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EINBLICK

Wir leben unser Leben nach vorne. Vieles wird uns erst im Nachhinein verständlicher. Es geht implizit um den Wunsch, man selbst zu sein und bleiben zu können. Sinn und Eigensinn unseres Lebens erscheinen bisweilen paradox oder unsinnig, unglaublich, aber wahr und rätselhaft. Von Schicksalsschlägen bis zu günstigen Fügungen bereitet unser Leben überraschende Wendungen. Es stellt uns ungefragt vor Herausforderungen und hinterlässt Spuren in uns. Im Leben hält sich vieles nicht an Eindeutigkeit, klare Zuordnung oder Endgültigkeit, bleibt unscharf und flexibel, lineare »Wenn-dann-Erklärungen« greifen zu kurz. Es tauchen zuvor unbeachtete Wechselwirkungen auf, die überraschend Neues hervorrufen.

Der Körper ist die Bühne unseres Lebens

Unser Körper ist Mittelpunkt, Werkzeug, Ausdrucksmittel und Bühne des Lebens. Es verändert sich in, durch und mit ihm. Er ist Teil der Natur und ist in soziale Zusammenhänge eingebettet, an die wir uns anpassen müssen oder die wir verändern. Bei ausreichender Ernährung, Bewegung, Ruhephasen, Zuneigung und Pflege reguliert sich unser Körper weitgehend selbst. Unsere leibliche Intelligenz leistet das meiste in unserem Leben ohne bewusstes Zutun.

Was wir sehen und hören, bewegt unsere Herzen, Muskeln und Eingeweide. Unser Gedächtnis beeinflusst, was wir riechen und schmecken. Wen und was wir berühren, geht auch unter die Haut. Ein Schrecken fährt uns spürbar ins Mark, oder eine freudige Überraschung lässt uns aufatmen. Wir kommunizieren Körpererfahrungen in Metaphern und vertrauten Redewendungen, meistens ohne bewusst auf diese zu achten.

Die Konzepte und symbolischen Bedeutungen des Körpers und seiner Organe haben sich historisch geändert. Vom intuitiven Eigenerleben über ein magisches, mythisches, traditionelles oder volkskundiges Verständnis des Körpers, von rationalen Körperkonzepten der Antike und des Mittelalters über anatomische Sektionen, physiologische Mechanismen, mikroskopische Untersuchungen, biochemische Erforschungen der Zellen, Moleküle und flüssigen Anteile bis zu psychosomatischen Studien, neuen Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie und Neurobiologie sowie zum erfahrenen Leib und dessen subjektiver Bedeutung bleiben die Vorstellungen des Körpers im Fluss.

Aus meiner Tätigkeit als Arzt und Psychotherapeut kenne ich die Unwägbarkeiten eines geplanten Vorgehens, das oft unerwartet von schicksalhaften Zufällen in andere Richtungen gelenkt werden kann. Menschen erkranken mitten aus einem glücklichen Leben heraus, ohne verständlichen Grund. Andere, schwer erkrankte Menschen werden trotz ihrer schlechten medizinischen Prognose überraschend wieder gesund. Manchmal lassen sich dafür Gründe finden, häufig fehlt aber auch eine schlüssige Erklärung.

Verantwortung für das eigene Leben annehmen

Solidarisches, soziales Zusammenleben ist ein wichtiger Faktor für die Gesundheit. Trotzdem bleibt sich jede/r selbst der/die Nächste. Die Praxis einer gesunden »Selbstliebe« (Erich Fromm) ist für viele Menschen ein längerer Lernprozess. »Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst: Du würdest dich verpfänden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.« (Friedrich Nietzsche)

Um dem Leben gewachsen zu sein, müssen wir immer wieder neu präsent sein. Es hilft, mit seinem Leben weniger achtlos umzugehen.

Wem erzählt der menschliche Körper was?

Im Krisen- oder Krankheitsfall ändert sich das Verhältnis zum eigenen Körper. Viele Menschen haben erst ein distanziertes, fast fremdes Verhältnis gegenüber ihrem Körper. Sie misstrauen ihren Sinnen, Empfindungen, Ahnungen, Intuitionen und Gedanken. Stattdessen hoffen sie, dass die Medizin oder ExpertInnen ihren Körper stellvertretend untersuchen und reparieren.

Die Medizin untersucht ihren Körper neutral, objektiv, von außen und innen. Sie hat eigene Blickwinkel und Lesarten des Körpers, die sich an Anatomie, Physiologie und Biochemie, definierten Organen, Funktionsweisen und Körpersystemen orientieren. Ihre Untersuchungen werden durch technische Geräte ergänzt. Schließlich übersetzt die Medizin das Befinden erkrankter Menschen in medizinische Befunde.

»Erzählungen« des kranken Körpers haben sich in der Heilkunde im Laufe ihrer Geschichte häufig verändert. Ihre Konzepte und Behandlungsstrategien des Körpers unterscheiden sich von den Vorstellungen und Erwartungen der Hilfe suchenden Menschen. Die Medizin ist nur am Rande an den Besonderheiten, Stärken und Schwächen der einzelnen Menschen interessiert. Viele medizinische Untersuchungen bleiben auch deshalb unzureichend, weil sie die Lebensgeschichte und Lebensumstände der Menschen nicht genügend berücksichtigen.

