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Mädchen mit dem verkohlten Schienbein

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Nach einem gigantischen Wolkenbruch mit rasend umherzuckenden Blitzen und rollenden Donnerschlägen der größten Härte setzte ein Sturzregen Land und Straße innerhalb einer Stunde unter Wasser. Das Telefon läutet gegen drei Uhr morgens. Die Schwester teilt mit, dass ein Mädchen zum Hospital gebracht wurde, das vom Blitz geschlagen wurde. Dr. Ferdinand zog sich Hemd und kurze Hose an und stapfte barfuß mit den Sandalen in der Hand die siebenhundert Meter in Stockfinsternis durch Matsch und riesige Pfützen zum Hospital. Ein Auto stand den Diensttuenden nicht zur Verfügung. Ferdinand hielt sich auf der Straßenmitte, soweit er die Mitte erkennen konnte, und passierte unter der unbeschirmten Straßenlampe den schwach erleuchteten Kontrollpunkt am Ausgang des Dorfes. Ein Auto kam nicht entgegen, um den Weg mit seinen riesigen Pfützen auszuleuchten. Voll von Matschspritzern erreichte Ferdinand das Hospital und wusch den Schmutz unter dem Wasserhahn draußen vor der Rezeption von den Beinen. Er steckte die nassen Füße in die Sandalen mit den Korksohlen und betrat im quatschenden Sumpfton der Sandalen die Wartehalle des ‘Outpatient department’. Die Nachtschwestern machten große Augen, als sie den Arzt mit den Matschspritzern an Hose und Hemd sahen, verloren aber kein Wort über die Unzumutbarkeit, den Weg durch Matsch und Stockfinsternis gegangen zu sein. Dr. Ferdinand sah das Mädchen von vierzehn Jahren, das mit einer Lake zugedeckt auf der Trage lag und vor Schmerzen stöhnte. Auf dem Weg zum Kraal mit den Ziegen wurde es vom Blitzschlag getroffen. Das blasse Gesicht drückte die Schwere des Schlages auf das Erschütternste aus.

Dr. Ferdinand hob die Lake von oben nach unten und erschrak, als er das angekohlte, rechte Schienbein sah, dessen Weichteilmantel von Kniehöhe bis zum Fußsgelenk weggeschmort war. Andere Verbrennungswunden waren im Gesicht, am anderen Bein und dem linken Ober- und Unterarm. Die Schockbekämpfung hatte eingesetzt. Die erfahrene Schwester hatte die schnell tropfende Infusion an die Vene in der rechten Ellenbeuge angeschlossen. Das bedauernswerte Mädchen, dem der Tod das Gesicht zeichnete, wurde auf die Intensivstation gebracht. Dort bekam das Mädchen den Fensterplatz im ersten Zweitbettzimmer. Der angekohlte, mit dem Verband abgedeckte Unterschenkel wurde unter einen Bügel mit sechs Bügelstangen gelegt. Die Schmerzbehandlung erfolgte intravenous. Es war unvermeidlich, dem Mädchen, falls es überlebte, den rechten Unterschenkel abzusetzen. Ferdinand nahm sich die Zeit und setzte sich auf einen Schemel neben das Bett, kontrollierte Blutdruck und Puls und trug die Messwerte im Überwachungsbogen ein. Er hatte in seiner Laufbahn noch nicht gesehen, dass ein Mensch vom Blitzschlag getroffen mit dem Leben davonkam. Das Mädchen schwebte in dem kritischen Zustand zwischen Leben und Tod, zumal innere Organe betroffen sein mussten. Dr. Ferdinand schloss das EKG-Gerät an und verfolgte, wie der Oszillograph die Tachykardie der Herzkammern mit den Extrasystolen aufzeichnete.

Die Schmerzmittel wirkten, dass das Mädchen Ruhe fand und die Augen geschlossen hatte. Es war Sonntagmorgen kurz vor fünf. Ferdinand machte sich auf den Rückweg, um sich noch einmal hinzulegen. Kristofina war der Name des Mädchens. Er hielt es in seinen Gedanken fest, als er das Buch der Preisungen aufschlug und den fünften Psalm in der Verdeutschung des Philosophen Martin Buber zu lesen begann: "Meinen Sprüchen lausche, DU,/ achte auf mein Seufzen,/ merk auf die Stimme meines Stöhnens,/ o mein König und mein Gott,/ denn zu dir bete ich./ DU,/ morgens hörst du meine Stimme,/ morgens rüste ich dir zu,/ und ich spähe.// Denn nicht bist du eine Gottheit,/ die Lust hat am Frevel,/ ein Böser darf nicht bei dir gasten,/ Prahler sich dir vor die Augen nicht stellen,/ die Argwirkenden hassest du alle,/ die Täuschungsredner lässest du schwinden. –/ Ein Gräuel ist DIR der Mann von Bluttat und Trug."

