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Der Besuch bei Frau Lydia Grosz
ОглавлениеSo beeindruckt und mit den zahlreichen Neuigkeiten des Nachmittags ging er die Pesulski-Straße bis zur Nummer 17. Er stand vor einem alten Bürgerhaus mit einem kleinen Vorgarten hinter einem schmiedeeisernen Zaun. Die Einschlagslöcher der Granaten waren zwar mit Zement geschlossen, dennoch waren die Kriegsschäden an diesem Haus nicht so perfekt wegrestauriert worden wie am Alten Rathaus und an den vielen anderen Gebäuden der Innenstadt. Boris klingelte am Tor des Vorgartens. Frau Lydia Grosz öffnete die Haustür und rief: “Kommen Sie, Herr Baródin, ich erwarte Sie.” Boris ging den Weg zur Haustür, wo Frau Grosz ihm die Hand reichte und ihn herzlich mit den Worten begrüßte: “Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.” Er schloss die Tür und folgte ihr durch einen langen Flur, dessen Wände mit großen Ölgemälden behängt waren. Sie traten in den Salon, einen großen Raum am Flurende. Der Raum war mit einem bunten, blau gemusterten Perserteppich ausgelegt und mit alten Barockmöbeln stilvoll eingerichtet. Auf dem kleinen, schmucken Schreibtisch mit den Schubladen im Aufsatz, zwei rechts, zwei links und der gefächerten Ablage in der Mitte, standen zwei Fotos hinter Glas. Es waren Fotos von Männern, von denen der eine etwa im Zenit des Lebens gestanden haben mochte, und der andere ein junges, auffallend schönes Gesicht mit hoher Stirn, schmaler Nase, großen dunklen Augen und einem ausdrucksvollen Mund mit weiten, weich ausladenden und geschwungenen Lippen hatte. “Nehmen Sie doch Platz, Herr Baródin.” Frau Grosz führte ihn zur Klubgarnitur in die Salonecke, die im Winkel zweier Wände zwei große Fenster trug. Das eine Fenster gab den Blick auf die Pesulski-Straße frei, während das andere Fenster, vor dem rechts der kleine Barock-Schreibtisch stand, den Einblick in einen kleinen Garten mit einem alten Nussbaum, zwei Birken, einigen Blumenbeeten und einem Gurkenbeet gab. Frau Grosz wies ihm einen der drei Barock-Sessel zu, während sie sich im dunkelblauen Kostüm mit violettem Seidenschal um den Hals auf die zweisitzige Couch setzte. “Sie haben doch keine Schwierigkeiten gehabt, mich zu finden”, begann Frau Grosz die Konversation. Boris: “Nachdem Sie es mir erklärt hatten, war es wirklich leicht, Sie zu finden.” Frau Grosz: “Da bin ich froh, dass Sie nicht lange suchen mussten. Vor einer halben Stunde hat mich mein Bruder angerufen. Er ist ja des Lobes voll über ihren Brahms-Vortrag.” Boris: “Vielen Dank.” Frau Grosz: “Und nicht nur er ist von ihrem Spiel begeistert. Auch mir hat ihr Spiel sehr gefallen. Wie ich Ihnen schon in der Philharmonie sagte, steht ihr Brahms-Vortrag dem anderer großer Pianisten nicht nach. Ich habe das Klavierkonzert von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Doch Sie haben es großartig gebracht. Sie haben die Begabung, die Seele des Werkes zu entfalten und dem polnischen Ohr hörbar zu machen. Wie oft haben Sie das Konzert gespielt, Herr Baródin?” Boris: “Ich habe es schon einige Male gespielt. Doch mit jeder Wiederholung bin ich reifer geworden, bin näher an das gekommen, was Brahms sagen will.” Frau Grosz: “Und er hat so viel zu sagen. Es reicht von der Melancholie des Anfangs des ersten Satzes mit dem Aufschwung, der Brahms’schen Frage nach dem Leben, der die akzentuierten Motive, ich möchte fast sagen, die Reitermotive mit den Sprüngen folgen, über die verhaltene, dann sich ausschwingende Heiterkeit im >Allegro appassionato< bis zur nachdenklichen Bestimmtheit des >Andante< im Zuspruch, das Leben anzunehmen und zu seiner Bewältigung mit dem Mut nicht nachzulassen und dabei aufrichtig und standfest zu sein. Ein aufweckendes und wachrüttelndes Werk, das zur Nachdenklichkeit stimmt.”