Ratschläge und Erkenntnisse der Wissenschaften helfen, unsere Orientierungen zu verbessern. Sie können aber keine Gewissheit bieten, was für die Einzelnen möglich und notwendig ist. Die Mehrzahl der Krankheiten lässt sich erst dann zufriedenstellend behandeln, wenn die Menschen aktiv an ihrer Genesung teilnehmen.

Angesichts des enormen Zuwachses an Wissen benötigt die Medizin viele Spezialdisziplinen. Diese sprechen immer weniger die gleiche Sprache und tauschen sich kaum untereinander aus. Zugleich müssen alle Disziplinen die Herausforderungen einer ganzheitlich-integrierenden Zusammenschau des Befindens und der Befunde im Blick behalten. Durch fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitswesens verbringen ÄrztInnen heute oft mehr Zeit mit administrativen Aufgaben als mit qualitativen Patientenkontakten. Die Entwicklung von professionellem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl erfordert aber gezielte Aufmerksamkeit und Zeit. Die Förderung von Hilfe zur Selbsthilfe braucht Geduld und Übung.

Toleranz, Respekt und Humor

In meiner rheinischen Heimat gibt es ein Sprichwort, das sagt: »Jede Jeck is anders, jeder is anders jeck und jet jeck sin mir all« (Jeder Narr ist anders, jeder ist anders närrisch und etwas närrisch sind wir alle). Es weist auf die Vielfältigkeit der Menschen hin, denen wir mit Respekt und Toleranz, mit Humor und manchmal mit Demut begegnen sollten. Andere sind für uns auch ein Buch, ein Gemälde oder ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können.

Mit neuen Erkenntnissen und Herausforderungen umgehen

Ein umfassenderes Verständnis des Körpers braucht interdisziplinären Austausch zwischen Heilkunde und anderen Wissenschaften und Künsten. In diesem Buch setze ich unterschiedliche Forschungsergebnisse mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen in plausible Beziehungen.

Wie haben sich Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers gewandelt? Lässt sich dies an einzelnen Sinnen und Organen exemplarisch zeigen? Welchen Stellenwert hatten Augen und Ohren vor der Erfindung des elektrischen Lichts oder des Mobiltelefons? Wie verändern sich unsere Sinne heute, und welche Folgen könnte dies in Zukunft haben? Welche Chancen und Risiken bieten sensorische Apps, die Überwachung durch Telemedizin oder neue technische Spürnasen zur Krebsdiagnostik? Die Entwicklung unserer Sinne bewegt sich zwischen deren zunehmender Delegierung an externe Sensoren und der Förderung von Experimenten wie etwa in den Körpertherapien.

Verlagert sich in unserer Kultur die symbolische »Mitte des Menschen« vom Herzen zum Gehirn? Die Neurobiologie löst die Kardiologie als Königsdisziplin der Medizin zunehmend ab. Was bedeutet es, dass unser Körper im »Mikrobiom« weitaus mehr fremde Organismen beherbergt, als wir eigene Körperzellen haben? Welchen Einfluss nehmen darauf Ernährung oder Medikamente? Hat dies etwas mit der Zunahme von chronischen Darmleiden zu tun?

Unser Körper besteht überwiegend aus Wasser? Welche Zusammenhänge ergeben sich daraus mit der zunehmenden Verknappung von Trinkwasser in großen Teilen der Welt? Kann eine sensible Aufmerksamkeit für die Knochen und das tragende Skelett helfen, stabiler auf den eigenen Füßen zu stehen sowie Osteoporose oder Stürze im Alter aktiv zu verringern? Nimmt körperliche Bewegung über die Produktion von Botenstoffen wie Myokinen nachweislich Einfluss auf Herzerkrankungen und Depressionen? Wie kann es gelingen, festgefahrene Gedanken wieder in Bewegung zu bringen? Wie lassen sich menschliches Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft bewusst für die Wirkungen des Placebo-Effekts mobilisieren?

Dies sind einige der Themen, denen ich mich in dieses Buch zuwende. Es lädt dazu ein, sich an der Suche nach Antworten zu beteiligen.

Die Vielfalt begrenzen

Die Komplexität des menschlichen Körpers ist so groß, dass in diesem Buch nur einige Aspekte dargestellt werden können. Ich habe einige wichtige Themen auslassen müssen, denen aber augenblicklich an anderen Stellen viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Verwiesen sei auf die interessanten Dynamiken des Immunsystems als körperlichem Abwehrsystem, das zugleich auch wichtige Leistungen der notwendigen Toleranz gegenüber körperfremden Stoffen und Organismen regeln muss, wie etwa bei Allergien und Autoimmunerkrankungen. Viele Erkenntnisse der Neurobiologie werden in den Medien heute als Hoffnungsträger gehandelt. Dabei werden erste Erkenntnisse oft verfrüht als gesichertes Wissen präsentiert. Man kann nicht über den menschlichen Körper sprechen, ohne die vielen Unterschiede zu berücksichtigen, die sich aus den Geschlechterfragen ergeben. Die Thematik der Sexualität und anderer Gefühle wird in diesem Buch nicht ausführlicher behandelt. Auch die vielen spezifischen Aspekte, die mit Lebensaltern – Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – zusammenhängen können hier nur verkürzt behandelt werden.

Der eigen-sinnige Mensch - eBook

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