Dr. Ferdinand spürte das Mädchen, wie es sich im Schmerz der Todesqual krümmte, und las ihr zum Trost den sechsten Psalm hinzu: "DU,/ nimmer strafe in deinem Zorn mich,/ nimmer züchtige in deiner Glut mich!/ Leih Gunst mir, DU,/ denn ich bin erschlafft,/ heile mich, DU,/ denn mein Gebein ist verstört,/ und sehr verstört ist meine Seele./ Du aber, DU, bis wann noch –!/ Kehre wieder, DU,/ entschnüre meine Seele,/ befreie mich/ deiner Huld zu willen!/ Denn im Tod ist kein Deingedenken,/ im Gruftreich, wer sagt dir Dank?!" Dr. Ferdinand fühlte sich schwach, als er bei Reinigung seines Geistes ihr den Mut zuzusprechen versuchte, um den Weg zu gehen, den ihr das Schicksal nach dem Blitzschlag aufgab. Kristofina sollte den körperlichen Ballast mit dem angekohlten Schienbein abstreifen und die letzte Wegstrecke getrost mit ihrer Seele gehen. Das Telefon klingelte gegen zehn, und die Schwester teilte mit, dass Kristofina vor fünf Minuten verstorben sei. Tränen kamen in seine Augen. Er wünschte dem Mädchen beim Überschreiten der letzten Brücke den inneren Frieden, den sie brauchte. Es tat ihm leid, dass es diesen Weg allein gehen musste, ohne die Hand der Mutter zu spüren und von ihr den Abschiedkuss für die Ewigkeit bekommen zu haben. Ferdinand griff zu den Preisungen und las den letzten Psalm dem Mädchen hinterher: "Preiset oh Ihn!// Preiset Gott in seinem Heiligtum,/ preiset ihn am Gewölb seiner Macht!/ Preiset ihn in seinen Gewalten,/ preiset ihn nach der Fülle seiner Größe!"


Kwashiorkor


Ferdinand schilderte dem Professor das Ausmaß der unterernährten Kinder, die er täglich sieht, von denen einige aufgedunsene Wasserbäuche auf stockdünnen Beinen tragen. Diese Kinder haben eingefallene Faltengesichter mit verstrichenen Mündern, oft blutende Nasen und große dunkle Augen. Kwashiorkor, wie die Westafrikaner in der ‘Ga’-Sprache die Kinder mit den Wasserbäuchen nennen, hat ihre Ursache im chronischen Eiweißmangel. "Gibt es viele Kinder mit Kwashiorkor?", fragte der Professor. Ferdinand führt den Professor auf den Platz vor der Rezeption, wo die Kinder mit den aufgedunsenen Bäuchen neben ihren Müttern in der Warteschlange stehen. Einige von ihnen liegen auf dem Boden, weil sie zu schwach sind, in der Hitze zu stehen. Die Erbärmlichkeit erschütterte den Professor. Außer den spindeldürren Beinen mit den ausgewölbten Kniegelenken waren die kraftlos herabhängenden Spindelarme mit den prominenten Ellbogengelenken zu sehen. Ferdinand und der Professor gingen zur Platzmitte und drehten dort um. Sie blickten auf die Menschen in der Schlange. "Das ist schlimmer als bei uns in Südafrika", sagte der Professor, "das ist entsetzlich, wie die Kinder in ihrer Erbärmlichkeit stehen und die liegenden auf den letzten Atemzug warten." Viele Kinder geben das Bild des endemischen Hungers ab. Dr. Ferdinand erinnerte sich bei der Betrachtung dieser Kinder an die Schilderungen über die ausgemergelten Kinder in den Lagern der Vergangenheit.

"Wesentlich ist", setzte der junge Kollege hinzu, "dass wir die Not und den Hunger der Menschen im Auge behalten, weil daraus das Elend abzulesen ist, wie Menschen mit Menschen verfahren, denen allen das Recht gleichermaßen zusteht, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Da kann es keine Lücke geben, in die sich der weiße Wohlstand mit seinem Unrecht verdrückt, wenn gleich daneben das schwarze Elend sitzt mit den Hungergesichtern und den todgeweihten Kindern des Kwashiorkors.”


Ins Blut geschrieben

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