Читать книгу Der eigen-sinnige Mensch - eBook - Helmut Milz - Страница 8
ОглавлениеRIECHEN –
Immer der Nase nach
Der kleine Gott der Welt (…)
in jeden Quark begräbt er seine Nase.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I
»Das hab ich doch nicht riechen können«, will sagen: nicht ahnen können – Riechen wird mit etwas in Verbindung gebracht, das mich plötzlich anfliegt, vermuten, vorhersehen, wähnen, wittern, befürchten oder argwöhnen lässt. Manchen Menschen wird »ein guter Riecher« nachgesagt, besonders dann, wenn ihre Vermutungen sich bewahrheiten.
Bereits nach dem Aufstehen, wenn wir noch nicht ganz wach sind, beginnt die alltägliche Offensive von Aromastoffen und Geruchsverstärkern, um uns mit angenehmem Geruch und Geschmack zu beglücken. Mithilfe von Zahnpasta, Seife, Rasierschaum, Shampoo, Deo (lat. »desodorant«, Entriecher) und Gesichtscreme rücken wir unseren Eigengerüchen der Nacht auf den Leib. Frisch gewaschen, beduftet mit Menthol, Limette, Olive, Iris, Alkoholextrakten usw. starten wir in den neuen Tag. Auch die Wäsche ist sauber und dezent mit Duftstoffen versetzt, damit man den aufdringlichen Geruch der in Waschmitteln verwendeten Tenside (seifenähnliche Substanzen aus tierischen Fettsäuren) nicht riecht. Schließlich duftet der Kaffee. Wer weiß schon, dass sich dessen Duft aus ca. 800 Aromen zusammensetzt? Je nach Anbaugebiet und Röstverfahren repräsentiert Kaffee eine breite Duftpalette.
Auf dem Weg zur Arbeit mischen sich unsere Düfte mit denen unserer Umgebung und Mitmenschen. Mit jedem unserer täglich etwa 23 000 Atemzüge nehmen wir Duftbotschaften auf und geben solche ab. Unser Geruchssinn hilft uns, uns in der Welt der chemischen Reize zurechtzufinden. Wir können mit seiner Hilfe Gefahrenquellen in der Luft wahrnehmen (giftige Gase usw.), und er bietet uns Schutz vor verdorbenen Lebensmitteln.
Individuelle Geruchsgeschichten
Jeder von uns hat seinen ganz persönlichen Geruch und seine eigene »Geruchsgeschichte«. Viele Gerüche bleiben uns unbewusst in Erinnerung. Ich erinnere mich zum Beispiel lebhaft an die Intensität des Weihrauchs während meiner Messdienerzeit oder an den Holzgeruch frisch geschnittener Bretter im benachbarten Sägewerk. Der penetrante ölige Gestank von Carbolineum, das in der Nachkriegszeit zur Pflege der Holzbohlen meiner Volksschule verwendet wurde, holte mich viele Jahre später in den Baracken der DDR-Grenzkontrollen wieder ein. In Erinnerung geblieben sind intime Gerüche aus Liebesnächten, der wunderbare Geruch der Haare und Köpfe meiner Kinder als Babys, die Ausdünstungen von voll geschissenen Windeln und frisch gecremten Kinderpopos. Später, in der Pubertät, hinterließen die Kinder öfters memorable Schwaden von Deodorants vor ihren Partybesuchen.
Reisen in fremde Länder hinterließen exotische Geruchsspuren. Lavendelduft der Provence, Oleander, Orangenduft und Gewürzsträucher im griechischen Frühling, der Geruch von Curry und Patchuli in Indien, frische Baguettes in Frankreich oder der Duft von riesigen Schinken, die in toskanischen Metzgereien zum Trocknen aufgehängt waren, sind nur einige Beispiele. Wenn ich Blätter vom Oreganostrauch im Garten zwischen meinen Fingern zerreibe, dann ruft deren Duft in mir unmittelbar Bilder von Spaziergängen auf den Hügeln von Kreta hervor.
Aus den Jahren meiner Arbeit in Krankenhäusern bleiben Geruchserinnerungen an viele Liter von Händedesinfektionsmitteln sowie an das liebevoll verteilte Rosenöldestillat, das viele ältere türkische Patientinnen mir auf die Hände tropften, bevor ich sie untersuchen durfte. Nicht zuletzt erinnere ich mich an die fauligen Gerüche der bakterieninfizierter Wunden beim Verbandswechsel oder an den Geruch von Blut und Fruchtwasser während der Zeiten im Kreißsaal. In den vielen Tausenden von Therapiesitzungen umgaben mich Parfümdüfte und Deodorants meiner PatientInnen ebenso wie häufig der Geruch von Angstschweiß und anderen Körpergerüche.
