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SCHMECKEN –

Was auf der Zunge liegt

Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm (…) bessere Speisen. (Denn:) Der Mensch ist, was er isst.

Ludwig Feuerbach

Meine »Geschmacksgeschichte« beginnt am Übergang der Nachkriegsjahre in die Zeiten des »Wirtschaftswunders«. Diese Jahre waren für mich sowohl ein »selbstversorgender Garten auf dem Lande« als auch Beobachtungen einer Konjunktur »nachholenden Heißhungers« der Erwachsenen. Ihr »kollektives Gedächtnis« war noch geprägt von Krisenzeiten, in denen für die Mehrheit der Bevölkerung ein »Notwendigkeitsgeschmack« (Pierre Bourdieu) geherrscht hatte – meist minderwertiges Essen, in der Sorge um ausreichende »Fülle«. In den 50er- und 60er-Jahren sollte deshalb vieles demonstrativ »nachgeholt« werden.

In meiner Heimat hatten wir das Glück eines eigenen Gartens mit Gemüse und Obstbäumen. Für den Winter wurde Obst auf Vorrat eingemacht und Marmelade eingekocht. Meine Großmutter hielt Hühner, die für frische Eier sorgten und bisweilen eine herrliche Suppe hergaben. In der Nähe gab es eine Molkerei, in der man Milch, Butter und Quark kaufen konnte. Fleisch gab es seltener, und freitags wurde in der traditionell katholischen Familie nur Fisch gegessen. Süßigkeiten waren selten. In der vorösterlichen Fastenzeit mussten wir diese in einem Glas sichtbar aufheben, ohne daran zu naschen.

Ich erinnere mich gut an die gedeckten Tafeln der Familienfeste. Mittags gab es Braten mit Kartoffeln und dicken Soßen. Anschließend tranken die Erwachsenen »echten Bohnenkaffee« mit Kondensmilch. Dazu wurden selbst gemachte Buttercreme- und Schwarzwälder-Kirschtorten sowie Frankfurter Kranz serviert. »Gute Butter«, Mayonnaise, Russische Eier, Schinkenröllchen mit Dosenspargel sowie Dosenananas gehörten zu den besonderen Köstlichkeiten dieser Zeit.

Für uns Kinder wurde manchmal durchsichtiger Wackelpudding mit Vanillesoße gereicht, der damals als »Götterspeise« angepriesen wurde (sicher nicht in Erinnerung an die »Ambrosia« der griechischen Götter, die angeblich unsterblich machen sollte).

Nach dem Krieg galten süßes, fettes und fleischhaltiges Essen als kulinarische Höhepunkte eines neuen »Prinzips Hoffnung«. Für uns Kinder hieß es, »alles zu essen, was auf den Tisch kommt« und den Teller immer »leer« zu essen. Wem dies schwerfiel, der wurde an das Schicksal der hungernden Kinder in Afrika gemahnt. Beliebt war damals die Geschichte vom »Suppenkasper«. Wer seine Suppe nicht aufisst, so zeigte der Suppenkasper, konnte rasch abmagern, und schon nach fünf Tagen drohte ihm möglicherweise der Tod. Erst viel später habe ich erfahren, dass diese Geschichte 1844 vom Frankfurter Armenarzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, als »selbst erfundene Weihnachtsgeschichte«, für seinen dreijährigen Sohn Carl-Philipp verfasst wurde. Die Geschichten vom Struwwelpeter wurden später als »lustige Geschichten und drollige Bilder der Kinder von drei bis sechs Jahren« veröffentlicht. Heute scheinen sie eher eine Form von schwarzer Pädagogik zu sein.

Besondere »Köstlichkeiten« meiner Kindheit waren fettige belgische Fritten und rheinische Reibekuchen. Meine Oma hatte die liebenswürdige Gepflogenheit, die Teller der Kinder immer besonders voll zu machen. Zum Glück war ich während dieser Zeit viel draußen und ein begeisterter Sportler. Dadurch blieb mir ein drohendes Übergewicht erspart.

Die Vorliebe für süßes, fettes und gut gesalzenes Essen änderte sich, als Rundfunk und Fernsehen auf dessen Schädlichkeit »für das Herz« hinwiesen. Anfangs nahm man das Ganze noch nicht ernst. Man begann aber, trockene Weine zu bevorzugen und achtete mehr darauf, keinen »Bierbauch« zu haben. Maßhalten und eine gute Figur wurden wichtig.

Während meines Medizinstudiums habe ich mir erstes Wissen über Anatomie, Physiologie, Biochemie und Pathologie der Nahrungsaufnahme und Verdauung sowie Grundzüge von gesunden Ernährungsweisen aneignen können. Dieses Wissen ging kaum über Nährwert- und Kalorienberechnungen oder grobe Orientierungen für »gesündere« Ernährung hinaus.

In den 70er-Jahren tauchte die »Umweltfrage« auf und mit ihr Debatten über die Bedeutung von Bio- und Öko-Qualitäten. Schließlich wurde ich selbst Vater, und wir achteten genauer auf die Zusammensetzung der Babynahrung. Diskussionen um mögliche Folgen von industrieller Brot- und Nahrungsmittelproduktion, Zusatzstoffe, eine Begrenzung des Fleischkonsums und den Verzehr von mehr Gemüse fanden Eingang in die breitere Öffentlichkeit.

Inzwischen wird insgesamt mehr Wert auf einen bewussteren Umgang mit Nahrungsmitteln gelegt. Ein kritisches Bewusstsein für die Bedeutung von Ernährung, geschweige denn vom Genuss des Essens bleiben jedoch Stiefkinder der modernen Medizin. Diese Fragen werden gerne an andere Berufsgruppen delegiert. In meiner psychotherapeutischen Arbeit insbesondere mit Ärzten bin ich immer wieder erstaunt, wie schlecht diese sich selber täglich behandeln, etwa dann, wenn es um ihre geregelten Pausen für Mahlzeiten geht.

Der Geschmackssinn in philosophischer Hinsicht

In der westlichen Tradition der Philosophie galt der Geschmackssinn über zwei Jahrtausende als »niedrig« in der Hierarchie der Sinne. Aufgrund seiner Nähe zu den animalischen Fressinstinkten stand er unter Verdacht. Appetit wurde in der Nähe der Tiere angesiedelt, und immer drohte die »Völlerei« als Feind des Denkens. Die Subjektivität des Geschmacks erschien den Philosophen für den objektiven Erkenntnisgewinn, den der Mensch anzustreben habe, als wenig erfolgversprechend. Der denkende Mann war mit der Vernunft beschäftigt, Essen und Kochen waren dagegen Frauensache.

