s “Lieder ohne Worte” meditierte. Vera: “Wieviel Löffel Zucker nehmen Sie zum Tee?” Boris, ohne den Blick vom Flügel zu nehmen: “einen Teelöffel bitte.” Vera rührte den Zucker in den Tee: “Boris Baródin, nun ist eine Pause gefällig, denn das Essen ist gerichtet.” Sie schob einen zweiten Stuhl für Boris vor den Stuhl mit dem Tablett und einen dritten Stuhl dazu, auf den sie sich setzte. Vera: “Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Sie müssen doch Hunger haben.” Boris: “Der ist nicht so groß, denn auf dem Flug von Berlin nach Warschau gab es schon das Abendessen, eine gebackene Kalbsleber mit gekochten Kartoffeln und Gemüse.” Vera: “Das ist nun einige Stunden her. Jetzt nehmen Sie eben das Mitternachtsessen. Sie müssen sich von dem Infekt, der Ihnen die Zwangspause aufgedrückt hatte, erholen.” Boris aß mit Appetit die köstlich zubereitete Gänsebrust und die knackig angerichteten Bratkartoffeln. Auch schmeckte ihm der mit einem Schuss Wein versetzte Rotkohl. Während des Essens fragte er sie, ihm ein wenig aus ihrem Leben zu erzählen.

Vera: “Ich bin ein Kind aus einer kinderreichen Familie. Geboren wurde ich in Wroclaw, dem einst deutschen Breslau, wo mein Vater als Gruben- und Maschineningenieur im Kohlerevier Katowicach (Kattowitz) tätig war. Ich habe noch drei Brüder und zwei Schwestern. Alle sind jünger als ich. Leider ist mein Vater, er war gerade zweiundfünfzig Jahre alt, an einem Lungenkrebs gestorben. Auch die Professoren von der Uni-Klinik konnten ihn nicht retten. Meine Mutter bezog eine kleine Witwenrente, die zum Leben, ich meine zum Überleben der Familie nicht reichte. So kam es auf mich zu, eine Beschäftigung anzutreten, um Geld für die Familie zu verdienen. Gerne hätte ich studiert, denn ich hatte die Schule mit guten Noten abgeschlossen. Aber der Tod meines Vaters setzte andere Prioritäten. Und so bin ich hier seit über zwei Jahren an der Rezeption des Hotels Polnischer Hof, dem früheren Fürstenhof zu Zeiten des polnischen Adels, seines Großgrundbesitzes und der Lehnsherrschaft über weite Kreise des polnischen Volkes.” Boris: “Fräulein Vera, was hätten Sie denn studieren wollen, wenn ihr Vater gesund und noch am Leben wäre?” Vera überlegte einen kurzen Augenblick: “Theater und Ballett. Schon als Kind liebte ich das Tanzen und das Puppenspiel.” Boris: “Das hört sich interessant an, und ich glaube, dass Sie die Begabung dazu hätten.” Vera: “Nur genügt die Begabung allein nicht, um sie zur Durchführung zu bringen.” Boris: “Ich verstehe.” Vera: “Mein Vater sagte: mein Kind habe Geduld; erst muss die Familie aus dem Gröbsten heraus sein, die Geschwister müssen den Schulabschluss haben, um mit guten Chancen ins Berufsleben zu gehen. Warte, bis ich fünfzig bin, dann habe ich auch das Geld, dass du deinen Traum vom Theater und Ballett verwirklichen kannst. Oft hat er seinen Schmerz ausgedrückt, als ihn das Krebsleiden erfasste und nicht mehr losließ, statt dessen ihn verzehrte, wie leid es ihm tut, dass nun das angesparte Geld für die ärztliche Behandlung und die Apotheke draufgehe und nicht, wie versprochen, für die Ausbildung in Drama und Ballett.”

Boris: “Den Schmerz ihres Vaters kann ich nachempfinden. Sie, Fräulein Vera, tun mir leid, dass ihre Begabung deshalb nicht weiter zur Ausbildung und damit zum Tragen kommen kann. Aber vielleicht ergibt sich die Möglichkeit zum späteren Zeitpunkt, wenn ihre Geschwister ins Berufsleben getreten sind und Sie das Geld für das Studium angespart haben.” Vera: “Das wird allerdings noch eine Weile dauern, denn noch sind nicht alle aus der Schule heraus. Doch was rede ich, was klage ich Ihnen vor? Sie geben ein Konzert, sind auf der Höhe des Ruhmes, da soll ich nicht mit meinen kleinen Dingendazwischenkommen! Entschuldigen Sie, das habe ich wirklich nicht so gemeint.” Boris: “Das habe ich so auch nicht aufgefasst, Fräulein Vera. Ich habe doch durch meine Frage den Anlass gegeben, dass Sie mir aus ihrem Leben etwas erzählen möchten. Und das haben Sie getan.” Vera: “Danke, dass Sie mich verstanden haben.” Boris: “Jetzt spiele ich Ihnen noch etwas Chopin vor, dann muss ich aber ins Bett, um für morgen fit zu sein.” Vera räumte die Sachen auf dem Tablett zusammen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Boris hatte sich auf den Hocker vor dem Flügel gesetzt, schaute kurz zu Vera herüber und spielte aus den ‘Préludes’das >D-Dur Allegro molto<, dann das >h-MollLento assai< und zum Abschluss das letzte, das >d-MollAllegro appassionato<.

Boris begleitete Vera, die das Tablett trug, aus dem Musiksaal, öffnete ihr die hohe Flügeltür, drückte auf den Lichtschalter, dass der Saal in seine ursprüngliche Dunkelheit versank, schloss die Tür und ging mit Vera den breiten Flur zur Rezeption zurück, wo ein junger Mann mit schläfrigen Augen den ruhigen Nachdienst versah. Vera: “Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Wollen Sie geweckt werden?” Boris: “Ja um acht, das wäre sehr freundlich. Dann sehen wir uns morgen. Gute Nacht!” Er nahm den Treppenaufgang neben der Rezeption, während Vera in Richtung Speisesaal verschwand, um das Tablett in der Hotelküche abzustellen.

Die Nacht träumte Boris eine Liebesromanze. Er hatte sich in ein Mädchen slawischer Herkunft verliebt, das außergewöhnlich schön und rassig war. Als Liebhaber hatte er ihr Liebeslieder vorgespielt, die in ihrer Gefühlstiefe und Farbigkeit dem großen Brahms oder Liszt nicht nachstanden. Während er ihr die Liebeslieder vorspielte, wobei es auch zu ausladenden Arpeggien und rollenden Oktavläufen kam, saß das Mädchen neben ihm auf der Bank vor dem Flügel und schmiegte sich zärtlich an ihn. Ihre Hand fuhr sanft über seinen Kopf, streichelte das rechte Ohr. Dann küsste sie seine rechte Wange. Es war ein beglückendes Spiel und glückliches Nebeneinander, das nach einem glücklichen Miteinander verlangte. Die Liebeslieder gab es geschrieben nicht; sie entstanden ad hoc aus dem Augenblick des Empfindens, des Fühlens und Verlangens. Es war daher nicht verwunderlich, dass das Repertoire dieser Lieder unerschöpflich war. Es wäre so ewig weitergegangen, war es doch die Schönste der Welten, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte, das die schönste Welt mit dem erträumten, unerschöpflichen Liebesverlangen und dem nicht weniger großen Liebesliederrepertoire im Nu zum Absturz brachte. “Guten Morgen, es ist acht Uhr”, sagte eine freundliche, junge Männerstimme. “Danke”, erwiderte Boris noch verträumt und suchte, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte nach den Traumbelegen, die ihn so weit geführt, ja fast verführt hatten. Doch die Belege und ihre ‘Unterlagen’ waren weg. Nichts war von ihnen zurückgeblieben oder auffindbar. “Hätte statt der Männerstimme Vera das ‘Guten Morgen’ und die ‘Acht Uhr’ gesagt, dann wäre doch die wunderbare Welt der Liebe und ihrer Lieder geblieben und nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen, eingestürzt, vom Erdboden verschwunden.” Das war der Kommentar am Morgen eines wichtigen Tages, dem Tage vor der Aufführung des Brahms-Konzertes, den Boris sich beim Rasieren vor dem Spiegel ins Gesicht sagte, als er aus dem Bett gestiegen war und dabei war, unter die Brause zu steigen. Dass die Schlafstunden zu kurz gekommen waren, das spürte er ebenso wie das Verlangen, Vera wiederzusehen.