Philosophische Überlegungen zum Geruchssinn
Dem Geruchssinn wird in der klassischen Philosophie nur ein geringes Maß an erkenntnisfördernder Intelligenz zugesprochen. Immanuel Kant stufte ihn als den entbehrlichsten Sinn des Menschen ein. Es gab unter den Philosophen auch Fürsprecher für den Geruchssinn. So notierte Arthur Schopenhauer: »Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen, weil er unmittelbarer als irgendetwas anderes den spezifischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Umgebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns zurückruft.«
Geradezu ein Verfechter des Riechens war Friedrich Nietzsche. Er schrieb, dass sich »all sein Genie in seinen Nüstern befinde«. An anderer Stelle merkte er an: »Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph voll Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht.« Nietzsche betonte die Verbindung von feiner Nase, Scharfsinn und intuitivem Wittern, die es ermöglicht, »das Innerlichste – die Eingeweide jeder Seele physiologisch wahrzunehmen«. Jean-Paul Sartre meinte: »Der Geruch eines Körpers, das ist der Körper selbst, den wir durch Mund und Nase einatmen, den wir mit einem Male in Besitz nehmen, in seiner geheimsten Substanz. Der Geruch in mir, das ist die Verschmelzung des Körpers des anderen mit meinem Körper. Aber es ist dieser eingefleischte, vaporisierte Körper, der zu Geist verflüchtigt ist.«
Der Dichter Baudelaire hat poetisch vom Geruchssinn als »Sinn der zärtlichen Erinnerung« gesprochen. Die Anthropologin Annick Le Guérer betonte: »Als Sinn der Wahrheit entthront der Geruchssinn die ›kalte Logik‹, da er aus den sicheren Quellen des animalischen Instinkts schöpft, der dem Leib seine große Weisheit verleiht.«
Kulturelle und soziale Schranken des Geruchs
Die Kulturwissenschaftlerin Diane Ackerman bezeichnete den Geruchssinn als »stummen Sinn« und die blinde Schriftstellerin Helen Keller sprach vom »gefallenen Engel der Sinne«. Im modernen Westen sei der Geruch eher ein »Non-Sense«, ein »sinnliches, schwarzes Schaf«, so die Anthropologin Constance Classen. »Ein Mensch mit besonders feiner Nase erfährt durch diese Verfeinerung sicher sehr viel mehr Unannehmlichkeitez als Freuden«, schrieb der Soziologe Georg Simmel.
Nach der von Hippokrates begründeten »Miasmen-Theorie« wurden Krankheiten durch Fäulniserreger in Luft und Wasser übertragen. Der Geruchssinn (wissenschaftlich »olfaktorischer Sinn«, lat. »olfactus, das Riechen) erfuhr historisch kontroverse Bewertungen. Dementsprechend zog der Medizinhistoriker Jonathan Reinarz nach seinen Studien den Schluss, dass der Geruch durch eine klare Trennung in »gut« und »schlecht« charakterisiert werde. Ähnliches hat der französische Historiker Alain Corbin in seinem Buch Pesthauch und Blütenduft betont.
Die Polarisierungen des Geruchs verlaufen entlang mehrerer Trennungslinien:
- zwischen religiösen Glaubensgemeinschaften und Ungläubigen
- zwischen Männern und Frauen
- zwischen unterschiedlichen Kulturen und sozialen Schichten.
Den »Wohlgerüchen« von Priestern und Gläubigen, die duftende Rauchopfer zum Himmel sandten, wurde »der Gestank« von Hölle und Ungläubigen gegenübergestellt.
Während Männer scheinbar kräftig und potent rochen, sollten Frauen sich während der »unreinen« Menstruation verbergen. Andere wurden als »stinkende« Hexen und Huren (lat. »putidus«, altfranz. »pute«, stinkend) gebrandmarkt. Heute unterscheiden sich die »verführerischen Düfte« weiblicher Parfüms von »herb männlichen Duftnoten«. Durch zeitgenössische Verschiebungen von Geschlechterbildern ergeben sich inzwischen jedoch mehr Überschneidungen.
Kulturell und sozial wurden Fremde häufig als schlecht riechend eingestuft, nicht nur wegen ihrer ungewohnten Ernährungsgewohnheiten, sondern auch aus Angst vor möglicher Ansteckung. Solche Ängste finden sich in allen Kulturen.
Machtunterschiede zwischen der parfümierten Herrschaftsschicht und den Gerüchen des niederen Volks bildeten eine weitere Trennungslinie. Infolge der städtischen Hygienereformen des 19. Jahrhunderts wurden »Ausdünstungen der Armut« neben der Betonung von krankheitserregenden Gefahren, immer auch moralisch bewertet. Heute kann man zudem eine »Geruchsgeografie« von städtischen Zonen entlang der Luftqualität in Industrievierteln, städtischen Ballungszentren, öffentlichen Parkanlagen und sozialen Milieus feststellen.
Geruchslandschaften
In den letzten dreißig Jahren hat der Geruchssinn deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Durch veränderte technische Möglichkeiten sind neue wissenschaftliche Untersuchungen dieses »chemischen Sinns« möglich geworden. Sie zeigten die große Plastizität des Geruchssinns und seiner sich bis ins Alter ständig erneuernden Riechzellen.
Der menschliche Geruchssinn hat im Wesentlichen drei verschiedene Aufgaben: die Beurteilung von aufzunehmender Nahrung, die Erkennung und Vermeidung von Umweltgefahren aus der Luft und die soziale Kommunikation.
Wir beschnuppern Speisen und deren Düfte sowohl mit Nase als auch durch den Gaumen. Ihr Geruch beeinflusst unseren Hunger und unseren Appetit. Grundlegende individuelle Geruchserfahrungen erfolgen bereits intrauterin, und der Geruch der Mutterbrust ist für Säuglinge von großer Bedeutung. Was wir schmecken wird zum großen Teil bestimmt durch das, was wir riechen.