Eine frühe und oft geschmähte Ausnahme bildeten im 3. Jahrhundert v. Chr. der Philosoph Epikur von Samos und seine Schule. Er stellte sich polarisierend gegen die herrschende Stoa und Platon und sah in der Lust, als Abwesenheit von körperlichen Schmerzen und seelischer Unruhe, ein vom Menschen anzustrebendes »höchstes Gut«. Dabei ging es ihm nicht um Gelüste und Ausschweifungen, sondern vielmehr darum, wie die natürlichen Grundbedürfnisse nach Essen und Trinken gut befriedigt werden können. In Bezug auf die sozialen Freuden des Essens schrieb er: »Du sollst mehr Umsicht darauf verwenden, mit wem du isst und trinkst als darauf, was du isst und trinkst, denn Nahrungszufuhr ohne einen Freund ist das Leben eines Löwen und eines Wolfs.« Im Hinblick auf exotische Nahrungsmittel und regionale Produkte merkte er an:»Man sollte nicht aus Gier nach fernen Gütern die nahen gering achten, sondern bedenken, dass auch diese einmal zu den sehnlich erwünschten gehört haben.«

1850 schrieb der Philosoph und Anthropologe Ludwig Feuerbach noch in den Nachwehen der März-Revolution von 1848 den sozialkritisch gemeinten Satz: »Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm (…) bessere Speisen. (Denn:) Der Mensch ist, was er isst.« Feuerbach setzte sich vehement für eine »neue Philosophie« ein, die die Wahrheit der Sinnlichkeit »mit Freuden und mit Bewusstsein« anerkennen sollte. Er wehrte sich gegen die philosophische Konstruktion eines Gegensatzes von Vernunft und Sinnlichkeit. Je nach Situation konnte diese Sinnlichkeit, ähnlich wie bei Epikur, im Wein und im Wasser, in Gänseleberpastete, Gerstenklößen oder der »schwarzen Suppe der spartanischen Enthaltsamkeit« gefunden werden. Auch das »trockene Brot der Pflicht« könne zum Leckerbissen werden, wenn man hungrig genug sei. Feuerbach sah in der Ernährung den Anfang aller Existenz und in der Nahrung den Anfang aller Weisheit. »Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zur Freude des Magens.« Er sah in der umgebenden Natur, die wir uns einverleiben müssen, ein »zweites, umweltleibliches Ich«, das es zu achten, schätzen und behutsam zu pflegen gelte.

Der französische Philosoph Michel Serres merkte 1985 an: »Es wird ein wenig zu schnell vergessen, dass Homo sapiens zunächst den bezeichnet, der Sapor, also Geschmack, hat, dem der Geschmackssinn wichtig ist, das schmeckende Tier, und erst dann den, der durch Urteilskraft, Verstand oder Weisheit zum Menschen geworden ist, den sprechenden Menschen. (…) Die Weisheit kommt nach dem Geschmack, sie kann nicht ohne ihn kommen, aber sie vergisst ihn.«

Unterstützung für die philosophische Bedeutung des »Homo Sapor« kam aus anderen Wissenschaften. So zog der britische Zoologe und Neurophysiologe John Z. Young 1968, aufgrund seiner tierexperimentellen Untersuchungen in einem Vortrag über den »Einfluss des Mundes auf die Evolution des Gehirns« die Schlussfolgerung: »Die Tatsache, dass Gehirn und Mund sich beide am selben Ende des Körpers befinden, ist nicht so trivial, wie es scheint.« Dann wurde er grundsätzlicher: »Kein Tier kann ohne Essen leben. Die logische Konsequenz daraus ist, dass die Nahrung den wichtigsten Einfluss auf die Entwicklung der Organisation des Gehirns und des Verhaltens hat, das die Gehirnorganisation vorschreibt

Als John Z. Young dies anmerkte, war das Interesse an der Hirnforschung noch kaum verbreitet. Erst dreißig Jahre später begann eine intensivere Beschäftigung mit dem Geruchs- und Geschmackssinn Fahrt aufzunehmen. Dies hing mit neuen molekularbiologischen und gentechnischen Untersuchungsmöglichkeiten sowie mit neuen bildgebenden Techniken wie Computertomografie und Magnetresonanz zusammen. Heute sprechen Forscher davon, dass der Geschmack sich aus dem Zusammenspiel sinnlicher Wahrnehmungen sowie deren Interpretation zu einer Gestalt im Gehirn entwickle. Der Philosoph und Gastrosoph Harald Lemke prägte den Begriff der »Essthetik« für den seiner Ansicht nach »organlosen Sinn« des Geschmacks, der sich nicht ausschließlich über die Sinnesphysiologie beschreiben lasse. Für ihn ist Schmecken eine andere Art des Erkennens.


Geschmack bezieht viele Sinnesqualitäten zugleich mit ein.

Der französische Jurist und Geschmacksphilosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin schrieb 1826 in seiner Physiologie des Geschmacks: »Man kann alle Arten von Gemeinschaften um den Tisch versammelt finden: Liebe, Freundschaft, Familie, aber auch Geschäft, Spekulation, Macht, Aufdringlichkeit, Vorsitz und Schirmherrschaft, Ehrgeiz und Intrige. All diese Gäste am gemeinsamen Essenstisch allem ein sozialer Sinn ist. In allen Kulturen nehmen Gastmahle eine wesentliche gemeinschaftsstiftende Funktion ein. Der Soziologe Norbert Elias hat ausführlich über die Bedeutung des Essens für die Entwicklung der modernen Zivilisation gearbeitet. Jeder weiß, welche wichtige Rolle Manieren, Sitten, Höflichkeit, aber auch Ekelgefühle »bei Tisch« haben. Gemeinsames Essen dient darüber hinaus als Erinnerung an Opfergaben oder zu religiösen Ritualen, man beeinflussen, wie es uns schmeckt. Die Herausforderung besteht also darin, die Nahrung untereinander zu teilen und so vielleicht durch den gemeinsamen Genuss des Essens friedlichere Lösungen zu finden.« Auch die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Diane Ackerman betont, dass der Geschmackssinn vor denke an Tauffeiern und Leichenschmaus, sowie zu Nationalgerichten oder der Pflege von traditioneller, lokaler Küche.

Geschmack und Essen sind vielfach mit Erinnerungen, Situationen, Belohnungen und Verboten verbunden. Auch wenn die Grundrichtungen unseres Geschmacks (süß, salzig, sauer oder bitter) angeboren sind, so werden sie von ersten Erfahrungen an der Mutterbrust, über »Szenen am Esstisch« der Familie, kulturelle Sitten der Gesellschaft, nicht zuletzt von modernen Esspraktiken infolge der industriellen Nahrungsmittelproduktion anerzogen, erlernt und bleiben veränderbar.

Die Entfaltung des Geschmacks beim Essen braucht Zeit und Lust. Seine sinnlichen Dimensionen und verführerischen Qualitäten stehen häufig am Anfang des Kennenlernens von Liebespaaren. Eine Einladung zum Essen wird zum Vorspiel »für mehr«. Im Austausch von Speichel durch Zungenküsse wird die Intimität der eigenen Mundhöhle gemeinsam geteilt.

In der biblischen Geschichte werden Adam und Eva durch die Verführung des verbotenen Apfels zum Sündenfall gelockt. Die Einverleibung des Verbotenen führte bekanntlich zu ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Heute kennen wir sinnesphysiologische Verbindungen des Geschmackssinns mit den leicht »verführbaren« Hirnzentren von Motivation und Belohnung. Diese lassen sich durch raffinierte Geschmacksverstärker, Aromen und Werbekampagnen gezielt »reizen«. Wer diesen Verführungen zu oft und zu intensiv erliegt, dem bereiten sie mögliche neue Qualen, worauf die rasch zunehmenden »neuen Epidemien« von Übergewicht und Diabetes in Industriegesellschaften hinweisen. Bertolt Brecht hat geschrieben, dass erst das Fressen komme und dann die Moral.

Der Geschmackssinn und die Ernährung können nicht losgelöst von technologischen Entwicklungen wie maschinelle Bodenbearbeitung, Pflanzenzucht, Weidehaltung, Massentierzucht, Fermentierung, Lagerung, Tiefkühltechniken oder komplexe Transportwege diskutiert werden. Mit deren Hilfe ist es in vielen Teilen der globalisierten Welt gelungen, die Ernährung großer Teile der Bevölkerung ausreichender zu gestalten.