Da war doch etwas Neues in sein Leben eingetreten, dass es ihn nach einem anderen Menschen verlangte, der bisher ausschließlich seine Mutter gewesen war. Er war gerade in seine Hose gestiegen und dabei, sie am Bund zu schließen, als das Telefon läutete und Vera ihm einen guten Morgen wünschte: “Ich wollte nur sichergehen, dass Sie auch geweckt wurden, denn Sie sagten, dass für neun Uhr die Probe in der Philharmonie angesetzt sei.” Boris: “Das ist sehr freundlich von Ihnen. Haben Sie denn eine gute Nacht gehabt?” Vera: “Lange konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisten um die Musik und ihr wunderbares Klavierspiel, dann sah ich Sie im Traum vor dem großen Himmelsflügel über den Wolken sitzen und hörte die ‘Préludes’ von Chopin. Sie spielten wie ein Engel. Töne und Klänge bildeten ein großes Gebäude der schönsten Bauweise, das von einem blühenden Frühlingsgarten umgeben war, in dem wir uns trafen und einander zulachten. Der Duft, der diesem Garten entströmte, war der Zauberduft der großen Liebe.” Boris: “Wie war es mit dem Duft, als Sie aufwachten, Fräulein Vera?” Vera: “Der ist geblieben, den kann ich auf meiner Zunge schmecken.” Boris: “Dann haben Sie einen starken Traum gehabt mit dem Glück, dass er mit dem Erwachen nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen und vom Erdboden verschwunden ist. Ich hatte auch einen schönen Traum. Als aber das Telefon um acht klingelte und der junge Mann von der Rezeption das Guten Morgen, es ist acht Uhr sagte, war von dem Traum nichts mehr da. Ich habe nach ihm gesucht, ihn aber nicht mehr gefunden.” Vera: “Wir müssen uns wiedersehen. Das ist, warum ich den Duft des Frühlingsgartens noch in meiner Nase habe und ihn auf der Zunge schmecke. Dann müssen Sie mir von ihrem Traum erzählen. Doch erst kommt die Probe.” Boris: “Und dann kommt das Spiel.” Vera: “Ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie müssen noch frühstücken, bevor Sie in die Philharmonie gehen. Ich wünsche ihnen alles Gute zum Spiel des Konzertes und die Erfüllung ihres Glücks.” Boris: “Vielen Dank. Nach der Probe werde ich Sie entweder an der Rezeption treffen oder Sie anrufen, denn da ist Freiraum, ich meine noch leerer Raum, was die Erfüllung meines Glücks betrifft.” Vera: “Ich warte auf ihren Anruf. Bis dann!”

“Brahms, Brahms, Brahms!” Mit diesen Worten, die er sich sagte, ging Boris die Treppe runter und in den Früstücksraum, in dem schon einige Gäste saßen und mit dem Schneiden und Kauen zugange waren. Er bestellte sich ein Spiegelei, dem er ein Glas Fruchtsaft und ein Schälchen Müsli nach Schweizer Art aus Korn, Mandeln, gewürfeltem Trockenobst und Rosinen voranschickte. Das Kännchen Bohnenkaffee wurde ihm zur gleichen Zeit mit dem Spiegelei und den zwei angebratenen Speckstücken serviert. Der Kaffee des schwächeren Aromas, verglichen mit dem Kaffeeduft in deutschen Hotels oder in Wien, Rom oder Lateinamerika tat Boris gut, weil er das Schlafdefizit der letzten Nacht deutlich spürte. Da der Frühstückstisch weit weg vom Fenster stand, war weder die Einsicht von draußen noch die Aussicht von drinnen auf den Vorplatz verlockend. Der Berufsverkehr war weit weg, als dass er beim Frühstücken störte. Auch hielten die Fensterscheiben die Verkehrsgeräusche in angenehmer Weise fern. Der sichtbare Verkehr lief in Stille ab, was Boris in die Lage versetzte, sich bei der zweiten Tasse Kaffee die Brahms-Partitur im Kopf zurechtzulegen.

Er nahm das Taxi zur Philharmonie, das für ihn vor der Rezeption des Polnischen Hofes bereits wartete. Auch diesem Taxifahrer gab er ein fürstliches Trinkgeld, als er auf dem weitläufigen Platz der Philharmonie ausstieg. Der Fahrer dankte für die Großzügigkeit mit gezogener Fahrermütze. Die Orchesterklänge, vor allem der Bläser, aus dem zweiten Klavierkonzert kamen ihm entgegen, als er den klassizistischen Bau der Philharmonie betrat, der im Krieg stark beschädigt und nach dem Krieg meisterhaft wiederhergestellt worden war. Oboen und Fagotte bliesen die Tonleitern über zwei, manchmal über drei Oktaven rauf und runter, während die Streicher ihre Quinten von Saite zu Saite stimmten und miteinander abstimmten, wobei die Kontrabässe wie Bären dazwischenkratzten, oder klangverwandter dazwischenschnarchten. Boris trat in den Konzertsaal, einen großen Saal mit doppelstöckigen Seitenrängen unter einer hohen, gewölbten Decke. Er stieg die sechs Stufen zur Bühne hoch und ging auf den Flügel zu. Der Konzertmeister, ein Geiger zwischen dreißig und vierzig kam ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich: “Willkommen in Warschau! Willkommen in unserer Philharmonie!” Bei der Begrüßung hielt er Geige und Bogen in der linken Hand. Boris traf auf ihn zum ersten Mal, denn vor zwei Jahren war der Konzertmeister ein älterer Herr, der in dem sympathischen Gesicht eine Narbe über der linken Wange hatte, die ihm noch die Nazis zugefügt hatten.

Der junge Geiger nun war ein hochgewachsener, schlanker Pole mit ovalem Gesicht, dunkelbraunen Augen und langem, zurückgekämmten schwarzen Kopfhaar. Auch die übrigen Orchestermitglieder hießen Boris willkommen, indem die Streicher mit den Bögen gegen ihre Instrumente klopften, was die Bläser und der Schlagzeuger mit den Schuhen auf dem Bühnenboden taten. Boris dankte für den herzlichen Willkommensgruß mit einer tiefen Verbeugung. Dann klappte er den Flügeldeckel hoch, setzte sich und spielte Abschnitte aus dem ersten, zweiten und dritten Satz. Viertel nach neun betrat der Dirigent, Wiktor Kulczynski, die Bühne und begrüßte Boris mit einer väterlichen Umarmung, denn der untersetzte, freundliche Herr mit der hohen Stirn und großen Nase hätte vom geschätzten Alter her gut sein Vater sein können. “Ich freue mich sehr, Boris Baródin, mit Ihnen das zweite Brahms-Konzert aufführen zu können, nachdem ich so hervorragende Kritiken über Sie gelesen habe. Ich hoffe, dass Sie in guter Verfassung sind, damit wir das Konzert zu einem großen Erfolg bringen.” Das sagte Dirigent Kulczynski im fehlerfreien Deutsch mit weichem polnischen Akzent. “Packen wir’s an!” Er stieg aufs Podium, schlug die große Orchesterpartitur auf, nahm den Taktstock in die rechte Hand und sagte: “Bitte meine Damen und Herren, fangen wir von vorne an.”

Das Orchester brachte das Eingangsmotiv im >Allegro non troppo< mit den steigenden Viertelnoten >B-C-D<, der herabgleitenden Triole >Es-D-C<, dann dem >D< als Viertelnote und dem langgezogenen >F< als Dreiviertelnote. Wieder und unwillkürlich hörte Boris den Ruf seines Vaters, den stummen Schrei des Ilja Igorowitsch. Wieder sah er vor sich den breiten Wolgastrom, wieder spürte er die Breite der Schwermut über diesem Lauf. Er setzte seinen stakkierten Triolenlauf als die lebensweckende Kraft aus dem fortdauernden, nie endenden, die Lebensspanne des Individuums überschreitenden Status nascendi in seiner grenzenlosen Hoffnungstracht entgegen, setzte das Triolen-Stakkato zum Zeichen der Seinsannahme wie einen bunten, verheißungsvollen ‘Spitzhut der Weisheit’ dem weinenden Clown (in seiner, der Kleingeisterei widerstrebenden Existenz und existenzphilosophischen Bedeutung) auf, um ihn aus der Blick- und Daseinsschwere heraus zu helfen, ihn wieder zum Lachen zu bringen, ihm mindestens ein Lächeln abzugewinnen. Nun hatte Boris plötzlich die springenden Flachsteine auf dem Wasser wieder vor Augen. Schnell wuchs die Dynamik mit den stakkierten Oktavläufen in der rechten Hand über den begleitenden Dezimen in der linken, als hätte sich ein kräftiger Arm, der Arm des Riesen ausgestreckt, der das Klanggebäude, in dem es ‘Türen und Fenster’ gibt, die geöffnet und geschlossen werden, in der Hand halt und hebt und senkt. Den Ohren stellte sich ein gewaltiges Gebäude von unerhörten Dimensionen dar, das aus immer neuen Perspektiven sich der Betrachtung öffnet.Es kam etwas ins Schwingen, das großartig war nach außen wie nach innen, bis in die feinsten ‘molekularen’ Strukturen hinein. Ein Tonwerk des Meisters, der aus den Visionen schöpft, die mit der Zeit nicht zu begrenzen oder abzuschließen sind. Intellektuell allein ist das Werk nicht zu fassen, zu viele Emotionen sind hineingeflossen. Es ist ein ‘Kraftwerk’ ständig auftauchender und versinkender Gefühle, kommender und gehender Weisen und Mahnungen mit den Verweisen der besseren Menschlichkeit, zur Erfüllung des Lebens im Leid wie im Glück, und das in immer anderen Klanggewändern des ständigen Fließens, dem Heraklit’schen ‘Panta rhei’ der nicht aufhörenden Wandlung in der Verwandlung des immer Anderen zum immer Neuen.