Gerüche der Umwelt können durch Bakterien aller Art sowie durch schlechte Luft, Feuer und Rauch, Gifte oder Chemikalien verursacht sein. Andererseits adaptieren wir uns rasch durch wiederholte Exposition an Gerüche. Solche Effekte können schon in wenigen Minuten eintreten. »Ein Geruch, der über längere Zeit unverändert bleibt, wird meist ausgeblendet«, so der Dresdener Geruchsforscher Thomas Hummel.
Im sozialen Austausch von Sympathie oder Antipathie, insbesondere bei sexueller Anziehung, aber auch bei Ausdünstungen durch Krankheiten, spielt das Riechen eine wichtige Rolle. In der Kommunikation mit anderen Menschen kann deren Gesichtsausdruck Einfluss nehmen darauf, welchen Geruch wir verstärkt wahrnehmen und wie wir diesen bewerten.
Im höheren Alter nehmen Riechstörungen (»Anosmien«) und die damit einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen deutlich zu. Die durch sie bewirkten Beeinträchtigungen der Lebensqualität sind weit verbreitet. Zudem können Riechstörungen erste Hinweise auf neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Morbus Alzheimer geben. Ob und wie Riechstörungen durch Training teilweise behoben werden können, wird weiter erforscht.
Durch ihre besonderen neurobiologischen Vernetzungen prägen Gerüche mehr als die anderen Sinne das Gedächtnis. Dies kann zwar stabilisierende, positive Assoziationen bewirken, aber auch die gezielte Beeinflussung von Umwelt, Märkten und Vorlieben ermöglichen, die manipulativ genutzt werden können. In der Wissenschaft spricht man vom »chemical signaling« und von Botenstoffen, die unser zwischenmenschliches Miteinander beeinflussen.
Der Soziologe Georg Simmel hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts angemerkt, dass die soziale Frage nicht nur eine ethische, sondern auch eine »Nasenfrage« sei. Er bezeichnete den Geruchssinn als »dissoziierenden Sinn«, der wesentlich für die Distanziertheit des Großstadtmenschen verantwortlich sei. »Dass wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner; er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Innerstes ein, und es liegt auf der Hand, dass bei gesteigerter Reizbarkeit gegen Geruchseindrücke überhaupt dies zu einer Auswahl und einem Distanznehmen führen muss, das gewissermaßen eine der sinnlichen Grundlagen für die soziologische Reserve des modernen Individuums bildet.«
Heute stellen Gerüche und die Luftqualität der Umwelt, die Industrie- und Autoabgase in den Städten sowie der Anstieg des geruchlosen Ozons erhebliche gesundheitliche Gefährdungen dar. Um unangenehmen Gerüche zu neutralisieren oder zu verdrängen, haben manche Städte partielle »Beduftungsprogramme« an öffentlichen Plätzen oder in U-Bahnhöfen installiert. Kaufhäuser und Supermärkte, Möbelhäuser und Autofabrikanten, Hotelketten und Wellnesstempel setzen auf die Verwendung von Wohlgerüchen, als Mittel der sinnlichen Anziehung oder als merkantiles »corporate smell«.
Der Geruchssinn befindet sich an einer wichtigen Schnittstelle zwischen Ernährung und Umwelt sowie großen Märkten der Nahrungsmittel-, Geruchs- und Wohlfühlindustrien. Neue Forschungsergebnisse zum Geruchssinn sind nicht nur für die Gesundheit und zur Steigerung des Wohlbefindens von großem Interesse, sondern auch für neue ökonomische Marketingstrategien. Bedingt durch die Suche nach militärisch nutzbaren »Duftdetektoren«, etwa zum Aufspüren von Sprengstoff und Minen, fließen aus dem Militärhaushalt nicht unerhebliche finanzielle Mittel in die Geruchsforschung.
Gerüche sind in der modernen Welt des digitalen Jetzt nicht präsent. Immer werden »persönliche« Gerüche und Aromen künstlich synthetisiert. Diese Gerüche sind in ihren Zusammensetzungen im Vergleich mit natürlichen Düften »verarmt« und zugleich verstärkt in ihren gezielten Wirkabsichten. Sie werden in der Werbung mit Symbolen von »Magie, Stärke, sexueller Attraktivität oder heilenden Wirkungen« aufgeladen.
Nase und Geruch in alltäglichen Redewendungen
Das Wort »Duft« stammt vom althochdeutschen »tuft«, was so viel wie »Dunst, Nebel, Tau, Reif« bedeutete. »Geruch« leitet sich vom mittelhochdeutschen »ruch« ab, das »Dampf, Dunst, Rauch« besagte. »Riechen« wurde früher oft mit dem Wort »smac«, »schmecken, verdrängen« gleichgesetzt. Heute verwenden wir zudem Begriffe wie Atmosphäre, Aroma (griech. Wohlriechendes Kraut, Gewürz), Bouquet, Wohlgeruch, Ausstrahlung, Air, Smell, Odeur, Flair oder Fluidum.
Die Nase liegt, prominent hervorragend, mitten im Gesicht. Vorwärts gehtʼs, geradeaus, »immer der Nase nach«. Bei manchen Entscheidungen helfen uns ein »feines Näschen« und ein »guter Riecher«. Wir sprechen davon, dass sich mancher eine »goldene Nase« verdient, während andere etwas kränkeln und »blass um die Nase« sind.