Boris: “Ja, das Klavierkonzert ist eine große, den ganzen Menschen umfassende Arbeit, in der die Gefühlsskala von der Schwermut bis zur Heiterkeit, vom Erwachen zum Erstaunen, von den Tiefen des Leides bis zu den Höhen der Freude und der großen Hoffnung zum vollendeten Glück reicht.” Frau Grosz: “Das er selbst nie bekommen hat. Brahms hatte eine überempfindliche Seele, die er in seiner Musik großartig und nobel zum Ausdruck bringt. Als Mensch war Brahms schwierig im Umgang, er war leicht verletzbar. Er liebte Kinder und konnte schroff zu den Erwachsenen sein. Von meinem Mann, der Geiger in der Wiener Philharmonie war, habe ich die folgende Anekdote noch in Erinnerung: folgte Brahms einer Einladung, was er nicht immer tat, dann fiel er durch seine Schweigsamkeit auf. Auf Äußerungen der Erwachsenen reagierte er empfindlich und gereizt. Als er dabei war, eine geladene Gesellschaft zu verlassen, soll er sich an der Tür umgedreht und gesagt haben: wenn da noch einer sein sollte, den er nicht beleidigt habe, dann möchte er sich entschuldigen.” Boris: “Diese Anekdote kannte ich nicht. Aber ich stimme ihnen zu, dass Brahms bei seiner Überempfindlichkeit schnell verletzbar gewesen sein musste. Denn das ist aus seiner Musik herauszuhören.” Frau Grosz: “Und stets schwingt das Geheimnisvolle durch seine Musik.” Boris: “Wie oft das Tragische durch die Musik Tschaikowskys schwingt.” Frau Grosz: “Das haben Sie gut herausgehört, Herr Baródin. Doch wissen Sie, mit der Tragik können wir Polen besser umgehen als mit dem Geheimnisvollen, das sich nicht immer offenbart. Die Tragik ist uns Polen ins Herz geschrieben. Nehmen Sie die polnische Geschichte bis zum zweiten Weltkrieg. Sie strotzt von Tragik und Trauer.” Boris: “Obwohl beides auch dem deutschen Volk aufgegeben wurde.” Frau Grosz: “Das stimmt schon, wenn auch nicht in dem Maße wie dem polnischen Volk. Denken Sie nur an die Besetzung Polens durch die deutsche Armee, denken Sie Treblinka und Auschwitz. Das haben die deutschen so nicht miterlitten. Das werden Sie sicher von ihren Eltern gehört haben.”