Wiktor Kulczynski, der Dirigent, wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, als er in der Mitte des ersten Satzes das Halt gebot und seine ersten Anmerkungen zum Gespielten gab: “Meine Damen und Herren, es war nicht schlecht, aber für einen Brahms nicht gut genug. Bedenken Sie, dass Brahms ein Meister der Liebeslieder war, sowohl im Kompositorischen wie im Vortrag. Wie bei Tschaikowsky verbirgt sich auch bei Brahms die große, überempfindliche Seele in der Musik. Nun ist es unsere Aufgabe, dieser Seele zum Durchbruch zu verhelfen. Die Brahms’sche Seele muss zum Klingen kommen. Das wird von diesem Klangkörper, also von uns erwartet, und das müssen wir schaffen. Um die Seele zum Klingen zu bringen, muss das ‘forte’ und das ‘piano’, das ‘fortissimo’ und das ‘pianissimo’ genau beachtet und das Vibrato stärker und präziser gebracht werden. Beginnen wir noch einmal von vorn!”

Wieder war es die Schwermut, die aus den ersten beiden Takten des Orchester tönte; wieder sah Boris den trägen Lauf des breiten Wolgastroms; wieder hörte er den stummen Schrei seines Vaters, Ilja Igorowitsch, der verloren am Ufer des breiten Stromes steht; wieder setzte er mit seinem Triolen-Stakkato dem weinenden Clown den ‘Spitzhut der Weisheit’ auf, und wieder waren es die geworfenen Flachsteine, die Boris über das träg dahinfließende Wasser springen sah. Es galt eben wieder, mit dem einsetzenden Spiel des Pianos die Schwermut zu durchbrechen, die Dinge in der Welt und Tonwelt leichter zu machen, der Unergründlichkeit des Leidens das Beglückende, das das Leben auch bereithält, wenn man es nur annehmen will, entgegenzusetzen. Das Gesicht des Dirigenten entspannte sich. Züge der Zufriedenheit kamen auf und seine Augen begannen zu strahlen. “Wunderbar!”, rief er ins Spiel und dankte nickend den Spielern, die es als Ansporn begriffen und den Unterschied zum ersten Mal herausspielten und heraushörten. Die große Seele kam ins Schwingen und die Klänge mit der genauen Beachtung von laut und leise und dem stärkeren und präzisen Vibrato drückten das Schwingen unsagbar schön und ergreifend aus. Das ließ sich in Worten nicht sagen, weil eine Musik gespielt wurde, die in ihrer Aussage weit über die Wortsprache hinausreicht. Die Gesichter der Spieler waren konzentriert, die Verbindung zum Werkkern, zur Seele des Werkes tonal zu halten und zu festigen. Das sah Boris beim flüchtigen Hinsehen in das Halbrund des Orchesters. Er brachte seinen Teil fehlerfrei und ausdrucksstark. Er war froh, dass er von einer Hustenattacke verschont blieb, die seinen Vortrag mit einem Schlag vernichtet hätte. Von der Stabführung war Boris ebenso angetan wie vom Spiel des Orchesters, war doch die Warschauer Philharmonie ein großartiger Klangkörper von hohem internationalen Ruf. Die Tonqualität war Spitzenqualität, das Klangvolumen und die Farbigkeit ein Erlebnis der besonderen, slawisch hochkultivierten Ausdrucksweise, einer Weise der tiefgehenden, bodenständigen Einfühlsamkeit sowie des aus diesem Boden hervorgegangenen Stolzes.

Mit dem lang anhaltenden B-Dur-Akkord war das Ende des ersten Satzes gespielt. Wiktor Kulczynski klopfte mit dem Taktstock seine Zufriedenheit auf’s Pult und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß vom Gesicht: “Ich denke, dass wir jetzt auf dem richtigen Wege sind und dem großen Brahms die nötige Ehre erweisen. Machen wir weiter und spielen das >Allegro appassionato<, aber nicht zu schnell. Es ist ein Satz von großer Aussage und hoher Würde.” Er hob den Stab. Boris setzte mit seinem Achtellauf im Vortakt an, dem er die Viertelnoten im Folgetakt wie Meißelschläge im martellato anfügte. Mit diesen ‘Hammerschlägen’ wurde der große Quartsextakkord im d-Moll‘gemeißelt’, der über drei Takte hingezogen wird, unter dem das Orchester in den vorgegebenen Dreiklang einstimmt und ihn im Legato über die nächsten sechs Takte hinzieht, während das Solo die Dreiklangsäule ‘aufbricht’ und in verschiedenen Höhen im Legato weiter moduliert. Das Abwechseln der Meißelschläge mit den Legatobindungen, das geht durch den ganzen Satz, als gälte es beim Letzteren die losgelösten ‘Steine und Bruchstücke’ als Bauelemente für neue Bögen (“Brückenbögen”) zu verwenden, sie miteinander zu ‘verleimen’, die zurückgebliebenen Brüche zufüllen und die Risse zu schließen.

Wiktor Kulczynski hatte am Vortrag bis auf einige technische Dinge, die Crescendi und Decrescendi genauer zu beachten, nichts auszusetzen. Er war vom Klaviervortrag beeindruckt und ließes Boris mit Worten wissen, dass er nur selten solch einen vollendeten Klaviervortrag gehört hätte, worauf das Orchester seine Zustimmung mit klopfenden Bögen und trampelnden Füßen dazu gab. Die Geste berührte Boris, der mit einem Lächeln dem Orchester dankend zunickte. Nun war er ins Schwitzen geraten und trocknete das Gesicht mit dem Taschentuch ab.

Der Vortrag des >Andante<, dem folgenden Satz, empfand er als den Höhepunkt bei der Probe. Boris selbst war ergriffen, weil er es sich nicht erklären konnte, dass es hier beim ersten Mal so ein enges und bis ins Detail abgestimmtes Zusammenspiel gab. Darüber freute er sich sehr und bewunderte die hohe Musikalität, die das Warschauer Philharmonische Orchester unter seinem Dirigenten Wiktor Kulczynski hervorbrachte. Der Dirigent strahlte über sein verschwitztes Gesicht, und die Orchestermitglieder gaben sich ein gegenseitiges Lächeln. Aus Freude an der Sache und mit Zustimmung aller wurde der Satz noch einmal gespielt. Es war ein makelloser Vortrag und eine ergreifende Botschaft. Hier war die Seele des Tonschöpfers ‘mit den Händen zu greifen’. Am Ende des Satzes klatschte Boris seine Bewunderung dem Dirigenten und dem Orchester zu. Hier merkte Wiktor Kulczynski an, dass mit dem >Andante< die Warschauer Philharmonie ihre tiefe Ergriffenheit vor dem gewaltigen Geist dieser Tonschöpfung zum Ausdruck bringt und dem großen Komponisten seine Unvergänglichkeit bezeugt.

Nach einer kurzen ‘Stimmungs’-Pause ging es an den letzten Satz, das>Allegretto grazioso<. Boris ging es von der Hand, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Auch das Zusammenspiel mit dem Orchester war perfekt, als hätten sie es schon viele Male zusammen gespielt. Wieder gab es die ‘Meißelschläge’ und die gebundenen Bögen, die einander abwechselten; kamen die Achtel im Martellato auf dem Klavier, wurden die Sechzehntel im Orchester zu unterschliedlich langen Bögen ausgespannt. Wurde hier ‘gemeißelt’, dann brachte das Klavier die rollenden Legatobögen. Es war Ausdruck des Lebens in seiner Vitalität und Farbigkeit. Die eingeschobenen lyrisch-verhaltenen und heiter-offenen Passagen weiteten den Raum für die nachdenklich-erinnernden Reflexionen und verliehen dem >Allegretto< zugleich den Charme einer liebenswürdigen Leichtigkeit. Es sprühte, als würde ein Feuerwerk entzündet; es blühte, als stünde ein neuer Frühling ins Haus. Von Hoffnung wurde allemal ‘gesprochen’. Ihr wurde im Schlussteil, im >un poco più presto< Taktmeter, die Zuversicht dazugegeben. Nun rollten aus der rechten Hand die martellierten Triolen über die gestreckten, arpeggierten Oktav- und Dezimakkorde aus der linken Hand, bis das verbindende Legato (des Friedens) kam, das in weiten Bögen schließlich über mehrere Oktaven zog. Da wurden Hoffnung und Zuversicht ‘festgetönt’. Sie wurden im Schlussakkord des B-Dur mit der Fermate verankert, festgemacht, als wäre der Himmel im Einklang mit der Erde, wären die Sterne greifbar, wäre der Himmel eng mit dem Planeten Erde verbunden.