Eine »Spürnase« kann Entwicklungen schon »drei Meilen gegen den Wind« riechen, bei Gefahr riecht man »Lunte«. Ehrgeizig strebt man danach, »eine Nasenlänge voraus zu sein« und die »Nase vorn zu haben«. Andere haben »die Nase voll« und wollen sich »frischen Wind um die Nase wehen« lassen. Niemand lässt sich gerne »an der Nase herumführen«, man bekommt plötzlich etwas »vor die Nase gesetzt«, oder es wird einem »vor der Nase weggeschnappt«.
Manchmal muss man sich aber auch »an die eigene Nase fassen«, etwa dann, wenn man »seine Nase in fremde Sachen gesteckt« hat, »anderen auf der Nase herumtanzt«, seine »Nase zu hoch trägt«, »die Nase rümpft«, jemandem »eine (lange) Nase dreht«, etwas Falsches »unter die Nase reibt«. Man könnte »auf die Nase fallen«, wenn jemand unsere »Nase nicht passt« oder schlimmstenfalls eins »auf die Nase kriegen«.
Riechspezialisten aus der Wein- und Parfümbranche haben besonders »feine Nasen«. Mit ihnen erkunden sie Duftnoten und benennen sie mit Labels wie »blumig, fruchtig, süß, warm, würzig, holzig, ledern, herb, orientalisch, erotisch« oder neuen Fantasienamen.
Trotz niedlicher Näschen oder Stupsnasen sind die meisten Beschreibungen der Nase – wie Gesichtserker, Rotznase, Zacken, Knolle, Rüssel, Kolben, Zinken, Himmelfahrtsnase, Adlernase, Hakennase, Boxernase, Säufernase oder Pappnase – eher despektierlich. Im Volksmund wird die männliche Nase auch mit seinem Geschlecht verbunden: »An der Nase eines Mannes erkennt man auch seinen Johannes.« 1947–49 hat Alberto Giacometti seine surrealistische Skulptur »Le Nez« geschaffen.
Manch einer »riecht den Braten« beizeiten oder »traut dem Braten nicht«, merkt, dass an einer Sache »etwas faul ist« oder »dicke Luft herrscht«. Er kann sich rechtzeitig »verduften«. Es kann hilfreich sein, wenn man sein Gegenüber erst einmal »beschnuppert«, etwa dann wenn ihm »ein anrüchiger Geruch anhaftet«. Natürlich kann dies auch ein »Gerücht« sein.
Wenn man jemanden »gut riechen« kann, dann ist dieser sympathisch. »Det is dufte«, sagt der Berliner. Im vertrauten Milieu herrscht der richtige »Stallgeruch«. Im »Dunstkreis« mancher Menschen möchte man sich lieber nicht bewegen. Andere haben bereits ihre »Duftmarke« gesetzt.
Menschen können »Stunk machen«, »stinkig sein« oder »Latrinenparolen« verbreiten. Anderes »stinkt einem tierisch« oder scheint »erstunken« und erlogen zu sein. Menschen können »mundfaul« sein, und man muss ihnen »alles erst aus der Nase ziehen«.
Alberto Giacometti: Le Nez, 1947–49
Manchmal ist die Luft »verpestet« (wie ursprünglich die schlechte Luft während der Pestepidemie). Die Krankheit der Malaria (ital. »malaria«, schlechte Luft) nahm ihren Ursprung in modrigen, versumpften Gebieten der Antike. An manchen Orten »mieft und muffelt« es oder es »riecht streng, übel, bestialisch und widerwärtig«, sodass es »in der Nase beißt oder sticht«.
Umweltbehörden erlassen auch heute »Luftverordnungen«, in denen sie Grenzwerte für gefährliche Dämpfe, Abgase und Ausdünstungen festlegen.
Vom Geruch in der Kinderliteratur
Wilhelm Hauff schrieb 1826 das Märchen vom »Zwerg Nase«. Jakob, der Sohn eines Flickschusters, gerät darin für einige Jahre in die Fänge der Hexe Kräuterweis. Nach dem Genuss einer Kräutersuppe und dem Riechen an einer besonderen Pflanze wächst ihm unversehens eine lange Nase. Ein Buckel verunstaltet den armen Kerl. Er wird schließlich doch noch ein angesehener Koch und Feinschmecker. Dabei trifft er auf die ebenfalls verwunschene »Gänseprinzessin« Mimi. Diese kennt sich mit Zauberkräutern aus und hilft ihm schließlich, das erlösende Kraut »Niesmitlust« zu finden. Er riecht daran und wird zurückverwandelt.
Der italienische Schriftsteller Carlo Collodi hat 1883 die Geschichte vom Hampelmann »Pinocchio« geschrieben. Darin erwacht eine geschnitzte Holzpuppe unerwartet zu einem abenteuerlichen Jugendleben voller Verführungen und Gefahren. Tragisch ist, dass ihre Nase mit jeder Lüge immer länger wird. Sie verrät ihn, bringt ihn schließlich vom Lügen ab und zurück auf den Weg der Tugend. Pädagogisch verweist diese Geschichte darauf, dass Kinder nicht »naseweis« sein und ihre »Nase nicht in fremde Sachen« stecken sollen.