Metaphern des Geschmacks

Im Alltag benutzen wir ein reichhaltiges Vokabular für das Schmecken. Sprachwissenschaftler eines Forschungsprojekts der Universität Zürich haben seit 2008 einen riesigen »Geschmackswortschatz« zusammengestellt. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf Geschmacksqualitäten, sondern auch auf die Geschmacksintensität (würzig, mild, pikant, fad), darauf, wie sich eine Speise im Mund anfühlt (cremig, knusprig, knackig) sowie auf Überschneidungen von Geschmäckern oder vielfältige, vergleichende Umschreibungen wie »es schmeckt wie …«. Es wird deutlich, dass Geschmacksbezeichnungen vielschichtige Bedeutungen haben, unterschiedliche Assoziationen wecken, oft vage bleiben und dadurch viele Möglichkeiten der Verführung in der Werbung eröffnen. Ein typisches Beispiel ist der Begriff »frisch« im Zusammenhang mit Geschmack und Nahrungsmitteln. Er genießt uneingeschränkte Sympathie und umspannt ein weites sprachliches Bedeutungsfeld.

Umgangssprachliche Anwendungen des Wortes »süß« bewegen sich im Umfeld von Wohlgeschmack und Freude. Wir sprechen vom »süßen Leben« (im Italienischen von »la dolce vita«), von Momenten, die uns das Leben »versüßen«, vom »süßen Schlaf« und »süßen Traum«. Partner verwenden den Kosenamen »Süße/-r«. Manchmal kann das Ganze »zuckersüß« oder »süßlich« werden, wenn zu viel »Süßholz geraspelt« wird. Sowohl Liebe als auch Rache können in unserer Sprache »süß« sein. »Süß« kann aber auch eine negative Bedeutung haben im Sinne von geziert, weichlich, fad oder klebrig.

Redewendungen, die sich auf »salzig« beziehen, verweisen darauf, dass »dem Leben ohne Salz die Würze fehlt«. In der Bergpredigt sagte Jesus seinen Jüngern, dass sie »das Salz der Erde« seien. Salz gilt in vielen Kulturen als Symbol für Freundschaft und Treue. In früheren Zeiten war Salz auch ein Zahlungsmittel und eine sogenannte Primitivwährung. Salz war Ausdruck von Reichtum und Macht. Römischen Legionären wurde zusätzlich zu ihrem Sold Salz als »Salär« (lat. »salarium«) ausgezahlt.

Salz kommt wie Aphrodite aus dem Meer und birgt Anspielungen auf Sexualität, wie das »Salz auf deiner Haut«. Es fördert Geschmack, wo ansonsten manches fad und geschmacklos bliebe. Aber es gibt auch »gesalzene Preise«, Situationen in denen man jemandem »die Suppe versalzt« und »salzige Tränen« fließen. Salz zu verstreuen bewirkte in manchen Kulturen Angst vor drohenden Katastrophen. Im Mittelalter galt Salz als probates Mittel, um Hexen zu vertreiben, wobei man zum Schutz Salzkörner über die linke Schulter warf. Über die Möglichkeit des Verrats durch verstreutes Salz wurde hinsichtlich des von Judas umgeworfenen Salzstreuers spekuliert, wie ihn Leonardo da Vinci auf seinem berühmten Bild vom »Letzten Abendmahl« dargestellt hat. Der Literaturwissenschaftler Thomas Straessle hat eine umfangreiche Enzyklopädie über das Salz geschrieben, in der er über dessen Vorkommen als Medium und Gabe in Magie, Glauben und Sprache berichtet. Er zitiert die Dichterin Ricarda Huch: »Der Mensch kann, das wissen wir, ohne Salz nicht leben; aber ein Gericht aus purem Salz wäre tödlich.« In manchen Traditionen waren der zeitweilige Verzicht auf die Würze des Salzes und die bewusste Betonung der »Fadheit« (»blandness«) eine wichtige Weisheitsübung, wie dies der Philosoph François Jullien für das alte China beschreibt: »Der Weise genießt das Geschmacklose (wei wuwei) und beschäftigt sich mit ›Nichthandeln‹.«

Sauer macht nicht nur lustig. Wer »sauer ist«, kann heftig reagieren. Etwas »sauer Verdientes« ist mit großer Mühe verbunden. Sauer wird in Zusammenhang mit ärgerlich, beschwerlich, böse, beleidigt, eingeschnappt sein verstanden. Etwas kann »sauer aufstoßen«, macht uns »stinksauer«, etwas anderes »versauert« oder man ist »angesäuert«. Mühsam, unerfreulich und missmutig muss man notgedrungen in einen »sauren Apfel beißen«, macht dazu ein »saures Gesicht« oder »gibt jemandem Saures«.

Bitterer Geschmack weckt die Assoziation potenziell giftiger Nahrungsmittel. Ein »bitterer Nachgeschmack« kann Ausdruck davon sein, dass eine »bittere Wahrheit« ausgesprochen wurde. Jemand ist »verbittert«, macht »bittere Erfahrungen« und schluckt »bittere Arzneien« oder fürchtet »erbitterte Feindschaften«. Bitter leitet sich vom mittelhochdeutschen »bitta« – »beißend, scharf« ab. Es stellt eher einen herben, für manchen fast schmerzlichen Geschmack dar. Galle ist bitter. »Bitterlich« kann für abscheulich, ekelhaft, grässlich, betrüblich, spöttisch und zynisch stehen. Manches nimmt ein »bitteres Ende«, jemand wird »bitterböse«, man kann etwas »bitter bereuen« oder »bitter nötig« haben. Eine ungewöhnliche Mischung stellt das Wort »bittersüß« dar, das die gleichzeitige Mischung aus guten und schlechten Erfahrungen zum Ausdruck bringt.

Der Mund, durch den die Nahrung in uns gelangt, hat im Volksmund viele Bezeichnungen wie Maul, Klappe, Schnauze, Schnute oder Fresse. Man kann jemandem »nach dem Mund reden«, »über den Mund fahren«, jemand hat ein großes »Mundwerk«, man kann jemandem »Honig ums Maul schmieren« oder »das Maul aufreißen«. Ein anderer steht »mit offenem Mund« daneben. Eine Gaumenfreude »mundet«. Die Art und Weise, etwas in den Mund zu nehmen oder zu essen, kann ruhig und bedächtig sein, während andere etwas in sich hineinstopfen und herunterschlingen. Unangenehmes und Unausgesprochenes kann man in sich »hineinfressen«. Der Mund wird poetisch beschrieben als »der Platz, an dem wir die Welt begrüßen«, als das »Tor des Körpers« oder als »Salon des großen Risikos« (Diane Ackerman).

Im Mund, als einer der intimsten Zonen des Körpers, befindet sich die Zunge. Mal ist diese Ausdruck von Provokation und Ekel, mal kann die Zunge Lust anzeigen und lüstern wirken. Die Zunge kann »schwer sein« oder »sich lösen«. Es kann einem etwas »auf der Zunge liegen«, was man aber nicht ausspricht. Manchmal möchte man sich »auf die Zunge beißen«, und man muss »seine Zunge hüten« oder »im Zaum halten«. Man kann »das Herz auf der Zunge tragen« oder etwas »mit Engelszungen« ausdrücken.

Den oberen Teil der Mundhöhle, den Gaumen, kennen wir im Zusammenhang mit »Gaumenfreuden« und einem »feinen Gaumen«. Was Appetit macht, kann »den Gaumen kitzeln«, gutes Essen kann zu einem »verwöhnten Gaumen« beitragen. Auch die Geräusche, die beim Essen entstehen, das Schmatzen und Schlürfen, das Knacken und Knuspern (»Ohrenschmaus«) tragen zum Geschmack bei, ebenso wie Farben und Formen, die das Essen zur »Augenweide« machen. Der Geschmacksphilosoph Brillat-Savarin hat davon gesprochen, dass beim Schmecken »der Mund die Küche« und »die Nase der Schornstein« sei. Geschmacksempfindungen werden zusammen mit den Riechorganen wahrgenommen. Die letztendliche Bewertung dessen, was in Mund, Gaumen oder der Nase gefühlt wird, findet durch Vergleiche auf der Ebene des Gehirns statt.