Wiktor Kulczynski ordnete eine Pause von dreißig Minuten an, die er dazu nutzte, ein Gespräch mit Boris zu führen. Die Mitglieder des Orchesters verließen die Bühne, um sich im Foyer eine Zigarette anzustecken und im kleinen Getränkeladen außerhalb der Philharmonie eine Tasse Kaffee oder ein Erfrischungsgetränk anderer Art zu beschaffen. Kulczynski: “Herr Baródin, ich möchte Ihnen mein Kompliment machen; ihr Spiel hat mit sehr gut gefallen. Das >Andante< habe ich noch nie so schön spielen gehört wie von ihnen. Da haben Sie den ganz hohen Standard nicht nur erreicht, Sie haben ihn mit ihrem Spiel übertroffen. Darf ich fragen, wann Sie zuletzt das Brahms’sche Konzert gespielt haben?” Boris: “Es war vor einem dreiviertel Jahr, als ich es in der Carnegie Hall in New York unter Bernstein gespielt habe. Dann habe ich es im Leipziger Gewandhaus unter Sir Solti gebracht.” Kulczinski: “Ich gehe davon aus, dass auch diese beiden großen Dirigenten von ihrem Vortrag begeistert waren.” Boris: “Bernstein schlug mir mit einem breiten Lachen und der Bemerkung auf die Schulter: “Boris, das war große Klasse”. Sir Solti machte es auf seine feine Art; er lächelte mir zu, gab mir die Hand und sagte: “Brahms würde sich freuen, von einem Pianisten so gut verstanden worden zu sein. Ich gratuliere Ihnen zu ihrem Spiel.” Kulczynski: “Den beiden kann ich mich nur anschließen, denn ihr Vortrag hatte Weltklasse. Sie wissen, dass Brahms für uns Polen nicht so leicht zu spielen ist wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil er ganz deutsch im Beethoven’schen Sinne geschrieben hat. Aber Sie haben uns mit ihrem Spiel ganz eingenommen, haben uns mitgerissen, haben uns den großen Brahms auf ihre Weise lieben gelehrt. Das ist ein Verdienst, das Ihnen zukommt, wofür ich, auch im Namen der Philharmonie, Ihnen meinen Dank ausspreche.” Boris: “Nun übertreiben Sie aber, Maestro Kulczynski. Denn selten habe ich ein so inniges Zusammenspiel mit einem Orchester erlebt wie mit der Polnischen Philharmonie.” Kulczynski: “Sehr freundlich von Ihnen. Doch, das darf ich sagen, wir haben uns auf ihr Kommen gefreut und uns auch gründlich vorbereitet.” Boris: “Das habe ich mit großer Freude vernommen und gespürt.”

Kulczynski: “Lieber Baródin, im Saal sitzt meine Schwester. Sie war neugierig, ihr Spiel zu verfolgen und würde sich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Würden Sie das tun und mir die Ehre geben, Sie meiner Schwester vorzustellen?” Boris: “Das tu ich gern. Es ist mir eine Ehre.” Er drehte sich dem Saal zu und sah in der fünften Reihe eine alte Dame in dunkler Bekleidung mit schneeweißem Haar. Sie gingen die sechs Stufen herab und auf die fünfte Reihe zu. “Lydia”, sagte Wiktor Kulczynski, als sie die fünfte Sitzreihe erreichten, “darf ich dir Herrn Baródin vorstellen? Das ist meine Schwester Lydia Grosz.” Boris verbeugte sich vor der Dame, als sie ihm ihre schmale Hand entgegenhielt und sie sich die Hände gaben. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen”, sprach sie in fehlerfreiem Hochdeutsch, “ich habe viel von Ihnen gehört und in den Kritiken über Sie gelesen.” Boris: “Hoffentlich waren Sie dann nicht enttäuscht.” “Nein, ganz im Gegenteil, Sie sind ein großartiger Pianist, davon konnte ich mich heute morgen selbst überzeugen. Selten habe ich das Brahms-Konzert so eindrucksvoll erlebt wie bei ihrem Spiel. Ich habe das Konzert noch von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Denen stehen Sie nicht nach. Das ist bei ihren jungen Jahren eine Leistung, die Anerkennung verdient!”. Wiktor Kulczynski strahlte bei dem Kompliment seiner Schwester, auf deren Urteil er offensichtlich großen Wert legt, Boris an: “Nun hören Sie es von meiner Schwester, die sehr kritisch ist und in ihren jüngeren Jahren eine hervorragende Pianistin war.” Boris sah der Dame hilflos in die Augen, denn ihm fiel eine bessere Antwort nicht ein: “Vielen Dank! Das ist sehr freundlich von Ihnen.” Lydia Grosz: “Herr Baródin, ich würde Sie gern zum Tee in meinem Haus einladen. Wäre es Ihnen möglich, zwischen fünf und sechs bei mir zu sein? Dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ich habe erfahren, dass Sie im Polnischen Hof sind. Ich wohne in der Pesulski Straße 17. Diese Straße führt direkt zu ihrem Hotel hin. Wenn Sie aus dem Hotel kommen, sind es etwas vierhundert Meter.” Boris hatte eigentlich vorgehabt, sich mit Vera zu treffen, wusste aber nicht, ob sie am Abend frei hatte: “Es wäre mir eine große Ehre, Sie in ihrem Hause besuchen zu dürfen.” Lydia Grosz: “Dann sehen wir uns zwischen fünf und sechs.”

Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe fortzusetzen. Auf dem Programm stand Tschaikowskys Fünfte in e-Moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich aufs Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem schwarzen, zurückgekämmten Haar strich den Bogen auf der A-Saite rauf und runter. Er hatte den Saitenton zuvor mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten der Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von größter Wichtigkeit.” Er hob den Stab und senkte ihn. Die Klarinetten bliesen das Thema des >Andante<: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-Es-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat wieder der breite Wolgastrom vor seine Augen. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen heraus, so auch seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des >Andante< dieser Symphonie. Im Vergleich dazu drückte der Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weniger schwer, auch wenn Boris da schon das Gefühl der Schwermut überkam. In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von größter Schwere. Diese Melancholie der Ausweglosigkeit konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG”) befallen haben, sie konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der einsetzenden Tagesdämmerung zur Arbeit ausrückten, und mit dem letzten Tageslicht zurückkehrten, oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks hinein durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab oder der Erschießungsmauer geführt wurden. Das Thema des >Andante< fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.

Ergriffen und erschüttert saß Boris neben Frau Lydia Grosz, der alten, dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweißen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte ihn aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder fuhr, nicht bemerkte. Nach diesem ergreifenden >Andante< legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des >Andante< noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut waren. Er dachte jedoch, dass eine Steigerung im Vortrag des >Andante< mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen. So raffte er sich zusammen, verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pesulski Straße 17.” Boris verließ den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendete und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt außerhalb der Musik vertraut zu machen. Er ging zum nächsten Taxistand und ließ sich zum Hotel Polnischer Hof zurückfahren. Er sah aus dem Fenster und spürte, wie das >Andante< aus der Fünften in ihm hinterher klang, die Melancholie in ihm nachwirkte. Die Außenwelt mit ihren Autos, den Radfahrern und eilenden Passanten kam ihm fremd und leer vor. Das Amusische dieser Welt stieß ihn ab. Das Taxi hielt vor dem Hotel an, er stieg aus, zahlte, was zu zahlen war, und gab auch diesem Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Der dankte und reichte Boris seine Notentasche durchs offene Fenster nach: “Die sollten Sie nicht vergessen.” Boris dankte für die Aufmerksamkeit. So tief wirkte die Probe in ihm nach, dass er das Lächeln, das ihm Vera von der Rezeption an den Eingang schickte, als er durch die Türe trat, garnicht bemerkte. “Wie war es?”, fragte sie, als er sich der Rezeption näherte. “Es hat geklappt”, antwortete Boris in knappen Worten. Von der Wirkung, die das >Andante< aus Tschaikowskys Fünfter in ihm auslöste und noch so stark in ihm ‘wühlte’ sowie von den Bildassoziationen der breiten, träg dahinfließenden Wolga, an deren Ufer sein Vater, Ilja Igorowitsch, stand und nach ihm rief, sagte er nichts. Vera entging das angespannte Gesicht des jungen, von ihr verehrten Pianisten nicht, dem sie im Geheimen schon ihre Liebe gab. “Nun sollten Sie sich ausruhen und pünktlich am Mittagstisch sein. Als Spezialität gibt es heute Eisbein mit Sauerkraut und Dampfkartoffeln”, sagte sie. Verabehielt ihr freundliches Lächeln auf dem Gesicht und bemühte sich, Boris zu entspannen.

Da kein anderer Gast an der Rezeption stand und auch keiner auf die Rezeption zukam, sagte Vera, dass sie sich für den Nachmittag freigenommen hätte: “Da können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen und irgendwo eine Tasse Kaffee zusammen trinken.” Boris schaute sie mit großen Augen an, denn er kam langsam aus der Welt der Philharmonie in die Außenwelt zurück: “Das ist eine gute Idee, Fräulein Vera. Von wann ab haben Sie sich denn freigenommen? Ich frage deshalb, weil mich Frau Lydia Grosz, die Schwester des Dirigenten, zum Nachmittagstee zwischen fünf und sechs in ihr Haus in der Pesulski Straße eingeladen hat.” Vera: “Dann verkehren Sie bereits in der großen Gesellschaft, denn diese Dame ist durch ihre Leitartikel in verschiedenen Zeitungen gefürchtet und durch ihre Wohltätigkeit für die Waisenkinder in Warschau bekannt und geachtet. Um ihre Frage zu beantworten, ich habe mir ab zwei freigenommen.” Boris: “Dann haben wir einige Stunden Zeit für einen Stadtbummel, den ich gern mit Ihnen unternehmen würde.” Vera: “Nur wenn es Sie nicht überfordert, Boris Baródin, denn Sie müssen sich für das Konzert schonen. Da will ich Sie nicht strapazieren.” Boris: “Das tun Sie ganz und gar nicht. Ein Rundgang durch die Stadt mit Ihnen, daran hatte ich letzte Nacht schon gedacht.” Vera: “Gut, dann treffen wir uns halbdrei draußen vor dem Eingang. Nun vergessen Sie das Mittagessen nicht.”