Illustration zu Wilhelm Hauffs Märchen Der Zwerg Nase, Stuttgart 1869
Zur Biologie des Riechsinns
Entwicklungsgeschichtlich ist der Geruchssinn einer der ältesten Sinne. Bereits den Lebewesen des Urmeers diente der »chemische Sinn« zur Verbreitung von Signalen, um Nahrung, Gefahren und Fortpflanzungspartner zu orten. Als sich die Lebewesen später auf Land begaben, übernahm die Luft den Transport dieser Signale.
Die naturwissenschaftliche Erforschung des Geruchssinns wurde, ähnlich wie die des Geschmackssinns, lange Zeit als unbedeutend betrachtet. Teilweise wurden diese Bewertungen von kirchlichen Dogmen beeinflusst wie beispielsweise die Einschätzung der anatomischen Hirnstudien des französischen Arztes Paul Brocca (1879). Aus seinem Größenvergleich zwischen dem entwicklungsgeschichtlich jungen Frontallappen des menschlichen Gehirns und dem »älteren« Riechhirn (»Bulbus olfactorius«) schloss Brocca auf eine zunehmend »microsmatische« (»gering riechende«) Natur des Menschen. Ihm zufolge nahm der Geruch kaum einen wichtigen Einfluss auf die Intelligenz und die Seele des Menschen (John McGann).
Sigmund Freund, der mit den Arbeiten seines Zeitgenossen Brocca vertraut war, befasste sich mit der frühkindlichen Bedeutung von Riechen, Schmecken und Tasten in der »oralen« und »analen« Phase. Der vermeintliche Riechverlust des heranwachsenden Menschen bewirkt seiner Meinung nach, dass durch »unterdrückte sexuelle Triebe« seelische Störungen auftreten könnten, insbesondere dann, wenn die Menschen sich weiter am Riechen erfreuen würden.
Neues wissenschaftliches Interesse am Geruchssinn
»Trotz seiner ungeheuren Komplexität und Leistungsfähigkeit organisiert sich das menschliche Gehirn immer noch um sein olfaktorisches System«, schreibt der amerikanische Neurologe Walter Freeman.
Erst seit knapp drei Jahrzehnten hat sich ein differenziertes Interesse am menschlichen Riechsinn in der Wissenschaft entwickelt. Zu diesen Entwicklungen haben technische Fortschritte in Genetik, Molekularbiologie und Neurowissenschaften beigetragen. Die Forschungsgeschichte des Geruchssinns erinnert an Beobachtungen des Wissenschaftssoziologen Thomas Merton zur Serendipität (»serendipity«), insofern sie sich Entdeckungen verdankt, bei denen ein »glücklicher Zufall« zu Hilfe kam. Nach Thomas Mertons Ansicht spielen bei solchen Entdeckungen der »Scharfsinn« (»sagacity«), also der »gute Riecher« und die »Spürnase« eine zentrale Rolle.
Nachdem die Forschung chemische Andockstellen (Rezeptoren) für Hormonmoleküle auf der Oberfläche von Zellen gefunden hatte, begannen Geruchsforscher, dort nach entsprechenden »Fühlern« für Geruchsmoleküle zu suchen. Auf der Riechschleimhaut befinden sich etwa 20 bis 30 Millionen Riechzellen. Eine einzelne Riechzelle kann bis zu 20 verschiedene Duftmoleküle erkennen. Geruchsmoleküle nehmen mithilfe von etwa 350 chemischen Rezeptoren in der Nasenwand Kontakt mit den Riechzellen auf. Diese verändern über die Konzentration von Kalzium ihre »Ionenkanäle« zum Zellinnern und erregen dadurch elektrische Potenziale. Geruchswahrnehmungen werden besonders im oberen Teil der Nasenschleimhaut (»Regio olfactoria«) registriert. Die Intensität des Riechens ist auch beim Menschen mit Schnuppern und Schnüffeln und mit dem raschem Einziehen von größeren Mengen Luft in den oberen Teil der Nase verbunden.
Riechzellen verbinden sich mittels mehrerer zentimeterlanger, dünner Nervenfasern durch kleine Löcher im Schädeldach (Siebbein) mit den Strukturen des Gehirns. In sogenannten Glomeruli (Knoten) werden diese in hoher Geschwindigkeit gebündelt und anschließend in »Mitralzellen« weiterverarbeitet. Die komplexen, miteinander in unterschiedlichen Konzentrationen konkurrierenden Gerüche müssen dabei erkannt, getrennt und koordiniert werden, bevor sie an weitere Gehirnstrukturen geleitet werden.
Zwischen unserem Geruchssinn und älteren Hirnstrukturen, wie dem Limbischen System (»Amygdala«, Mandelkern) oder dem Hirnstamm, bestehen viele Verknüpfungen. In diesen Hirnbereichen werden Gefühle und Motivationen gesteuert. Zudem bestehen zahlreiche Verbindungen mit der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), die die Ausschüttung von Hormonen regelt. Geruchsinformationen werden rasch an Gedächtnisregionen (»Hippocampus«) weitergeleitet und rufen dort Assoziationen hervor. Geruchswahrnehmungen, die sich generell nur schwer in Worte fassen lassen, verursachen emotionale Reaktionen. Unser Geruchssinn ist in vielerlei Hinsicht erlernt und unterliegt Gewöhnungseffekten (Adaptationen), die uns dabei helfen, uns an manche unangenehme oder belästigende Gerüche anzupassen. Darüber hinaus bestehen Verknüpfungen zu jüngeren Regionen des Gehirns im Frontallappen, in dem differenzierte Bewertungen der Gerüche vorgenommen werden.