Die Sinnesphysiologie des Geschmacks

Gegessen wird mit den Sinnen, ernährt mit dem Verstand.

Johann Wolfgang von Goethe

Evolutionär hat der Geschmackssinn eine entscheidende Rolle für Nahrungssuche und Nahrungsauswahl, vor allem für die Unterscheidung von essbaren oder giftigen Nahrungsmitteln. Bei hochentwickelten Lebewesen wie den Menschen, die sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrung zu sich nehmen, brachte dies eine strukturelle Weiterentwicklung ihrer Hirnstrukturen mit sich, insbesondere von größeren Hirnarealen für die Nahrungsbewertung.

Die Zunge dient als Wegweiser für die Genießbarkeit oder die Gefahren der Nahrung. Sie zeichnet sich durch ihre große Beweglichkeit aus. Dabei kann sie sich zum einen durch das Zusammenspiel von inneren Zungenmuskeln stark verformen und zum anderen durch äußere Zungenmuskeln in alle Richtungen bewegt werden. Dies macht eine mechanische Prüfung der aufgenommenen Nahrung und eine umfassende Inspektion der Mundhöhle möglich.

Bereits im 18. Jahrhundert begann man, die Schleimhaut der Zunge zu erforschen. Die dort vorhandenen Erhebungen, die Papillen, haben verschiedene Formen. Durch Einfaltungen der Papillenstruktur wird die Oberfläche der Zunge erheblich vergrößert. Ein Teil dieser Papillen ermöglicht subtile Tastempfindungen. Eine andere Gruppe sind die Geschmacksknospen, die mit Geschmacksnerven verbunden sind. Diese pilzförmigen Papillen können ihrerseits ebenfalls Tast- und Temperaturempfindungen registrieren. Hinzu kommen Wallpapillen, die mit ihren Spüldrüsen die Zunge befeuchten.


Zungenquerschnitt mit Papillen und Geschmacksknospen.

Zahlreiche Speicheldrüsen sorgen dafür, dass die Geschmackspapillen immer wieder gereinigt werden und für neue Empfindungen zugänglich sind. Die Zahl der Geschmacksknospen ist bei Neugeborenen am höchsten (ca. 10 000) und nimmt im Laufe des Lebens langsam ab (bis auf ca. ein Fünftel im hohen Alter). Dabei haben Arzneimittel wie Penicilline, das Parkinson-Mittel L-Dopa, Krebsmedikamente sowie Zigarettenrauch einen negativen Einfluss, der nach dem Absetzen wieder zurückgehen kann. Studien schätzen, dass etwa ein Viertel aller Menschen über fünfzig Jahre unter einem verringertem Geschmacksempfinden (Hyposmie) und etwa ein Drittel der Menschen über siebzig Jahre unter starkem oder komplettem Verlust (Anosmie) leiden. Ältere Menschen leben in einer anderen »Geschmackswelt« als jüngere.

Geschmacksknospen enthalten etwa 20 bis 50 Sinneszellen. Durch winzige Öffnungen an der Oberfläche der Geschmacksknospen können die Nährstoffe, die zuvor von den Zähnen zerkleinert und mit Speichel durchmischt wurden, in diese eindringen. Dort werden sie von Sinneszellen, den Geschmacksrezep torzellen, registriert. Solche Zellansammlungen befinden sich neueren Untersuchungen zufolge in geringer Zahl auch im Gaumen, Rachen, Kehlkopf und oberer Speiseröhre.

Die Sinnesphysiologie hat den chemischen Sinnen, dem Riechen und Schmecken, zu Beginn relativ wenig Beachtung geschenkt. Dies lag auch daran, dass die technischen Voraussetzungen zu ihrer Erforschung noch wenig entwickelt waren. Über viele Jahre gab man sich mit relativ einfachen Erklärungen zufrieden. 1901 publizierte der Berliner Physiologie David Paul Hänig ein Buch mit Experimenten zur Psychophysik des Geschmackssinns. Darin veröffentlichte er Beobachtungen, die er dadurch gewonnen hatte, dass er Institutskollegen unterschiedlich konzentrierte Lösungen von Zucker, Kochsalz, Salzsäure und Chinin auf die Zunge gepinselt hatte. Zugleich hatte er notiert, welche spezifischen Lösungskonzentrationen seine Kollegen gerade eben noch auf bestimmten Bereichen ihrer Zunge schmecken konnten. Diese »Schwellenwerte für geringste Konzentrationen« zeichnete er auf »Zungenkarten« ein. Zusammenfassend bemerkte er, dass sich die »spezifischen Endapparate des Geschmackssinns« auf den Zungenrand verteilten, wo ihre Wahrnehmung am größten war.

Vierzig Jahre später fiel seine experimentelle Arbeit dem amerikanischen Sinnesphysiologen Edwin Boring in die Hände. Dieser versuchte, den Text ins Englische zu übersetzen. Um dem Ganzen einen zeitgemäßen, wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen, übertrug er Hänigs Angaben in eine Schaugrafik. Dabei verstand er den deutschen Begriff »Schwellenwerte« falsch und übersetzte ihn mit »sensitivity« (Empfindlichkeit) Zudem fertigte er eine scheinbar »bessere Zungenkarte« mit festgelegten Bereichen für »süß, sauer, salzig und bitter« an. Diese Karte wurde über die nächsten 50 Jahre Wissenschaftler und Schulkinder gelehrt. Erst Anfang der 90er-Jahre konnten Untersuchungen der Zunge zeigen, dass prinzipiell alle Geschmacksqualitäten in allen Zungenbereichen wahrnehmbar sind, allerdings, wie auch schon Hänig festgestellt hatte, in unterschiedlicher Intensität. Die berühmte »Zungenkarte« von Boring war durch einen Übersetzungsfehler für viele Jahre zum wissenschaftlichen Mythos geworden.

Durch neue technologische Möglichkeiten der Mikrobiologie und der Gentechnologie konnte seit den 1990er-Jahren eine genauere Untersuchung der Geschmacksrezeptoren erfolgen. Dabei entdeckte man, dass das sogenannte gustatorische Epithel (die Schleimhaut der Zunge) zu den wenigen menschlichen Organen gehört, die sich vollständig regenerieren können. Die Geschmacksrezeptoren der Zungenoberfläche weisen Eiweiß bindende Rezeptoren und Ionenkanäle auf, die die Geschmacksstoffe identifizieren. Deren Geschmackssignale binden sich an spezifische Rezeptoreiweiße und führen zur Freisetzung von Neurotransmittern (Botenstoffen der Nerven), die anschließend elektrische Signale in die Hirnnerven 7, 9 und 10 (Fascialis, Glossopharyngeus und Vagus) weiterleiten.


Die vier klassischen Geschmacksrichtungen auf der Zunge, kartiert von D. P. Hänig (1901).