Er hatte sich frisch gemacht und traf halb drei Vera, die etwas abseits vom Hoteleingang auf ihn wartete. Sie hatte sich ein olivgrünes Kleid angezogen, das über den Knien endete und die taillenbetonte Schlankheit mit den Wölbungen ihrer Brüste auf das Vorteilhafteste betonte. Sie war etwa einen halben Kopf kürzer als Boris. Sie erwartete ihn mit dem Lächeln der Zuneigung, als Boris auf sie zuging. “Ich freue mich sehr, dass wir uns sehen und einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen.” Boris: “Das freut mich auch, dass wir das zusammen tun.” Vera: “Gehen wir geradeüber den Platz, dann sind wir am ehesten in der Innenstadt, wo es schöne kleine Straßencafés gibt.” Boris: “Sie geben die Richtung an, Vera, und ich folge Ihnen.” Vera lachte: “Wir gehen aber schon nebeneinander und nicht hintereinander, damit die Leute sich keine falschen Illusionen machen.” Boris: “Abgemacht, anders hatte ich es auch nicht vor mit Ihnen.” Sie gingen einige Straßen und Nebenstraßen, wobei Vera einige Altbauten erklärte, die eine Geschichte hatten, von denen viele nach dem Kriege restauriert wurden. “War Warschau sehr zerstört?”, fragte er. Vera: “Die Innenstadt war fast völlig von den Deutschen zerbombt worden. Was dann noch stand, wurde von Panzergranaten zerschossen.” Boris: “Davon kann man heute kaum etwas sehen.” Vera: “Mit dem Wiederaufbau der Stadt wurde fünfundvierzig begonnen. Wie mir mein Vater sagte, dauerte es mehr als zehn Jahre, bis der Stadtkern wieder so war, wie er vor der Zerbombung ausgesehen hatte.” Boris: “Da stehen ja wunderbare alte Häuser. Denen sieht man nicht an, dass sie zerbombt oder zerschossen worden waren.” Vera: “Da haben die polnischen Baumeister und Handwerker ihren ganzen Stolz darangesetzt, dass Warschau wieder die Perle an der Weichsel wurde.” Boris: “Sie haben eine großartige Arbeit geleistet.” Von einer kleinen Nebenstraße mit den vielen kleinen Geschäften kamen sie auf die “Straße des Widerstands”, eine breite Allee mit alten Bäumen zu beiden Seiten, hinter denen sich Banken, Ministerien und städtische Verwaltungsgebäude entlangstreckten. Sie hatten die Innenstadt erreicht und gingen Richtung Altes Rathaus, einem restaurierten, historischen Altbau des polnischen Barock. Vom Rathausplatz, von dem einige Straßen und enge Gassen wegführten, gingen sie in eine der Gassen, in der ein dichter Passantenverkehr herrschte. Sie gingen auf das erste Straßencafé zu, das bereits gut besucht war. Vera: “Was halten Sie davon, wenn wir hier die Tasse Kaffee trinken?” Boris: “Einverstanden. Es ist ein hübsches kleines Café mit Altstadtatmosphäre.”

So setzten sie sich an den letzten kleinen Rundtisch, der gerade abgeräumt wurde. Ein weiß beschürztes, schlankes Mädchen mit blondem Haar und braunen Augen, die nicht älter als zwanzig sein konnte, kam an den Tisch und nahm die Bestellung entgegen, die Vera ihr in der Landessprache gab. Die Gäste, die zum Kaffee auch Tortenstücke, Apfel- und Pflaumenkuchen verzehrten, waren heitereaufgeschlossene Menschen, die den Rundtischgesprächen zugetan waren und dabei auch lachten. Boris war der polnischen Sprache nicht mächtig, wenn er auch wenige Worte zu verstehen glaubte. Was er heraushörte, wenn er Vera in ihr schönes, ovales Gesicht mit den dunkelbraunen Augen schaute und ihr blendend weißes Gebiss bewunderte, wenn sie sprach und dabei lächelte, waren die anderen Sprachen wie Russisch und Deutsch mit Wiener Akzent, die an den Nebentischen gesprochen wurden. Die Serviererin kam mit zwei Kännchen Kaffee und zwei Tassen zurück, die sie geschickt auf der kleinen runden Tischplatte absetzte. Sie sagte in polnisch, was Vera übersetzte: “Es gibt frischen Pflaumenkuchen und Streuselkuchen nach ostpreußischer Art. Wollen wir uns nicht auch einen Kuchen zum Kaffee gönnen?” “Aber sicher, darauf habe ich Appetit”, bejahte Boris die Frage, und Vera gab die Bestellung der Serviererin in polnisch weiter. Sie gossen sich den Kaffee ein, rührten Milch und Zucker ein, als die Serviererin mit der neuen Bestellung den Tisch verließ und nach wenigen Minuten den Kuchen brachte. Dem Kaffee entströmte ein anregendes Aroma, das die Unterhaltung zusätzlich anregte. Boris: “Fräulein Vera, Sie hatten eine großartige Idee mit dem Stadtbummel.” Vera: “Nennen Sie mich einfach Vera. Ich nenne Sie doch Boris Baródin, ohne den Herrn davorzusetzen.” Boris: “Danke Vera. So lerne ich in den paar Tagen einiges kennen, was Warschau in der Innenstadt, in seinem Herzen für die Menschen bereithält.” Vera: “Ich hoffe, dass es Ihnen gefällt.” Boris: “Es gefällt mir sehr und besonders gefällt mir, dass ich das Herz Warschaus mit Ihnen erleben kann.” Vera: “Nun erzählen Sie mir etwas mehr von der Probe heute morgen.” Boris hatte sich gerade die Gabel mit Pflaumenkuchen in den Mund getan, so dass Vera einen Schluck Kaffee zu sich nahm. Boris: “Vera, ich muss sagen, dass die Warschauer Philharmonie ein Klangkörper von Weltspitze ist. Die bringt einen Klang hervor, der mich tief beeindruckt hat und mit der Dresdner Staatskapelle oder dem Leipziger Gewandhausorchester vergleichbar ist. Sie ist ein großartiges Ensemble unter dem großartigen Dirigenten Wiktor Kulczynski. So kam auch das Brahms’sche Klavierkonzert gut heraus.” Vera: “Das freut mich sehr. Ich kann mich nicht erinnern, wann dieses Konzert zum letzten Mal gegeben wurde.” Boris: “Stellen Sie sich vor, Vera, am Schluss des Konzerts hielt der Dirigent ein Gespräch mit mir, in dem er sagte, dass er von meinem Vortrag begeistert war und er Brahms durch meine Spielweise lieben gelernt hätte. Ist das nicht ein Kompliment?”

Vera: “Das ist das größte Kompliment, das zu vergeben ist, wenn er von der Liebe zum Schöpfer des Musikwerkes spricht.” Boris: “Das finde ich auch, und Wiktor Kulczynski hat sich für das Wiederfinden der Liebe zu Brahms sehr herzlich bedankt.” Vera: “Das ist doch großartig. Sie müssen das Konzert aber auch großartig gespielt haben.” Boris: “Ich muss schon sagen, Brahms zu spielen ist kein Kinderspiel. So habe ich mir alle Mühe gegeben, um seine Botschaft herüberzubringen.” Vera: “Und Sie haben sie vortrefflich herübergebracht, sonst hätten Sie so ein Kompliment nicht bekommen.” Boris: “Das kann möglich sein.” Vera: “Wenn ich es richtig verstehe, muss es so gewesen sein.” Boris: “Aber auch das Orchester hat sich ins Zeug gelegt und das Letzte aus sich herausgeholt. Denn anders kann eine Brahms’sche Botschaft nicht gebracht werden. Was Wiktor Kulczynski noch sagte, war, dass Brahms für die Polen nicht so leicht zu spielen sei wie Mozart, Tschaikowsky oder Mendelssohn Bartholdy, weil Brahms ganz deutsch, vielleicht meinte er streng im Beethoven’schen Sinne geschrieben hat.” Vera: “Das ist nun zu hoch für mich. Soweit bin ich in der Musik nicht bewandert. Was war damit gemeint?” Boris: “Die intellektuelle Schreibweise in der Musik, die schärfer wird, je weiter es in den Westen Europas geht. Für das slawische Gemüt hat die Emotion den höheren Stellenwert gegenüber dem Intellekt. Dabei unterstelle ich dem Intellekt die Logik der Mathematik, die es überall, so auch beim Schreiben der Musik gibt. Den Unterschied habe ich bei der Probe heute morgen wieder erlebt. Die Schwermut, die im Beginn des Brahms-Konzertes herauszuhören war, war für mich so deutlich, dass mir Bilder vom breiten, träg dahinfließenden Wolgastrom in den Sinn kamen. Dabei kam diese Schwermut jedoch nicht an die noch größere Schwere einer Depression im Beginn der Fünften von Tschaikowsky, dem >Andante<, heran.