Für die Entdeckung der Biologie des Geruchssinns wurde 2004 den amerikanischen Forschern Linda Buck und Richard Axel der Medizin-Nobelpreis verliehen.
Riechen beginnt bereits im Mutterleib
Beim Embryo befindet sich das Riechgewebe anfangs an der Spitze der Neuralleiste, die sich später zum Gehirn auswächst. Die beiden Gehirnhälften waren ursprünglich »Knospen des Riechgewebes«. Menschliche Embryos können im Mutterleib ab der 26. Schwangerschaftswoche »riechen« und schmecken. Sie lernen im Fruchtwasser mütterliche Gewohnheiten und Vorlieben kennen und prägen sich diese ein. Nach der Geburt ist die Riechfähigkeit für den neugeborenen Säugling der erste Orientierungssinn, vor allem um über den Geruch die mütterlichen Brustwarzen zu finden. Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass Riechneurone unseres Gehirns bereits nach den ersten Lebenstagen Verknüpfungen bilden (»Geruchskarten«), die lebenslangen Bestand haben.
Säuglinge können ihre Mütter am Geruch unterscheiden ebenso wie umgekehrt. Geruch ist ein zentrales Bindeglied in der Mutter-Kind-Beziehung. Zwischen Geschwistern gibt es Geruchsähnlichkeiten. Der Geruch festigt quasi die Sympathien zwischen Müttern und Kindern. Dies kann bisweilen in manchen Fällen auch ein Faktor in Geschwisterrivalitäten werden. Väter fallen deutlich aus diesem »Geruchsraster« heraus, was sich in der Pubertät als ein Problem erweisen kann.
Jeder Mensch hat ein individuelles »Geruchsmuster«, das sich sowohl aus seiner angeborenen Biologie als auch aus seinen kultur- und sozialspezifischen Umwelt- und Ernährungsgewohnheiten zusammensetzt. In den meist unbewussten Bewertungen zwischen »anziehend oder abstoßend« greift unser Geruchssystem auf erlernte und gespeicherte Erinnerungen zurück.
Körpergerüche, Schweiß und Duftmarken
Die »Geruchskarten« verschiedener Körperregionen stellen ein persönliches Gemisch dar. Kleine Kinder haben eigene Gerüche, vor allem im Kopfbereich. Liebende erkennen sich am besonderen Körpergeruch. Alte Menschen nehmen durch hormonelle Veränderungen und Medikamente einen spezifischen Geruch an. Bewegungsaktivitäten, Körperhygiene und Nahrungsgewohnheiten tragen zur persönlichen Duftnote bei.
Unseren eigenen Körpergeruch nehmen wir gewöhnlich kaum wahr, auch nicht, wenn wir schwitzen. Schweiß ist eine wässrige Absonderung unserer Haut, die vermehrt bei muskulärer Anstrengung entsteht. Er ist Teil der natürlichen »Klimaanlage« zur Wärmeregulierung des menschlichen Körpers und wird von den »ekkrinen Drüsen« abgesondert, die sich insbesondere an Handflächen, Fußsohlen und auf der Stirn befinden. Schweiß ist weitgehend geruchlos und beinhaltet vorwiegend Wasser und Salze. Seine besondere Geruchskomponente bekommt der Schweiß, vor allem der von den sogenannten »apokrinen Drüsen« (Achselhöhlen, Leisten- und Analregion, Nabelbereich, Augenlider, Brustwarzen und äußerer Gehörgang) sowie sekundär durch die Vermischung mit Hautbakterien. Daraus entstehen bisweilen »ziegenähnliche«, »käseartige« (bei Männern) und »zwiebelartige« (bei Frauen) Gerüche.
In Zeiten, in denen sich unsere menschlichen Vorfahren zur Flucht auf Bäume zurückzogen, waren vermehrte Schweißabsonderungen wie feuchte Hände oder feuchte Füße in Gefahrensituationen sinnvoll, um bessere Haftung zu erreichen. Heute erscheinen sie eher peinlich und werden ängstlich vermieden. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung leiden unter vermehrtem Schwitzen. Für viele von ihnen wird diese »Hyperhidrosis« zur problematischen Angelegenheit.
Angstschweiß wird von den apokrinen Drüsen der Haut abgesondert, die sich im behaarten Achsel-, Brustwarzen- und Genitalbereich befinden. Diese werden dann aktiver, wenn starke emotionale Reize wie Erregung und Wut vorherrschen. Angstschweiß wird auch »kalter Schweiß« genannt. Unter Stress führt die Adrenalinausschüttung dazu, dass sich die Blutversorgung mehr ins Innere des Körpers zurückzieht. Dadurch wird die Haut blasser und schwächer durchblutet. Durch die Verminderung der oberflächlichen Körpertemperatur verdampft der Schweiß auf der Haut nicht mehr wie üblich. Es bilden sich vermehrt Schweißtropfen. Gleichzeitig ziehen sich die apokrinen Drüsen vermehrt zusammen und produzieren spezifische Duftstoffe. Sollte Angstschweiß vielleicht ursprünglich die Artgenossen der Gruppe vor einer bestehenden Gefahr warnen? In bedrohlichen Situationen verstärkt Angstschweiß das Mitgefühl innerhalb einer Gruppe.