Die Signale der Geschmacksrezeptoren werden danach in Umschaltstationen einerseits zum Brückenhirn und zu Strukturen weitergeleitet, wo sie automatische, weitgehend unbewusste Gefühlsregungen auslösen. Der andere Teil der Informationen wird über die Hirnstrukturen des Thalamus und der Inselregion zum Großhirn fortgeleitet. Dort provozieren sie bewusstseinsfähige Qualitäten von Aufmerksamkeit und Bewertung, Erfahrungen von Belohnungen und Entscheidungsmöglichkeiten. Von der Wahrnehmung bis zur Bewertung des Geschmacks laufen in Sekundenbruchteilen komplexe physiologische und biochemische Prozesse ab.

Seit einigen Jahren ist der japanische Begriff »Umami« hinzugekommen. Dieser bedeutet so viel wie »schmackhaft, würzig oder wohlschmeckend«. Umami wurde als Geschmacksrichtung Anfang des 20. Jahrhunderts vom japanischen Physiologen Kikonae Ikeda entdeckt. Sie ist mit einem süßlichen Geschmack verwandt und bezieht sich im Wesentlichen auf Glutaminsäure. Als Geschmack dominiert Umami in Lebensmitteln wie reifen Tomaten, manchen Fleisch- und Pilzsorten, in ausgereiften Käsesorten wie Parmesan, in Sojasoße, Hefeextrakten oder in Geschmacksverstärkern wie »Maggi«. Manche Forscher gehen davon aus, dass Umami ein wesentlicher Bestandteil des Geschmacks von Muttermilch ist. Inzwischen wurde zudem festgestellt, dass alle Geschmacksknospen sich in ihren Wahrnehmungen austauschen können.

In den letzten 25 Jahren hat sich die Geschmacksforschung enorm weiterentwickelt. Dies hängt mit dem großen Interesse der Nahrungsmittelindustrie zusammen. Dadurch, dass wir die Nahrung erst mechanisch mit Zunge und Gaumen im Mund berühren und erkunden, dominiert subjektiv die Geschmacksempfindung als im Mund befindlich. In der deutschen Sprache verwenden wir meist nur einen Begriff für Geschmack. In der Forschungswelt hat sich inzwischen eine Zweiteilung des Geschmacks in »taste« und »flavour« eingebürgert. Der Begriff »taste« leitet sich vom lateinischen »taxare« ab. Er nimmt Bezug auf »berühren und prüfend bewerten«. Hierauf weisen auch die deutschen Begriffe »schmecken, kosten oder probieren« hin. Der zweite Geschmacksbegriff »flavour« leitet sich vom lateinischen Wort »flatus« (blasen) ab. Es deutet auf Empfindungen des Geschmacks hin, die mit dem Geruch in Verbindung stehen. Heute wird »flavour« als Gesamteindruck oder Geschmacksgestalt gesehen. Im Englischen wird »flavour« mit Begriffen wie Atmosphäre, Gefühl, Charakter, Ausstrahlung, Neuigkeit, Mode und manchmal auch Illusion verbunden. Diese Assoziationen haben besondere Bedeutung für Nahrungsmittelaromen.

Der Geschmackssinn wird inzwischen als »gustatorisches System«, (lat. »gustus«, Geschmack) bezeichnet. Man geht von einer »multisensorischen Wahrnehmung« aus, bei der sich unterschiedliche Sinne in einem Geschmacksgemisch verbinden. Dazu gehören mechanische und Wärmereize im Mundbereich, die die Konsistenz, Feuchtigkeit, Flüssigkeit oder Temperatur der Nahrung prüfen, sowie »zusammenziehende« Reize bis hin zu möglichen Schmerzreizen. Diese Empfindungen werden unter dem Begriff »mouthfeel« (Mundgefühl) zusammengefasst. Hinzu kommen Geruchswahrnehmungen der Aromastoffe der Nahrung. Diese werden vor der Nahrungsaufnahme durch die Nase und nach der Nahrungsaufnahme durch Duftstoffe im Gaumen-Nasen-Bereich aufgenommen. Jeder kennt den Rückgang des Geschmacksempfindens bei einer verstopften Nase. Riechen hat eine Schlüsselrolle beim Geschmack. Allerdings sind dem Geschmacksforscher Charles Spence zufolge die in diesem Zusammenhang genannten Prozentwerte von 80 bis 90 Prozent Geruchsanteil fraglich.

Hinsichtlich des Einflusses der Farben von Nahrungsmitteln auf den Geschmack scheint eine automatische Bewertung zu bestehen. Das Auge isst mit. Rot wird mit Reife und Süße in Verbindung gebracht, Gelb mit sauren und Grün mit bitteren Eigenschaften. Diese »synästhetischen Qualitäten« (griech. »synasthanomai«, mitempfinden, zugleich wahrnehmen) der Farben werden meist unbewusst hergestellt. Wie stark der Seheindruck ist, darauf hat eine Studie von französischen Weinexperten hingewiesen. Dabei wurde fünfzig Probanden erst ein Weißwein und dann ein Rotwein zur Testung vorgelegt. Sie umschrieben ihre jeweiligen Geschmacksempfindungen mit »fruchtig, lycheeartig, zitronig« für die Weißweine beziehungsweise »schokoladig, beerenartig oder rauchig« für die Rotweine. Das dritte Glas, das ihnen zum Test gegeben wurde, war wieder Weißwein, aber diesmal mit einem neutralen Farbstoff in die Rotweinfarbe umgefärbt. Überraschenderweise wählten die meisten Testpersonen auch diesmal ihre früheren geschmacklichen Charakteristika für die Rotweine (Gil Morot).

Zunehmend wird auch den beim Essen auftretenden Geräuschen Beachtung geschenkt. Sie gelten weitgehend als »vergessener Teil des Geschmackssinns«. Sie werden seit einigen Jahren unter Mithilfe der Neurowissenschaften und Psychophysik untersucht. Vor allen Dingen »knusprige«, »knackige«, »krosse« oder »sprudelnde« Geräuschempfindungen werden mit »Frische« verbunden. Der »Biss« der Nahrung, ihre wahrgenommene Konsistenz, ihre Feuchtigkeit oder Trockenheit werden von Geräuschwahrnehmungen begleitet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich eine interdisziplinäre Forschung entwickelt, die sich Gastrophysik nennt.

Während die Prüfungen der evolutionären Geschmackssinne in fortgeschrittenen Zivilisationen weitgehend durch staatliche Lebensmittelkontrollen von schädlichen oder giftigen Substanzen ersetzt worden ist und der Bereich der Geschmackswahrnehmung für subtilere Verführungstechniken der Nahrungsmittelindustrie benutzt wird, bleiben weltweit weiterhin etwa eine Milliarde Menschen starken Nahrungsmittelunsicherheiten und Gefährdungen ausgesetzt. Für sie sind ihre Geschmackssinne immer noch von überlebensnotwendiger Bedeutung.

Ökologische und kulturelle Beeinflussungen des Geschmacks

Neben der für alle biologisch gleichen Ausrüstung des »gustatorischen Systems« wird der Geschmackssinn von vielen Faktoren beeinflusst. Die »ökologische Nische«, in der Menschen aufwachsen, das Klima und die darin wachsenden Nahrungsmittel sowie die soziale Situation nehmen erheblichen Einfluss. Im Rahmen des »epigenetischen Geschehens« als der generationenübergreifenden Weitergabe von genetischen Informationen der Menschen wird davon ausgegangen, dass Geschmacksrezeptoren in den Regionen dieser Welt unterschiedlich strukturiert sein können. Dies bedeutet, dass das Empfinden von Geschmacksqualitäten sich regional sehr unterscheiden kann. Hinzu kommt, dass die kulturelle Art der Nahrungszubereitung großen Einfluss hat. Geschmack ist erlernt und verbunden mit Vorlieben, persönlichen Erinnerungen, Bewertungen und Erwartungshaltungen. Ähnlich wie die Sexualität bezieht auch das Essen alle Sinne mit ein. Dementsprechend lässt sich der Geschmackssinn leicht verführen. Bekanntlich geht »Liebe durch den Magen«.