Die Emotion der Schwermut, wie sie vom russischen Genius zum Ausdruck kommt und slawisch empfunden wird, ist doch um ein vielfaches stärker. Sie ist so stark, dass ich zitterte, weil mir mit der Eingangsmelodie im >Andante< die trostlos-fürchterlichen Bilder der ausgehungerten Häftlinge in den KZs der Nazis oder den Stalin’schen Arbeitslagern vors innere Auge traten und ich sie im Geiste diese Melodie summen hörte, wenn sie im frühen Morgengrauen zur Arbeit ausrücktenoder in der späten Abenddämmerung zurückkehrten. In der Vorstellung der verdichteten hoffnungslosen Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen hat es mich geschüttelt.” Vera: “Da hat Sie Tschaikowsky aber tief getroffen.” Boris: “Das hat er, und jedesmal, wenn ich den Beginn des >Andante< höre, erfasst mich das Zittern von neuem.” Vera: “Aber Boris Baródin, Sie sind zu jung, um von diesen Grausamkeiten zu wissen. Ihr Wissen davon können Sie doch nur von den Erzählungen bekommen haben.” Boris: “Das stimmt. Aber schon die Erzählungen, die ich von meinem Vater, dem Sowjetgeneral Ilja Igorowitsch Tscherebilski, und meinem Großvater, dem einstigen Breslauer Superintendenten Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, bekommen habe, haben sich schwer auf meine Seele gelegt. Diese Erzählungen, wie grausam da mit den Menschen umgegangen wurde, haben sich tief in mein Gedächtnis eingemeißelt. Sie sind für mich furchtbar und unvergesslich. Glauben Sie mir, Vera, die Musik, die ich spiele, ist in erster Linie und jedesmal den Menschen gewidmet, die von dem unmenschlichen Terror ergriffen, getötet und zu Krüppeln geschlagen worden sind.” Vera: “Nun verstehe ich Sie besser. Ich verstehe, warum die Musik für Sie so wichtig ist. Sie ist das Medium, um den Menschen nicht nur in die Köpfe, sondern in ihre Herzen zu reden und den Kontakt zum Menschen zu halten, auch dann, wenn er getötet wurde.” Boris: “So können Sie es sehen. Da blicken Sie in die richtige Richtung. Die Botschaft, die ich zu bringen habe, begnügt sich nicht mit der rationalen Oberfläche, sie lässt sich von ihr nicht aufhalten. Die Musik zielt in die Tiefe. In die Tiefe der Herzen soll die Botschaft gehen. Wie sonst sollen sich die Menschen bessern, so lange sie noch ansprechbar und wachzurütteln sind, das Gute zu tun und das Böse zu lassen?!”

Vera: “Ich verstehe, Boris Baródin, Sie sind ein Missionar, der die Menschen durch ihre Musik zur Umkehr bewegen will.” Boris: “Das Problem ist die fehlende Kommunikation unter den Menschen. Dazu kommt der kalte Materialismus, bei dem nur das Geld zählt. Die Jugend in Deutschland fühlt sich von der älteren Generation unverstanden. Die ältere Generation wiederum klagt, dass die Jugend nicht mehr auf sie hört. Die Folgen sind der Leistungsabfall in den Schulen und der Motivationsverlust, dass nur durch Lernen und Arbeit ein gutes Resultat erzielt werden kann.Dem geht einher, dass schon an den Schulen die Drogenszene ein Problem geworden ist. Die Maßstäbe der guten Erziehung sind gebrochen, beziehungsweise abgebrochen und verstümmelt. Die guten Sitten der Achtung und des Helfenwollens sind verlorengegangen. In der Gesellschaft sind Ordnung, Respekt vor dem Menschen und der Wille zur Nächstenhilfe verkümmert. Das ‘Laissez-faire’ der Gleichgültigkeit und das Drogenproblem haben überhand genommen. Ist das in Polen auch so?” Vera: “Es hat auch hier begonnen. Auch hier ist der Materialismus in die Köpfe gestiegen. Auch hier ist es zu spüren, wie sich die Jugend von der älteren Generation absetzt und ihre eigenen Wege geht. Auch hier gerät die Gesellschaft aus den Fugen der Moral und der guten Sitten. Die jungen Menschen beklagen, von den Alten nicht verstanden zu werden, und die alten Menschen halten der Jugend die Respektlosigkeit und Unwilligkeit zum Lernen vor. Boris, hier ist nicht alles gut, was für den ersten Augenblick glänzt. Für mich als junge Frau kommen dann noch die Frechheiten hinzu, die sich Männer den Frauen gegenüber herausnehmen. Das hat es früher, in den ersten Jahren nach dem Kriege nicht gegeben, als alle Hand in Hand gearbeitet haben, das verwüstete Polen wieder aufzubauen, aus den Ruinen wieder ansehnliche Städte zu machen. Da gab es den Respekt vor dem anderen Menschen.Viel galt das Wort der Alten viel, und die Jugend hörte auf sie und befolgte ihren Rat. Das hat sich mit dem aufkommenden Wohlstand geändert. Nun meint jeder, er könne es besser als der andere, der Jüngere besser als der Alte.” Boris: “Dann gibt es auch hier das Drogenproblem.” Vera: “Das gibt es in der Tat. Das Rauschgift kommt aus Kasachstan und Turkmenistan und nimmt den weiten Weg mit der transsibirischen Eisenbahn bis nach Moskau oder die Krim, von wo es per Schiff oder Laster nach Polen kommt.”

Boris: “Den Menschen in Deutschland ist mit dem Wohlstand das Lachen vergangen. Auf den Straßen gehen sie grußlos aneinander vorüber. Sie sind hektisch geworden, kümmern sich nicht um den andern, der durchs Betteln sein Leben fristet. Auch in Deutschland gibt es die Straßenkinder, die irgendwo übernachten und sich zu Taschen- und Kaufhausdieben spezialisiert haben. Da frisst der Kapitalismus seine eigenen Kinder.” Vera: “Die Straßenkinder gibt es auch in Warschau, die unter den Brücken mit den Trinkern und in leerstehenden Altbauten übernachten, die vor dem Abbruch stehen, um neuen Verwaltungsgebäuden und Mietshäusern Platz zu machen. Es gibt staatliche Einrichtungen, um diesen Menschen zu helfen. Vor allem ist es die Kirche, die sich der Obdachlosen und Waisenkinder angenommen hat, ihnen eine warme Mahlzeit pro Tag und eine Schlafstelle gibt. Doch reichen diese Einrichtungen bei weitem nicht aus.”

Boris: “Dann frisst der Sozialismus in Polen auch seine Kinder.” Vera: “Und das im gesamten Ostblock. Können Sie sich vorstellen, wie das erst in der Sowjetunion ist, ich meine in Moskau, Leningrad, der ukrainischen oder weißrussischen Republik? Die Menschen dort sind noch ärmer als die Menschen hier in Polen. Dort im Osten hat der Staat den Kirchen das Schweigen verordnet. Da schweigen die Kirchen zu diesem Problem, gibt es keine Predigt wie hier in Warschau, die zur tätigen Nächstenliebe aufruft.” Boris: “Vera, mit der Kirche sprechen Sie ein heißes Eisen an. Mein Großvater, Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, war bis zur Flucht aus Schlesien Superintendent in Breslau. Er hat in erschütternder Weise erzählt, wie trotz seiner Predigten mit der Botschaft zur tätigen Nächstenliebedie Juden, Sozialisten und andere Systemkritiker von den Nazis aus ihren Häusern und Wohnungen gezerrt, verprügelt und abtransportiert wurden. Er erzählte, wie zweimal in der Woche Güterzüge mit Juden und ihren Familien durch Breslau zu den Vernichtungslagernin Treblinka und Auschwitz-Birkenau fuhren.Mein Großvater hatte Tränen in den Augen, als er vom Versagen der Kirche, dem sträflichen Opportunismus der Bischöfe und der allgemeinen Ignoranz mit dem Wegsehen der Menschen sprach.” Vera: “Ihr Großvater muss Qualen und Torturen durchlitten haben.” Boris: “Das hat er im wahrsten Sinne des Wortes. Aufgrund seiner Predigten, dass jeder Mensch von Gott geliebt wird und das Recht auf ein Leben in Würde hat, wurde er einige Male verwarnt und einmal von der Gestapo zum Verhör vorgeladen, das über fünf Stunden gedauert haben soll. Dass er nicht im KZ landete und das Schicksal mit denen teilte, für die er furchtlos gepredigt und gebetet hatte, war ein Wunder, für das meine Mutter keine Erklärung hatte. Großvater nannte in diesem Zusammenhang einen Herrn Rauschenbach, diesen Namen werde ich nie vergessen, der in der Nacht nach dem Verhör Großvater anrief und ihn um einen Nachttreff ersuchte. Großvater nannte Herrn Rauschenbach den Doppelagenten, der auch den Vorsitz beim Verhör geführtund nach dem Nachttreff ihm und der Familie das Leben gerettet hatte. Wie er das getan hatte, das weiß ich nicht. Jedenfalls hat dieser Mann etwas für den mutigen Prediger getan, wozu sich der Bischof von Breslau verweigert hatte, mit der Begründung, dass er kurz vor der Pension stehe und in seinen letzten Berufstagen nicht von der Gestapo noch gestört werden wolle. Das ist doch ein erschütterndes Zeugnis, was die Kirche in der Zeit der größten Not von sich gab.