Untersuchungen bei Menschen mit Panikattacken brachten Hinweise, dass weniger die Areale von Hippocampus und Amygdala als vielmehr die des Großhirns als Ausdruck von unbewussten Erwartungsängsten aktiviert werden, die mit Vermeidungsreaktionen verbunden sind. Bei sensibleren Menschen kann Angstschweiß Erwartungsängste verstärken und somit zur weiteren Entwicklung von Angststörungen beitragen.
Körpereigene Lockstoffe
»Denn der Duft war ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch über Zuneigung und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Gerüche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen«, heißt es in Patrick Süskinds Roman Das Parfum.
Tiere markieren während der Brunst ihre Territorien. Sie haben eine feine Nase für eventuell trächtige Partnerinnen. Ausdünstungen geschlechtsreifer Weibchen setzen chemische Signale ihrer Fruchtbarkeit frei. Der Mensch, als weitgehend enthaarter, »nackter Affe« (Desmond Morris), besitzt mehr Duftdrüsen als alle anderen Primaten. Sein Geruchssinn spielt eine wichtige Rolle in der Sexualität und der Partnerwahl. Durch die Entdeckung der Pheromone (Kofferwort aus altgriech. »phérein«, tragen und Hormon) konnten informationsübertragende Duftstoffe nachgewiesen werden. Ob und wie sehr diese die Aufmerksamkeit und die Erregung bei der sexuellen Partnerwahl beeinflussen, ist beim Menschen noch nicht abschließend geklärt. Allerdings wird nachweislich durch sexuelle Erregung die Durchblutung der Nasenschleimhäute deutlich gesteigert.
Einiges deutet darauf hin, dass Duftrezeptoren den Frauen dabei helfen könnten, spezifische Aspekte des Immunsystems ihrer potenziellen Partner für Schwangerschaften zu erkennen. Wenn Immunsysteme der Geschlechtspartner unterschiedliche Qualitäten haben, besteht eine größere evolutionäre Wahrscheinlichkeit für widerstandsfähigen Nachwuchs. Forschungen konnten nachweisen, dass sowohl auf der Oberfläche der Spermien als auch der Eizellen Duftrezeptoren vorhanden sind, die einen spezifischen Duft erkennen.
Öffentliche Hygiene zur Beseitigung des »gemeinen Gestanks«
Kein anderer Sinn hat im Laufe der Zeit so unterschiedliche soziale und kulturelle Bewertungen erfahren wie der Geruchssinn. Der Begriff Geruch verweist ursprünglich auf Rauch, der infolge von Wärme nach oben steigt. Besondere Düfte waren früher religiösen und spirituellen Ritualen vorbehalten und wurden bei Rauchopfern verwendet. Wohlgerüche waren ein Privileg der Herrschenden. Königinnen und Könige, Athleten und Ritter parfümierten sich. Napoleon parfümierte auf seinen Feldzügen sein Zelt mit Veilchenduft. Weihrauch und Myrrhe waren begleitende Duftnoten des Christentums. Die Reformation schaffte diese Düfte im religiösen Raum weitgehend ab (Dianne Ackermann).
Im Mittelalter waren Düfte auch eine Frage von Moral und Unmoral. In den damaligen Badehäusern herrschten Gerüche der »gemeinsamen« Nacktheit, und diese bargen Verführungsgefahren.
Der französische Soziologe Alain Corbin hat die Polarität von Duft und Gestank in seinem Buch Pesthauch und Blütenduft anhand der Entwicklung im städtischen Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts beschrieben. Der Geruchssinn wurde dort zunehmend zum feinen »Messinstrument« für Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten. In den heftigen Ausdünstungen im städtischen Leben wurden potenzielle Ansteckungsstoffe für Krankheiten vermutet. Die Luft galt als »Träger, Beförderungsmittel und Behälter« für solche Keime. Im öffentlichen Raum wurden mit Fäkalien vollgesogene Böden, die Saugfähigkeit der Gebäude und Möbel, die stinkenden Flüsse und Sümpfe ebenso wie Friedhöfe immer besorgniserregender. Gerüche von Zerfall, Gärung und Fäulnis – kurzum das Übelriechende – erregten zunehmende Aufmerksamkeit von Ärzten und Behörden.
Diese versuchten, gegen diese Missstände eine bessere öffentliche Hygiene zu organisieren. Ärzte untersuchten die Patienten nach einem vorgeschriebenen Geruchskalkül und prüften, welche Geruchsabweichungen auf charakteristische Krankheiten hinweisen könnten. Insbesondere Institutionen wie Hospitäler, Gefängnisse, Kasernen, Kirchen oder Theatersäle wurden auf Gerüche untersucht, aber auch größere Schiffe. Durch das Pflastern von Straßen, das Befestigen von Flussufern und besseres Entwässern der Straßen wurde eine zunehmende Desodorierung des öffentlichen Raums angestrebt. Es wurden neue Techniken der Belüftung von Stadtvierteln und Armenwohnungen entwickelt. Gerüche waren eine Frage der sozialen und moralischen Unterscheidung.