Boris: “Mein Vater war sowjetischer General und der erste Nachkriegskommandant von Bautzen; meine Mutter wurde schon am zweiten Tag von zwei Russen auf dem Dachboden vergewaltigt.” Frau Grosz: “Das mit ihrer Mutter tut mir leid, das mit ihrem Vater stimmt mich neugierig. Dann sprechen Sie auch russisch? Mein Vater hat mir einiges beigebracht, von dem allerdings nicht mehr viel geblieben ist.” Frau Grosz: “Und von wem haben Sie ihre musikalische Begabung geerbt?” Boris: “Vom Vater, der ein ausgezeichneter Pianist war und wiederholt sagte, dass er beim Klavier hätte bleiben sollen, wo er glücklich geworden wäre, was er als General der Roten Armee nicht geworden sei.” Frau Grosz: “Die Musikalität ist bei den Russen weit verbreitet. Dennoch erstaunt die Kombination von Pianist und General, wenn ich auch Kombinationen mit einer mathematischen oder künstlerischen Ausbildung bei Berufsoffizieren angetroffen habe.” Boris: “Mein Vater hat mir die ersten Schritte auf dem Klavier beigebracht. Dafür bin ich ihm zeitlebens dankbar.” Frau Grosz: “Da tun Sie aber recht. Er ist dann sicherlich auch ein sensibler Mensch…” Boris: “Dem jedes Kind auf dem Kopf rumtanzen kann, ohne dass er die Geduld verliert. Doch die Untergebenen hatten großen Respekt vor ihm.” Frau Grosz: “Interessant und eine besondere Geschichte, aus der Sie hervorgegangen sind. Haben Sie noch Kontakt mit ihrem Vater?” Boris: “Ich werde ihn in Moskau treffen, wenn ich dort das Brahms-Konzert spielen werde. Wie Vater schrieb, zählt er die Tage bis zu meinem Kommen.” Frau Grosz: “Wie wunderbar. Sie vereinen in ihrem Blut die deutsche und die russische Seele. Das zeichnet Sie zum besonderen Kulturträger aus. Ich hatte mir schon so etwas gedacht, denn Baródin ist kein deutscher Name.” Boris: “Es ist der Name der Mutter meines Vaters.” Frau Grosz: “Auch aus ihrem Brahms-Vortrag konnte ich heraushören, dass ein gut Teil slawisches Blut durch ihre Adern fließt. Vielleicht ist es das Mischblut in ihnen, dass Sie das Konzert für uns Polen so aufweckend, empfindsam und liebenswert spielen. Denn mein Bruder ist mit Komplimenten dieser Art, dass er durch ihr Spiel Brahms wieder lieben gelernt hat, im Allgemeinen äußerst zurückhaltend. Offen gesagt, ich kann mich an keinen Fall erinnern, dass er das getan hat.” Boris: “Selbst kann ich dazu nichts sagen, weil ich mir gegenüber nicht objektiv bin. Aber wo Sie das mit dem slawischen Blut erwähnen, kann ich mir auch besser erklären, warum mir beim >Andante< in Tschaikowskys Fünfter Tränen in die Augen stiegen und ich anfing zu zittern. Diese Schwermut wirft mich jedesmal um.”
Frau Grosz: “Herr Baródin, weil Sie durch den slawischen Teil in ihrem Blut auch slawisch fühlen. Das ist für mich ganz offensichtlich. Dabei muss ich gestehen, dass auch mich dieses >Andante< zutiefst erschüttert. Da ist es keine Schwäche, wenn die Tränen in die Augen steigen. Es ist die Teilnahme am Schicksal der Menschen, unter denen es so viel Leid und Trauer gibt.” Boris: “Darf ich Sie fragen, wer die beiden Männer auf den Fotos sind?” Frau Grosz: “Der eine war mein Mann, der Geiger in der Wiener Philharmonie war und mit anderen Orchestermitgliedern nach