Diese Erzählungen sind es, dass ich meinen Großvater als einen wahren deutschen Patrioten verehre, der selbstlos und Zeit seines Lebens für die Armen, Gefolterten und Deportierten eingetreten war.” Vera: “Es war ein mutiger Mann, ihr Großvater. Dieser Mut ehrt ihn weit über den Tod hinaus. Solche Menschen waren aber im Nazi-Deutschland die Ausnahme. So jedenfalls sagte es mir mein Vater. Mein Großvater kämpfte im polnischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Er war Lehrer an einer Grundschule und ist im Kampf um Warschau gefallen.” Boris: “Die Geschichte Polens von den drei Teilungen an, dann unter Hitler und Stalin ist eine Geschichte der großen Tragik. Über den Freiheitskampf der Warschauer Ghettoinsassen habe ich gelesen und einige Filme gesehen. Es ist für mich unfassbar, die Demütigung bis zu den Selbstmorden und dem Hungertod, die Fluchtversuche durch die Abwasserkanäle und Schleusen, wo die ‘SS’ an den Ausgängen stand und die Flüchtenden, wenn sie erschöpft herauskamen, auf der Stelle erschossen.”

Vera: “Viel hat mir mein Vater darüber nicht erzählt. Er sagte, dass er diese Grausamkeit seinem Kind nicht erzählen wolle. Später habe ich natürlich darüber gelesen und Dokumentarfilme, wie zum Beispiel “Der Kanal”, gesehen. Es hat mit so erschüttert, dass ich tagelang geweint habe und von schlimmen Träumen befallen wurde.” Boris: “Nun verstehen Sie, welche Bedeutung die Musik für die Versöhnung und Aussöhnung unserer beiden Völker und für den Frieden der Menschen hat.” Vera: “Das habe ich verstanden, als Sie im Hotel gestern Nacht mir die ‘Préludes’ von Frédéric Chopin und einiges aus dem Brahms-Konzert vorspielten. Das hat mich zutiefst ergriffen, denn da haben Sie für mein Herz und in mein Herz gespielt.” Boris: “Vera, Sie sind sehr freundlich,vielen Dank!” Vera: “Es war so. Anders kann ich es nicht sagen.” Boris: “Nun sehen Sie meine Aufgabe: ich will und muss zur Versöhnung der Völker meinen Beitrag leisten; mit der Warschauer Philharmonie, diesem großartigen Orchester, will ich das zweite Klavierkonzert von Brahms gemeinsam vortragen. Sie wissen, dass Brahms viele Liebeslieder und die Musik zum Nachtlied: “Guten Abend, gute Nacht, von Englein bewacht…” geschrieben hat.” Vera: “Dieses Lied kennt jedes polnische Kind. Oft hat es meine Mutter uns Kindern am Bett gesungen. Wir wollten das Lied immer wieder hören. Bis sie sagte, jetzt ist es genug, jetzt wird geschlafen.” Boris: “Mir hat es mein Vater, Ilja Igorowitsch, der Stadtkommandant von Bautzen, in russisch vorgesungen und sich dabei auf dem Flügel selbst begleitet. Er war sehr musikalisch und ein ausgezeichneter Pianist. So spielte er über das Brahms’sche Thema eigene Variationen und machte sogar eine Fuge daraus.”

Das Gespräch war doch konzentriert dafür, dass Boris und Vera das erste Mal zusammen Kaffee tranken. Es hatte aufgeregt, was das Leben der Menschen der beiden Völker betraf. Beide hatten ihre Kindheitserlebnisse, ihr Wissen über das Geschehen im Weltkrieg aus den Erzählungen ihrer Eltern und ihre persönlichen Erfahrungen bis in die Gegenwart ausgetauscht. Beide wollten nun in der Gegenwart bleiben und in die Zukunft blicken. Sie bestellten sich das zweite Kännchen Kaffee und setzten die Unterhaltung mit dem Wunsch fort, mehr darüber zu erfahren, was der eine vom anderen denkt, ob es das Gefühl des Besonderen mit dem Drang der Offenbarung des ganz Persönlichen als die entscheidende Herzenssache, und ob es die einmalige Stimmung der Übereinstimmung gibt, die beide motiviert, das Gespräch fortzusetzen. Die junge, blonde Serviererin brachte die zweiten Kännchen Kaffee und stellte sie so geschickt auf die kleine runde Tischplatte, wie sie zuvor die leeren Kuchenteller mit den Kuchengabeln und die leer getrunkenen Kaffeekännchen vom Tisch abgeräumt hatte. Boris: “Nun müssen wir aber das Thema wechseln, wenn wir nicht auch noch traurig und schwermütig werden wollen, was doch nicht der Zweck des gemeinsamen Stadtbummels ist.” Vera: “Da stimme ich Ihnen zu. Von der Vergangenheit wurde genug geredet, und ändern können wir die traurigen Dinge nicht. Kommen wir auf den Tag zu sprechen und versuchen einen Blick in die Zukunft zu werfen.” Boris: “Mit dem Blick in die Zukunft, das ist allemal ein Wagnis, weil da Dinge geschehen, die nicht vorauszusehen und deren Folgen nicht abzusehen sind.” Vera: “Das Leben ist für den Menschen nie berechenbar, der Tag hat immer eine Überraschung parat; immer steckt das Risiko des Nichtgedachten und Unvorhergesehenen im Leben drin.” Boris: “Das ist es, was das Leben interessant und einmalig macht. Man braucht allerdings Mut zum Leben.” Vera: “Das stimmt. Das Leben kann beglückend sein. Doch der Weg zum Glück ist von Gefahren gesäumt, die zu passieren sind, wenn das Ziel erreicht werden soll.” Boris: “Dazu braucht es den Mut, wenn der Mensch vorhat, den Weg der erhofften Erfüllung zu gehen und vor den tausend Eventualitäten des Wegrutschens vom Wege nicht zurückschreckt.” Vera: “Nehmen wir “den Weg” beim Wort: Boris Baródin, Sie sagten am Ende des Telefonats, als ich Sie heute morgen anrief, um sicher zu sein, dass Sie pünktlich geweckt wurden, dass da noch Freiraum sei, was die Erfüllung ihres Glücks betrifft. Dieser Freiraum, weil er eben noch unbesetzt ist, ist für das Nachdenken offen, das in viele Richtungen gehen kann. Wie ist das mit dem Freiraum zu verstehen?” Boris: “So kompliziert kann es nicht sein. Nehmen Sie den Weg in Richtung Erfüllung, an dessen Ende nicht mehr als ein leerer Raum ist, dann wissen Sie doch, wenn Sie Weg, Richtung und Ziel zusammen nehmen, was gemeint war.” Vera: “Nun verstehe ich Sie. Ich wollte ein Missverständnis meinerseits vermeiden. Das Ziel ist also das Glück mit dem Glücklichsein, wo mit ihren Worten der Raum noch leer ist.”

Boris: “So ist es, Vera. Die Musik ist meine Liebe. Doch ich spüre, dass zum Glücklichsein ein Mensch gehört, der mit mir die Liebe zur Musik teilt. Mit so einem Menschen könnte ich glücklich sein.” Vera: “Doch die Entscheidung steht noch aus, ob Sie diesen Menschen auch lieben, wenn ihre Liebe der Musik gilt. Ich hoffe, Sie verstehen mich richtig: zum Glücklichsein muss das mit der Liebe auch stimmen, denn ohne geliebt zu werden, gibt es kein Glück.” Boris: “Da stimme ich Ihnen zu. Aber sehen Sie die Liebe nicht zu eng. Liebe ist umfassend, sie ist ein Phänomen, das mit Worten weder zu beschreiben noch zu erklären ist. Sie erfüllt, überwältigt jeden Tag aufs Neue, sie ist immer neu und unerschöpflich.” Vera: “Das verstehe ich auch so. Ich meinte mit meinem Einwand, dass Liebe unteilbar ist. Sie lässt sich nicht zwischen einem Menschen und der Musik teilen.” Boris: “Das soll sie auch nicht. Liebe umfasst den Menschen, nimmt ihn ein, umgibt und trägt ihn mit Musik, so wie die Musik nach dem Menschen verlangt und ihn liebt. Denn was sonst will Musik? Sie will den Menschen durchtönen, will ihm helfen, ihn heilen von den Leiden und Undingen der Zeit.” Vera: “Trotzdem muss es doch eine Priorität beim Spender geben, wem er die Liebe in erster und wem er sie in zweiter Linie zukommen lässt. Sicher ist Liebe etwas sehr Komplexes. Aber die Richtung muss zu erkennen sein, wem sie in erster Linie gilt.” Boris: “Ich verstehe, was Sie mit der Richtung sagen. Aber ist die Liebe nicht ein so großes, urgewaltiges Phänomen, dass sie uns alle mitsamt unserer Arbeit, unseren Gedanken und Träumen erfasst, befördert, weiter entwickeln lässt? Natürlich ist die Sprache eine unterschiedliche. In der Musik ist es das Einmalige und stets Neue beim Hineinhören in die Tonwelt und das “Spazieren” durch die Landschaften dieser Welt mit seinen Alleen, heimischen Plätzen, den plätschernden Quellen, dem Strömen der Flüsse, den Vogelstimmen, den heiteren und traurigen Gesängen, dem Schrei aus der einsamen Verlorenheit bis hin zum Gloria, und vielem mehr.”