Die Nahrungsmittelindustrie hat dieses Verführungspotenzial in den letzten Jahren intensiv untersucht und genutzt. Dies beginnt bei der Verpackung der Nahrungsmittel. Dabei spielt die demonstrative Verwendung von Begriffen wie »frisch« und »Energie spendend« eine prominente Rolle. Das »sensorische Marketing« setzt gezielt auf Farben, Formen und Geräusche und adressiert die sinnenübergreifenden Interaktionen. Werbung spricht den »visuellen Hunger« durch die optische Präsentation von Gerichten auf der Verpackung gezielt an. Das Ganze wird multimedial verbunden mit Kochshows, Foodblogs und raffinierten Kochbüchern. In der Umgangssprache ist von »Foodporn« oder »Gastroporn« die Rede, in denen die virtuelle Darstellung von Nahrungsmitteln stellvertretend zur Völlerei einlädt und manchem »das Wasser im Mund« zusammenläuft. Untersuchungen zeigen, dass Übergewichtige oder Menschen, die unter Bulimie und Heißhunger leiden, deutlich stärker auf diese Werbung reagieren.

Eine besondere Rolle nehmen die aromatischen Zusatzstoffe ein. Zu Beginn waren die meisten Aromen natürliche Stoffe. Diese natürlichen Stoffe sind jedoch teuer und wenig haltbar. Deshalb galt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein besonderes Interesse in der chemischen Forschung der Frage, wie man aromatische Geruchsstoffe synthetisch herstellen kann. Bereits 1874 wurde Vanillin synthetisiert. Heute ist dieses weltweit der populärste Aromastoff. Es gibt prinzipiell keine molekularen Unterschiede zwischen dem Naturprodukt Vanille und dem synthetischen Vanillin. Insgesamt ist die Menge der Aromastoffe, die verarbeiteten Nahrungsmitteln zugesetzt wirde, relativ gering. In den meisten Fällen sind sie für die Gesundheit unbedenklich. Heute werden etwa der Hälfte aller Lebensmittel Aromastoffe zugesetzt. Etwa 3000 Stoffe zur Aromaherstellung sind bekannt. Dabei werden zusehends mehr exotische Aromastoffe entwickelt und mit wohlklingenden Pflanzennamen versehen. In dieser Hinsicht ist »flavour« auch ein kognitiver Bewertungsmechanismus. In gewisser Weise kann man sagen, dass das milliardenschwere Geschäft mit Aromastoffen auf der gezielten Täuschung unserer Sinne beim Essen beruht. Vor einigen Jahren hat das amerikanische Magazin The New Yorker einen spannenden Einblick in die hermetische Welt der Aromaentwickler gegeben (R. Khatchadourian).

Ein erhebliches Problem für die Nahrungsmittelindustrie ist die von den Gesundheitsbehörden intensiv geforderte Herabsetzung der Mengen von Zucker, Salzen und Fetten in Produkten. Der Versuch, dem nachzukommen, erwies sich als ein interessantes »Verbraucherproblem«. Dadurch, dass die Industrie den Gehalt an diesen potenziell gesundheitsschädlichen Substanzen deutlich vermindert hatte, veränderte sich der Geschmack ihrer angebotenen Produkte so, dass viele Verbraucher diese deutlich weniger kaufen wollten. Hier sprang die Aromaforschung ein, indem sie half, die »gewohnten Sinneseindrücke« durch geschickte Aromakombinationen wieder in Erinnerung zu rufen. Aromatische Geschmacksentwickler interessieren sich für die konservativen Geschmacksvorlieben der Menschen und setzen sie der Illusion aus, das Gewohnte beibehalten zu können. Ohne Aromamittel könnte auch die Fast-Food-Industrie nicht in der gleichen Weise florieren. Das Food-Engineering hilft, darüber »hinwegzuschmecken«, dass viele industriell zubereitete Nahrungsmittel eine Ansammlung von sehr unterschiedlichen Komponenten sind.

Auf die Frage »Wonach suchen Sie Lebensmittel aus?« antworteten die deutschen Konsumenten in einer Umfrage des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft 2017 fast alle (97 %), dass sie einkaufen, was ihnen schmeckt. Etwa drei Viertel der Befragten legte Wert auf regionale Lebensmittel. 57 Prozent der Befragten gaben an, dass es preiswert sein müsse. 45 % bevorzugten bestimmte Marken und nur 35 Prozent gaben an, sich an bestimmten Gütesiegeln zu orientieren. Hinsichtlich der Erprobung neuer Produkte gaben nur 31 Prozent eine positive Auskunft.


Die alte Todsünde der Völlerei. Illustration zu: François Rabelais, Gargantua. Holzstich von 1854.

»Ich kaufe was mir schmeckt« – dies bedeutet für die Lebensmittelherstellung eine große Herausforderung – gleichzeitig konservative Geschmäcker zu befriedigen sowie neue Geschmacksrichtungen zu entwickeln und zu vermarkten. Bei aller Kritik und der notwendigen Unterstützung regionaler Produkte sollte nicht vergessen werden, dass die Technologisierung der Lebensmittelproduktion und der Lebensmittelverarbeitung wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Grundversorgung auch der ärmeren Bevölkerungsschichten mit Lebensmitteln in den Industrieländern weitgehend gesichert werden konnte.

Eine besondere Rolle spielt die massive industrielle Produktion von Zucker. In den Industrieländern ist der Zuckerverbrauch pro Kopf heute 25 x höher als im 18. Jahrhundert. Weltweit hat sich der Zuckerkonsum deutlich erhöht (J. McQuaid). Dabei steigt er vor allem in einigen Schwellenländern an, während er in der EU und den USA etwas rückläufig ist. Durch die süße Verführung des Geschmackssinns hat sich unter der Hand eine Gewöhnung ergeben, die dazu führt, dass Bundesbürger statistisch im Schnitt in der Nahrung 24 Teelöffel Zucker pro Tag zu sich nehmen und US-Bürger sogar 40 Teelöffel pro Tag. Die Welt unternimmt momentan ein riesiges »süßes Experiment«, mit den bekannten Folgen von global wachsenden Übergewichtsproblemen und den rasch ansteigenden Zahlen von Diabetes mellitus. Aber auch die Salzwürze, die viele Geschmacksrichtungen betont, hat sehr hohe Verbrauchsformen angenommen.

Spezifische Genussstoffe wie Tee, Schokolade oder Kaffee sind heute überall vorhanden und werden als Freizeit- und Verführungsprodukte massenhaft genossen. Bei diesen Nahrungsmitteln gibt es in den Medien viele Warnhinweise hinsichtlich des überzogenen Verzehrs. Diese fruchten aber wenig, wenn man sich nicht selber für einen bewussteren Umgang mit Lebens- und Genussmitteln entscheidet.

Die Verbindung von Nahrungsmitteln und möglichem Übergenuss hat schon immer Diskussionen um Völlerei und Diäten mit sich gebracht. Bereits Epikur von Samos schrieb im 3. vorchristlichen Jahrhundert: »Nicht der Bauch ist unersättlich, wie die Leute meinen, sondern die falsche Vorstellung vom unbegrenzten Anfüllen des Bauches.« Als Oberarzt einer Essstörungsabteilung habe ich Erfahrungen damit gemacht, wie schwierig Veränderungen in den Essgewohnheiten sein können. Dabei tauchten alle Problematiken von heimlicher Verführung, heimlichem Genuss oder von gegenteiliger, asketischer Verweigerung in der Form von Magersucht auf. Geschmack und Essen sind eine Sache der Gewohnheit, die mit Ängsten belegt ist.