Ausschwitz deportiert und vergast wurde; der andere war mein Sohn, der bei den Straßenkämpfen in Warschau von den Deutschen erschossen wurde. Er wollte Medizin studieren, war sehr musikalisch und sprach fünf Sprachen.” Boris: “Ich darf ihnen nachträglich mein tiefempfundenes Beileid ausdrücken.” Frau Grosz: “Das ist sehr lieb von Ihnen. Das ist mein Schicksal, mit dem ich fertig werden muss, aber nicht fertig werde. Es waren zwei Männer von hoher Intelligenz und großer Fürsorglichkeit. Mein Mann war polnischer Jude, mein Sohn ein halbjüdischer Patriot, der überhaupt nicht zögerte, sein Leben für die Befreiung Warschaus einzusetzen, das er schließlich auch ganz hingegeben hat.” Boris: “Das sind erschütternde Geschichten, die Sie mit sich tragen.” Frau Grosz: “Wissen Sie, Herbert von Karajan leitete die Wiener Philharmonie. Aber er war ausschließlich auf seine Karriere bedacht. Er war ein frühes Mitglied der Nazipartei in Österreich und nach dem “Anschluss” 1938 gleich auch Mitglied der deutschen Nazipartei. Der hat sich nicht für seine jüdischen Orchestermitglieder eingesetzt, hat nicht um ihr Leben gekämpft. Er war kein Furtwängler, der die Nazis verabscheute, persönlich bei Goebbels vorstellig wurde und um das Leben der Mitglieder der Berliner Philharmonie kämpfte.” Boris: “Leider hat auch dieser große, hagere Mann nicht alle aus seinem Ensemble retten können.” Frau Grosz: “Aber er hat es versucht und dabei sein Leben riskiert, was Karajan nie getan hat. Wissen Sie, Herr Baródin, für mich sind die Deutschen ein Rätsel geblieben. Sie sind gebildet und fleißig, haben einen Bach, Beethoven, Brahms, einen Goethe, Schiller und Lessing hervorgebracht, aber den “Faust”, “Die Glocke”und den “Nathan der Weise” haben sie nicht verstanden. Nehmen Sie die Ringparabel im Nathan. Sie ist ein Vermächtnis zur Toleranz und Gerechtigkeit.” Boris: “Ich habe den Nathan in der Schule gelesen. Er war sogar ein Aufsatzthema. Soweit ich mich erinnere, hatte der Vater seinen Ring kopieren lassen und kurz vor seinem Tod jedem Sohn einen Ring gegeben. Nun erhob jeder Sohn seinen Anspruch auf den Titel und hinterlassenen Besitz des Vaters, da er seinen Ring geerbt hatte. Doch Vater’s Ring, der Musterring, war von den Kopien nicht zu unterscheiden.” Frau Grosz: “Nun kommt die Pointe zur Frage, wer im Recht ist. Nathan sagt, der rechte Ring ist nicht erweislich, fast so unerweislich wie der rechte Glaube ist. Der Vater hat die Kopien in der Absicht machen lassen, dass die Ringe nicht zu unterscheiden sind. Das ist doch die Lehre, die wir aus dem Nathan zu ziehen haben: Das Üben in der Toleranz und im Großmut. Da hat sich die Hybris der Nazis schwer vergriffen, als gäbe es nur die Deutschen, die eine Kultur und den richtigen “Glauben” haben.” Boris: “Für die Fehler und Fehleinschätzungen ist das deutsche Volk doch schwer genug bestraft worden. Stimmen Sie mir da zu, Frau Grosz?” Frau Grosz: “Da stimme ich Ihnen völlig zu, denn viele gute Deutsche hat es ja auch fürchterlich getroffen. Nun soll das neue Kapitel unserer Völker geschrieben werden. Deshalb sind Sie hier, um mit dem Brahms-Konzert zur Verständigung und Aussöhnung unserer Völker beizutragen.”