Vera: “Das versteh ich schon, dass der Mensch in die Musik eingebunden ist, weil sie die Sprache seines Fühlens ist, zu deren Verstehen er das Wörterbuch nicht braucht. Doch ist es nicht auch nötig, dass der Mensch wissen will, weil er ein Anrecht darauf hat zu wissen, ob ihm die ganze Liebe gegeben wird, oder er die Liebe mit etwas anderem, zum Beispiel der Hingabe zur Musik teilen muss?” Boris: “Natürlich soll der Mensch wissen und erleben, dass er geliebt wird und die individualisierte, auf die Person gerichtete Liebe unteilbar ist und unteilbar bleiben soll. Das hat der Musiker im Kopf: er nimmt die Musik als Fundament seines Lebens, auf dem er das Haus und die Gedanken aufbaut. Ideal ist für ihn der musikalische Partner, der es aus der liebenden Zuneigung heraus versteht und mit der Freude des gemeinsamen Erlebens tut, sich mit ans Klavier setzt und vierhändig Beethoven, Brahms oder Schubert mit dem spielt, von dem die Liebe auf der rechten oder der linken Seite ausgeht.” Vera: “Es kann auch eine Geige, eine Flöte oder ein Cello sein.” Boris: “Es kann jedes andere Instrument sein. Die Hauptsache ist das gemeinsame Musizieren, das Zwiegespräch und das Zusammenspiel in der schönsten Sprache, zu deren Verständnis, wie Sie schon sagten, kein Wörterbuch, dafür aber die Sensibilität des feinsten Empfindens für den andern, für das Fühlen mit dem andern, für das Erleben des Erstaunlichen im Zusammensein nötig ist, um das mit Worten nicht zu fassende Glück in seiner Dichte, dem Ausmaß und der Einmaligkeit zu spüren.” Vera: “Boris Baródin, das haben Sie mit ihren Worten schön gesagt. Ich hätte mir diesen Satz aufschreiben sollen. Es war ein Lehrsatz fürs Leben, den man sich jeden Tag sagen kann.”

Boris: “Vera, ich bin kein Lehrmeister. Ich habe nur aus meinem Gefühl und aus dem heraus gesprochen, was ich aus der Musik herausgehört und bisher verstanden zu haben glaube. Sie können da auch eine andere Ansicht haben. Die Basis ist und bleibt die Kommunikation, das miteinander Denken, Reden, Fühlen, Musizieren oder Sonst was-gemeinsam-Tun. Der Mensch wird nur durch die Liebe vollständig; nur die Liebe macht ihn zum vollständigen Menschen.” Vera: “Dazu braucht er den liebenden Partner.” Boris: “Wenn aus der Zweiheit durch die Liebe eine Einheit wird, finden sich zwei Menschen völlig anders wieder; und sie staunen über sich und den anderen.” Vera: “Die Zeit ist verflogen, und ich bin noch am Anfang. Das Gespräch könnte so weitergehen. Es hat mir das Zeitgefühl genommen. Doch ist’s Zeit, denn Sie haben die Verabredung mit Frau Grosz in der Pesulskistraße.” Boris: “Vera, Sie haben in mir ein Feuer entfacht, dass es mir heiß geworden ist.” Vera küsste Boris auf die Wange, setzte sich wieder gerade, als die Serviererin kam, um für Kaffee und Kuchen das Geld zu kassieren. Boris legte ihr ein stattliches Trinkgeld auf den Tisch, und beide verließen das kleine, ‘redliche’ Straßencafé hinter dem Alten Rathaus, dem meisterhaft restaurierten Altbau des polnischen Barocks mit den blauweiß gestrichenen Fassaden.

Sie gingen die Allee des Widerstand herunter. Vera fasste Boris’ Hand, der die Weichheit ihrer Hand tastend fühlte. Sie hatte eine schmale, schön ausgezogene Hand mit schmalen, langen Fingern, eine Hand, die zum Klavierspielen prädestiniert war. Boris: “Vera, wissen Sie, dass Sie die erste Frau sind, der ich die Hand halte, ich meine, der ich zubillige, ihre Hand in meine zu tun.” Vera lachte: “Dabei dürften Sie sich vor Frauenhänden nicht retten können, denn jede Frau möchte ihre Hand in die Hand eines berühmten Pianisten legen.” Nun lachte auch Boris: “Aber bei mir sind Sie die erste, die das ohne meinen Widerstand tut.” Vera: “Ihre Hand zu spüren, mit der Chopin und Brahms gespielt wird, ist mir ein großes, unvergleichliches Erlebnis. Ihre Hand ist für eine Männerhand weich und feingliedrig. Es ist eine ganz besondere Hand, die ich nicht mehr loslassen wollte, wenn ich es könnte.” Boris: “Sie haben auch eine schöne und weiche Hand, die sich vielversprechend anfühlt. Haben Sie mal ein Instrument gespielt?” Beide bildeten ein schönes Paar, dem die Entgegenkommenden mit neugierig großen Augen entgegensahen und sich nach dem Vorübergehen nach ihm umdrehte. Hinzu kam die deutsche Sprache. Wenn sie von den Passanten gehört wurde, war sie doch für Warschauer Cafés und Straßen die seltene Ausnahme. Das wusste Boris auch, dass nach dem Krieg die deutsche Sprache in Polen nicht gern gehört, geschweige denn gesprochen wurde. Das hatte mit dem harten Deutsch der Nazis und der ‘SS’ zu tun, mit der die Polen gedemütigt und gefoltert wurden. Auch wenn die Polen die deutsche Sprache beherrschten, sprachen sie im Nachkriegsexil in der Bundesrepublik Deutschland meist französisch oder englisch, alles andere nur nicht deutsch. Vera: “Ich wollte immer gern Klavier spielen. Doch dazu kam es seit dem Tode meines Vater nicht mehr. Wie schon gesagt, ich hatte für die Familie zu sorgen und das Geld für den Unterhalt zu beschaffen.” Boris: “Wenn ich Ihnen auf dem Klavier etwas zeige, würden Sie das auch annehmen wollen?” Vera: “Das Wollen ist das kleinere Problem, ich meine, das ist überhaupt kein Problem. Das Problem, was sein wird, ist das Können.” Boris: “Das wird sich herausstellen, wenn ich ihnen die ersten Schritte auf dem Klavier zeige.” Vera: “Das kann ich einem Pianisten, wie es Boris Baródin ist, nicht zumuten, sich mit so kleinen, ungelernten Leuten abzugeben.” Boris: “Vera, Sie erinnern sich an den Freiraum bezüglich der Erfüllung des Glücks in unserem Gespräch.” Vera: “Soll das heißen, dass Sie mich lieben?”

Boris: “Ich sagte Ihnen, dass Sie ein Feuer in mir entfacht haben, dass es mir ganz heiß geworden ist. Vera, Sie sind die erste Frau, der ich das Angebot mit dem Klavier mache, weil Sie die erste Frau sind, der ich die Hand halte, weil ich Sie liebe. Und nun sage ich es ihnen auch.” Vera drückte seine Hand und gab ihm den zweiten Kuss auf die Wange. Dabei scheute sie vor den neugierig schauenden Passanten nicht zurück. Sie musste ihn küssen, weil sie für dieses ‘Statement’ der Liebe so schnell keine Worte fand. Boris legte seinen Arm um ihre Schulter, und sie gingen aneinander geschmiegt die Straßen weiter. Der Druck des rhythmischen Ausladens ihrer Hüfte beim Gang gegen seinen Oberschenkel erweckte in ihm erotische Empfindungen, die für ihn bislang unbekannt waren. “Auch das ist das erste Mal, dass ich den Gang einer jungen Frau so reizvoll empfinde”, sagte er zu sich, während er auf die wunderbare Natürlichkeit des Schrittes ihrer Beine sah.

An der Abzweigung Pesulski-Straße verabschiedeten sie sich voneinander und hatten für den späten Abend ein Treffen im Musiksaal des Hotels vereinbart, wo Boris ihr die ersten Schritte auf dem Klavier zeigen wollte. Er umarmte sie und küsste sie auf den Mund. “Dann können wir auch Du zueinander sagen”, schickte er dem Kuss hinterher, bei dem Vera ihre Zunge tief in seinen Mund eingeschoben hatte. Es war das erste Mal, dass er einer Frau den Mund küsste und dann noch ihre hin und her fahrende Zunge in seinem Mund spürte. Vera: “Bis später, Boris. Ich liebe dich!” So ging sie anders als einige Stunden zuvor in Richtung Hotel. Boris schaute ihr noch kurz nach und bewunderte von hinten ihren Gang mit den reizvollen Proportionen, der schmalen Taille und den geschmeidig ausladenden Hüften, was durch ihr kniekurzesolivgrünes Kleid, das Vera hautnah anlag, vorteilhaft, ja auf eine begehrenswerte Weise betont wurde.


Die Baródins

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