Über Götterspeisen, Gastmähler und Mahlzeiten

Angesichts der zentralen Bedeutung von Nahrung und Ernährung für das Überleben von Gemeinschaften war ihre symbolische Bedeutung immer groß. Dementsprechend hat das gemeinsame Darbieten und Opfern von Nahrung einen hohen Stellenwert in allen Kulturen und Religionen. Von den Maisgöttern der Azteken und Hopi-Indianer über Speisendarbietungen an die Götter, Geister und Ahnen im buddhistischen Kontext, den islamischen Ramadan, den Seder-Abend des jüdischen Pessach-Fests oder das christliche Abendmahl in der heiligen Messe und Kommunion finden sich weltweit kulturelle Essensrituale.

Die Art und Weise, wie die Nahrung gewonnen wird, wie geschlachtet und zubereitet wird (»halal« oder »koscher«), wie »was, wann und mit wem« verzehrt wird, nimmt Einfluss auf die Essensrituale. Gemeinsame Tischgebete finden sich in allen religiösen Traditionen. Ich bin in einer katholischen Großfamilie aufgewachsen. Tischgebete gehörten dort ebenso zur Regel wie der Verzicht auf Fleisch und das Essen von Fisch am Freitag oder der Empfang der Hostie bei der heiligen Kommunion. Als Messdiener nahm ich an frühmorgendlichen Feldprozessionen zur symbolischen Bitte um Fruchtbarkeit für die Felder teil. Brot zu brechen und untereinander zu teilen, gehört zu den rituellen Gesten verschiedener Kulturen. Ebenso auch der Leichenschmaus zur gemeinsamen Erinnerung an die Verstorbenen.

Nicht nur im religiösen Kontext, sondern auch im ethnischen und nationalen Zusammenhang spielt Essen eine besondere Rolle. Wir sprechen von »Nationalgerichten« und »Nationalgetränken«. Gerade in globalisierten Gesellschaften gibt es viele ethnisch bezogene Traditionen zur Pflege von Esstraditionen und Esskultur. Bisweilen werden damit Heimatorte oder Regionen, in denen man gewohnt hat, bewusst erinnert. Im Rahmen des Tourismus ist es wichtig, die Authentizität der regionalen Küche hervorzuheben.


Immer häufiger verzehren Menschen ihr Essen ohne Pausen vor dem Bildschirm.

Auch im Familienkontext werden kulturelle und sozial angeeignete Rituale von Essen und Geschmack betont. Die gemeinsamen Mahlzeiten der Familie sind wichtige Alltagsrituale: »Lasst es euch schmecken«, »gesegnete Mahlzeit«, »haut rein«. Gemeinsame Mahlzeiten im Familienkontext dienen auch zur Aneignung von Tischsitten und Essverhalten. Händewaschen, warten bis alle am Tisch sind, Essen unter den am Tisch sitzenden Familienmitgliedern aufteilen, das Essen nicht herunterschlingen, nicht schmatzen, nicht beim Essen reden, nicht mit den Fingern essen oder zu deutlich das Essen mit der Nase prüfen.

Die ursprüngliche private Weitergabe von Kochgeheimnissen und Kochrezepten ist inzwischen immer mehr an Kochbücher, Food-Blogs oder Fernsehkochshows delegiert worden. Die sozialen Veränderungen bedingen heute, dass Kinder ihr Frühstück in den Kitas oder in der Schule zu sich nehmen. Gemeinsame Mittagsmahlzeiten werden durch Kantinenessen und Fast Food zwischendurch ersetzt. Für viele Menschen ist Essen im Arbeitsalltag zum »Stressfaktor« geworden. Manche verzichten häufiger vom Frühstück bis zum Abendessen auf Nahrungsaufnahme oder stopfen sich vor dem Bildschirm rasch etwas in den Mund. Diese unregelmäßige Nahrungsaufnahme und die damit verbundene biologische Veränderung der Verdauung haben erheblichen Einfluss auf die zunehmenden Essstörungen, etwa in Form von Übergewicht.

Vom lokalen Anbau bis zur industriellen Produktion von Nahrungsmitteln

In den letzten zweihundert Jahren hat die Nahrungsmittelproduktion erhebliche Veränderungen erfahren. Maschinell unterstützter Anbau, Konservierung, Transport, Verpackung, Vermarktung und industrielle Produktion von Nahrungsmitteln haben in enormem Tempo zugenommen. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der ärmeren städtischen Bevölkerung ihren Kohlenhydratbedarf mit Getreide und Mehl, Bohnen und Erbsen und nur wenigen tierischen Nahrungsmitteln deckte, herrschte auf dem Land weitgehend Selbstversorgung. Die ärmeren Schichten in den Städten mussten damals drei Viertel ihres Lohns für Nahrungsmittel aufbringen.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann die systematische Nutzung der bis dahin eher gering geschätzten Kartoffeln. Die Zunahme von Schiffsverkehr und Eisenbahn sowie später des Transports durch Autos ermöglichten eine neue Logistik der Nahrungsmittelverteilung. Durch die Entwicklung der Lebensmittelchemie gelang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die industrielle Produktion von Fleischextrakt, Tütensuppen, Keksen oder Backpulver. Es entwickelten sich neue Möglichkeiten der Konservierung und Haltbarmachung. Ab den 1930er-Jahren waren Konserven in größerem Maße produzierbar. Das Kochgeschirr wurde ab den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts zusehends aus Aluminium hergestellt, und der Elektroherd ersetzte immer mehr den offenen Feuerherd. Elektrische Küchengeräte kamen ab Mitte der 50er-Jahre in größerem Maße in die Haushalte. Die Haltung von Lebensmitteln wurde in den 70er-Jahren explosionsartig durch die breite Einführung von Kühlschränken möglich. Verpackungsmaterialien in Form von Kunststoffen kamen zur Sicherung von Frische, Hygiene, Geruch und Geschmack in den Handel. Die industrielle Produktion übernahm beim sogenannten Convenience-Food auch das Säubern, Schälen, Häuten, Entkernen, Entgräten, Mischen, Würzen und Portionieren der Nahrungsmittel. Aus den USA breitete sich eine Welle des Fast Food in andere Länder aus. Als Reaktion darauf entwickelte sich ab den 1990er-Jahren eine größere Gegenbewegung zur Förderung von regionaler, biologischer, organischer und ökologischer Kost. Diese neuen, vor allen Dingen gesundheitsbezogenen Ernährungstrends wurden schrittweise von staatlichen Behörden aufgenommen. Entsprechende Veränderungen in der Zubereitung bereiteten der Nahrungsmittelindustrie erhebliche Schwierigkeiten.

Wo früher noch Kontakt mit dem Anbau und der saisonalen Verfügbarkeit und Zubereitung von Lebensmitteln bestand, geht heute durch die Globalisierung jeglicher sinnliche Kontakt zur Nahrungsmittelherstellung und -verarbeitung für immer mehr Menschen verloren. Lebensmittel gleichen für viele Menschen einem »energetischen Treibstoff«, der durch Supermärkte geliefert wird.