Frau Grosz goss den Tee nach: “Das ist eine verantwortungsvolle, antwortschwere, aber ehrenwerte Aufgabe im Sinne des Vermächtnisses des ‘Nathan des Weisen’, die auf Sie wie auf die Künstler unserer beiden Völker im Allgemeinen zukommt. Kennen Sie die Vorgeschichte des ‘Nathan’?” Boris: “Nein, die kenne ich nicht.” Frau Grosz: “Lessing war als Bibliothekar der Wolfenbütteler Bibliothek mit dem hamburgischen Hauptpastor Goeze in einen literarisch-theologischen Streit geraten. Der Streit ging um die Freiheit der Forschung in religiösen Fragen, der so viel Aufsehen erregte, dass der Bibliothek im Juli 1778 durch Kabinettsbeschluss weitere Veröffentlichungen untersagt wurden. Durch diesen Beschluss ließ sich Lessing aber nicht mundtot machen. Er verfasste den Nathan und hoffte, den Theologen einen “ärgeren Possen” –so schrieb es Lessing am 11. August 1778 an seinen Bruder Karl – zu spielen als mit den zuvor verfassten zehn Fragmenten, die den Streit auslösten. In seinem Brief vom 6. September 1778 an Elise Reimarus schrieb Lessing, dass er versuche, wenigstens auf seiner alten Kanzel, dem Theater, noch ungestört “predigen” zu können. Die Quelle zum Nathan war eine Novelle aus dem ‘Decamerone’ von Giovanni Boccaccio (1313-1375). Eine Aufführung des ‘Nathan’ hat Lessing nicht erlebt. Erst nach einer Bearbeitung von Schiller wurde der Nathan am 28. November 1891 in Weimar uraufgeführt.” Boris: “Das ist sehr interessant, und ich bewundere ihr Wissen um den Nathan.” Frau Grosz: “Der ‘Nathan’ wurde von Lessing deutsch geschrieben, der zur Weltliteratur gehört, weil er die Fragen der Freiheit und Toleranz behandelt. Wir Polen lieben und verehren den ‘Nathan’. Ich habe ihn als Mädchen in der Schule in der Originalfassung gelesen. Später habe ich den Nathan in den verschiedensten Sprachen auf der Bühne erlebt. Von Goethe, der den ‘Nathan’ verehrte, stammt der Satz: “Möge das im Nathan ausgesprochene göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl der Nation heilig und wert bleiben!” Da spricht doch die große Kultur zu uns.” Boris: “Ja, ich verstehe Sie. Darum müssen wir die schlimme Vergangenheit abschließen und den Neuanfang wagen. Wir müssen die Aufgabe der Verzeihung und Aussöhnung annehmen und unseren Beitrag kraftvoll dazu leisten, damit das Kapitel des unsäglichen Leides ein für allemal abgeschlossen ist.” Frau Grosz: “Nach diesem Gespräch freue ich mich noch mehr auf ihr Konzert, zu dessen Gelingen ich Ihnen die Daumen drücke.” Frau Grosz brachte Boris an die Tür und bedankte sich dort noch einmal für das Gespräch.
Es war dunkel geworden, als Boris die Pesulski Straße in Richtung Hotel ging. Für ihn war es ein gehaltvolles Gespräch. Er war ergriffen von der Geschichte ihres Mannes und des Sohnes, war verwundert über das literarische Wissen, das Frau Grosz über den ‘Nathan’ parat hatte. Er betrat das Hotel und war noch an der Eingangstür, als ihm der junge Mann an der Rezeption zuwinkte: “Ich habe ein Gespräch aus Deutschland für Sie. Es ist ihre Mutter, die schon einmal angerufen hatte. Soll ich das Gespräch auf ihr Zimmer durchstellen?” “Bitte tun Sie das.” Boris nahm hastig die Stufen zu seinem Zimmer Nummer 7 im ersten Stock. Er hörte das Telefon klingeln, als er dabei war, die Tür aufzuschließen. Er schloss die Tür und eilte zum Telefon. Es war die Mutter, die aus Hamburg-Blankenese anrief: “Da bekomme ich die endlich. Ich habe schon einmal angerufen. Da wurde mir gesagt, dass du nicht im Hotel seist. Wie war die Probe? Ich habe viel an dich gedacht.” Boris: “Es hat gut geklappt. Die Warschauer Philharmonie ist ein großartiger Klangkörper. Es hat Freude gemacht, mit diesen Musikern Brahms zu spielen.” Mutter: “Es muss ja sehr gut gewesen sein, denn deine Stimme klingt ja so gelöst und heiter. Ist dein Vortrag so gut angekommen? Ja das ist er. Der Dirigent war von meinem Spiel begeistert und sagte, dass er durch mein Spiel Brahms erneut lieben gelernt hätte. Dafür bedankte er sich besonders.”
Von den Neuigkeiten des Nachmittags mit der individualisierten, auf die Person Veras bezogene Liebe, seiner Liebeserklärung, und dass er Vera auf der Straße geküsst habe, davon sagte er nichts. Boris verschwieg es, weil er die Reaktion der Mutter kannte, die gesagt hätte: Du sollst dich auf dein Spielen konzentrieren und nicht auf junge Frauen, die dir scharenweise nachlaufen. Die Mutter fragte nach Einzelheiten aus der Probe, die Boris ihr mit gutem Gewissen positiv beantwortete. Sie fragte unter anderem: “Wie war der Anfang des ersten Satzes? War der Dirigent in seiner Stabführung auch nicht zu schnell? War die Begleitung von Anfang an, wie Du sie erwartet hast? Musste ein Satz wiederholt werden?” Boris: “Das >Allegro non troppo< wurde wiederholt, wobei es an Qualität gewonnen hat. Die Stabführung war eingangs ein wenig zu schnell. Das hatte der Dirigent rasch korrigiert. Wie ich schon gesagt habe, hat das Orchester mich mit großem Einfühlungsvermögen begleitet. Es ist ein wunderbarer Klangkörper, der der Dresdner Staatskapelle oder dem Leipziger Gewandhausorchester ebenbürtig ist.” Mutter: “Dann bin ich froh, dass die Probe gut verlaufen ist und du zufrieden bist. Was steht noch auf dem Programm bei dem Konzert morgen?” Boris: “Die Fünfte von Tschaikowsky.” Mutter: “Die liebe ich so sehr.” Boris: “Ich habe mir den ersten Satz, das >Andante< mit dem >Allegro con anima< angehört. Die Macht dieser Musik hat mich erschüttert und überwältigt. Mein Körper war am Zittern.” Mutter: “Das kann ich mir bei deiner Sensibilität gut vorstellen. Mir geht es da nicht anders. Das >Andante< ist eine Leidens-, eine Kreuzigungsmusik, die in ihrer slawischen Schwere einmalig ist. Ich stimme dir zu, der erste Satz aus der Fünften ist ein erschütterndes Werk, das durch Mark und Bein geht.” Boris: “Ich bin sehr optimistisch, was das Konzert angeht.” Mutter: “Dann bin ich beruhigt. Ich habe so intensiv an dich gedacht, dass mir die Salzkartoffeln nach dem Abgießen am Topfboden angebrannt waren.” Boris: “Und dann?” Mutter: “Dann habe ich die essbaren Kartoffeln in die Schüssel getan und den Topf mit den angebrannten Kartoffeln voll Wasser gefüllt und in die Spüle gestellt.” Boris: “Nun, wo du weißt, dass die Probe gut verlaufen ist, sollst du dir eine ruhige Nacht gönnen. Du sollst mehr an dich denken, denn ich brauche dich.” Mutter: “Dann wollen wir Schluss machen. Ich wünsche dir zum Konzert alles Gute, dass alles so abläuft, wie du dir es vorgestellt hast.” Boris: “Erst kommt die Generalprobe morgen Vormittag. Das Konzert beginnt um zwanzig Uhr Görlitzer Zeit. Dann ist es bei dir noch neunzehn Uhr.” Mutter: “Ruf mich doch nach dem Konzert an. Ich bin so gespannt, wie es gegangen ist.” Boris: “Ich rufe dich hinterher an. Doch nun sollst du dich entspannen und dich in deinem Sessel zurücklehnen. Und vergiss dein Abendessen nicht!” Mutter: “Gute Nacht, mein Sohn!” Boris: “Mutter, ich wünsche dir eine gute und ruhige Nacht. Bis zum nächsten Mal.” Mutter: “Vergiss den Anruf nicht!”