Lasst es euch schmecken

Diese verkürzt dargestellten Verbindungen zwischen Biologie, Kultur und Gesellschaft mit dem Geschmackssinn machen deutlich, dass Geschmack mehr ist als eine Frage der Sinnesphysiologie. Der Gastrosoph Harald Lemke hat den Begriff »essthetisch« für den seiner Meinung nach »organlosen Sinn für Geschmack« verwendet. Er nimmt Bezug auf den Geschmacksphilosophen Brillat-Savarin und dessen Aussage: »Die Geschmäcker sind unzählig, denn jeder lösliche Körper besitzt einen besonderen Geschmack, der keinem anderen ganz ähnlich ist.« Die Frage, welche und wie viele Geschmäcker wir wahrnehmen, hängt davon ab, mit welcher Aufmerksamkeit, mit welchen Erwartungen, mit wie viel Zeit und Genuss wir uns zu essen erlauben. Aus der Mischung von Sinnesempfindungen entsteht das, was durch das Wort »munden« vielleicht am besten ausgedrückt wird. »Munden« deutet darauf hin, dass die Augen mitessen, dass es ein Ohrenschmaus ist, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft, dass wir uns »vollmundig« von dem überraschen lassen, was sich im Mund an Köstlichkeiten entfaltet. Vielleicht gehört zu einem vollmundigen Essen bisweilen auch etwas weniger Sittsamkeit, sodass Schlürfen und Schmatzen oder ausgeprägte Bewegungen von Mund und Gesicht nicht zu schnell der guten Sitte zum Opfer fallen. Das genüssliche Essen mit Freunden, Familie, Kollegen, ja selbst mit Fremden könnte wieder mehr zum Erlebnis werden, das Gemeinschaft spendet. Wer etwas miteinander klären und lösen möchte, der wird »zu Tisch gebeten«, und man setzt sich gemeinsam »an einen Tisch«. Vielleicht können gemeinsam genossene Mahlzeiten sogar dazu beitragen, dass wir uns weniger bekriegen und mehr friedliches Miteinander finden.

Maßhalten und bewusst genießen

»Es ist also nötig, sich nach einem bestimmten Maß umzusehen. Als Maß aber, auf das man sich beziehen könnte, um Sicherheit über die Quantität und Qualität der Speisen zu gewinnen, wird man weder ein Gewicht noch eine Zahl noch etwas anderes finden, sondern nur das Gefühl des Körpers«, schrieb schon Hippokrates.

Ursprünglich prüft der Geschmackssinn die Genießbarkeit einer Nahrung. Wenn diese für gut befunden wird, dann kann sie zum Essen verführen. Essen soll den Hunger stillen und uns neue Lebenskräfte einverleiben. Ernährung und Lebensmittel gehören (neben Leibesübung und Ruhe, Klima, Sexualität, u.a.) zu den unverzichtbaren Grundelementen der gesundheitlichen Ordnungsvorstellungen (Diäten). Der Begriff »Diät« leitet sich von griech. »dieita«, Lebensweise, Lebenskunst ab. In der Tradition des Hippokrates wurde erstmals die Idee vertreten, dass nicht nur die Götter über Wohl und Wehe entscheiden, sondern dass die Menschen selber, durch ihre Lebensführung, mitbestimmen, wer Herr/Frau in ihren Körpern ist. Dementsprechend wichtig sei es im einfühlsamen Kontakt mit dem Körper zu sein und mit ihm das notwendige Maß für Tun und Lassen zu finden.

Prophylaxe und Prävention sind in die Ordnungsvorstellungen aller Heilkunden eingebunden. Diese beziehen sich auf die angenommenen »Kräfte« und »Energien« der Lebensmittel, deren saisonale Bedeutungen sowie ihre Kühlung oder Erwärmung, Befeuchtung oder Trocknung des Körpers nicht zuletzt auf das gesunde Mischungsverhältnis bzw. Gleichgewicht der Nahrungsmittel. Dabei ergeben sich teilweise Überschneidungen, aber auch Unterschiede zwischen den westöstlichen Heilkunden. Heute werden diese Unterschiede in populär-globalisierten Gesundheits- und Ernährungsratgebern oft ausgeblendet.

Gesunde Ernährung und Nahrungsmittel als Unterstützung von Heilungsprozessen haben eine wichtige Bedeutung. Die moderne Ernährungswissenschaft und deren medizinische Anwendungen haben sich oft auf biochemische Analysen von Nähr- und Wirkstoffen sowie deren pharmakologischen Wirkweisen beschränkt. Ihre Ratschläge beziehen sich darauf, welche Menge und Dosis für den allgemeinen Organismus ausreichend und gut ist, losgelöst von den individuellen Besonderheiten der Menschen. Wissenschaftliche Daten können die Prüfung des individuellen Bedarfs und der persönlichen Bedürfnisse nicht ersetzen. Alternative, naturkundliche oder ökologische Heilmethoden können manche Lücke im Umgang mit Nahrungsmitteln schließen. Oft neigen sie jedoch auch zu ideologischen Verkürzungen, und manche machen es sich mit dem Slogan »Essen Sie sich gesund« zu einfach.

Lebensmittel sind mehr als der Treibstoff zum Überleben, auch wenn dies angesichts der großen Verbreitung von Fast Food »to go« immer häufiger diesen Eindruck vermittelt. Neben der wissenschaftlichen Quantifizierung von Nährstoffen bleiben Qualitäten wie »genießen können« und »Genuss« wichtige Bestandteile der Wirkweisen von Nahrung. Bewusst genießen zu wollen, zu können und zu dürfen sind ein persönlicher Ausdruck von Selbstliebe, Selbstsorge und Selbstverantwortung. Wie viel oder wie wenig, wie üppig oder wie bescheiden das zu Genießende jeweils ist, diese Frage wird individuell beantwortet. Es gilt, die guten Gelegenheiten zu genießen und »auszukosten«. In diesem Wort steckt die zeitliche Begrenzung jedes Vergnügens.

Genuss steht schon seit der Antike, vor allem aber seit dem christlichen Mittelalter, im Verdacht von Völlerei, Exzess, Sünde, Hemmungs- oder Schamlosigkeit. Statt über das Genießen zu sprechen, werden Schattenbilder von Genusssucht, ausufernden Gelüsten oder missbrauchten Genussmitteln an die Wand geworfen.

Auch heute kennen wir die Ambivalenz der Bezeichnung »Genussmensch«. Wir meinen damit einerseits Lebenskünstler oder Feinschmecker, aber auch Lebemenschen oder hemmungslose Genießer. Letztere überziehen maßlos, können kaum einer Versuchung widerstehen, sind süchtig nach Genuss, kennen wenig Grenzen, schlagen sich den Bauch voll, geben sich die Kante oder fallen gar über alles her.

Genießen bringt die Herausforderung mit sich, die Balance zu finden »zwischen Hingabe an die eigenen Bedürfnisse und der Fähigkeit, diese kontrollieren zu können« (Eva-Maria Endress). Es bietet sich uns vieles an, in dessen Genuss wir kommen können – Lebensfreude, Heiterkeit, Vergnügen, Spaß, Wohlbehagen, Leidenschaft, Lust, Hingabe, Seligkeit, Schönheiten der Landschaft, Delikatessen, Leckereien, Spezialitäten, Muße, Feierabend, Stille, Urlaub, Vertrauen, eine gute Ausbildung, Respekt, einen guten Ruf –, aber auch billiges Amüsement, Ausschweifungen, Gelage, Fressen, Zügellosigkeit. Letztere Formen des Genusses haben einen »schlechten Beigeschmack«. Es gilt deshalb, nicht auf den »falschen Geschmack zu kommen«, manches »mit Vorsicht genießen«, und einiges erweist sich auch als »ungenießbar«. Auch angesichts des gewünschten Konsumrauschs sollten wir uns unsere gesunde Genussfähigkeit nicht nehmen lassen, sondern diese verteidigen und pflegen.

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