Die Körper der Menschen mit ihrem spezifischen Atemgeruch sowie die Ausdünstungen ihrer Haut und Kleidung erfuhren verstärkt Aufmerksamkeit durch die Gesundheitsbehörden. In wohlhabenderen Schichten versuchte man, schlechter, »mephistischer« Luft durch heilsame Aromen beizukommen und setzte auf Wohlgerüche zur Erquickung und Stärkung. Der »aromatisierte Mensch« sollte durch Riechkissen und Kräuterverbrennungen gesunden und aufgeheitert werden. Sowohl durch die Nase eingeatmet als auch bisweilen auf obskure Weise, etwa durch die Vagina, in den Körper hineingeblasen, sollten sie stärken und bei Frauen den Uterus wieder an die richtige Stelle bringen. Für besser gestellte Bürger waren »Luftkuren« in den Bergen eine Möglichkeit, dem städtischen Gestank der Armen in der Ebene zu entfliehen.
Denjenigen, die mit Muskelkraft arbeiten mussten, wurde nachgesagt, dass sie »im Schweiße ihres Angesichts« nur vermindert sensible Nasen haben könnten. Der muffigen Luft ihrer Behausungen wurde der »hygienische Kampf« angesagt, insbesondere den Miasmen ihrer Schlafräume. Belüften, Ausklopfen oder das Verrücken von Möbeln waren probate Mittel.
All diese Entwicklungen führten zur stärkeren »Desodorierung« jeglichen sozialen Kontakts. Aus Sicht der öffentlichen Gesundheitsversorgung war die radikale Verbesserung der städtischen Hygiene ein sehr sinnvolles Unterfangen. Im England des 19. Jahrhunderts war die Arbeit des Sozialreformers Edward Chadwick prägend für die Sanierung der Abwasserkanäle, die Luftverbesserung und die Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Zugleich wurden diese hygienischen Reformen von religiösen Kräften zur moralischen Säuberung von Trunksucht, Gewalt und Unzucht genutzt. Nüchternheit, Mäßigung, Sauberkeit, Sparsamkeit und Anstand wurden als moralische Mittel gegen den unmoralischen »Gestank« der Armenviertel gepredigt. Die Entsorgung und Entfernung von Tierdung und Kadavern aus den Straßen, Latrinen und Toiletten, öffentliche Wasch- und Badeanstalten, der regelmäßige Gebrauch von gut riechenden und billig parfümierten Seifen gehörten seit Mitte des 19. Jahrhundert zum hygienischen Standard. Die Entdeckung der »Keimtheorie« von Bakterien als Krankheitsauslöser und die Einführung von Wasch- und Desinfektionsmöglichkeiten etwa in der Geburtshilfe durch Ignaz Semmelweis waren weitere Schritte zur Verbesserung der Krankheitsvermeidung durch bessere Hygiene.
In Deutschland wurden klare Luft und kaltes Wasser verstärkt von Pfarrer Sebastian Kneipp propagiert. Andere Methoden der Naturheilkunde, Lichtbäder, Vegetarismus, Gymnastik und Körperkultur ergänzten die Ideale der prophylaktischen Sauberkeit und sozialen Hygiene.
»Zivilisation ist Sterilisation« (Aldous Huxley)
Sogar noch 1937 schrieb George Orwell in seinem Buch Der Weg nach Wigan Pier, dass das wirkliche Geheimnis der Klassenunterschiede im Westen sich knapp zusammenfassen ließe: »Die unteren Schichten riechen schlecht.« Und er führte aus: »Kein Gefühl der Ab- oder Zuneigung ist so tiefsitzend wie ein körperliches Gefühl. Rassenhass, unterschiedliche Erziehung, Temperamente oder Verstand, sogar die Unterschiede in den Moralvorstellungen, können überwunden werden, aber körperlicher Widerwille nicht.« Selbst nach der allgemeinen Verbesserung der Hygiene hielt sich dieses Klassenvorurteil weiter.
In ähnlicher Weise wurde dieses Geruchsvorurteil gegenüber der schwarzen Bevölkerung der USA gepflegt. Wenn die Behauptung des schlechten Geruchs nur oft genug wiederholt wurde, so die Kulturanthropologin Constance Classen, dann führte diese schließlich dazu, dass die Betroffenen dies selbst glaubten und versuchten, ihr von den Weißen behauptetes negatives »Geruchsbild« durch Deodorants und Parfüms zu überdecken.
Körpergeruch wird heute meist als peinlich wahrgenommen. Seine Auslöschung durch Körperhygiene, Seifen, Shampoos, Parfüms und Geruchsstoffe in den Textilien wird sozial gefordert. Dies überlagert die Duftnote eines jeden Menschen bis zur Unkenntlichkeit, und dies erschwert den Nutzen des Geruchssinns in Medizin und Heilkunde.
Der moderne, »hygienische Körper« kann bisweilen Ausgangspunkt für Geruchsneurosen werden. Bei einigen Menschen kann die Angst vor dem eigenen Körpergeruch zur »Autodysmorphie« führen, die einen stark überhöhten Reinlichkeitsdruck bis hin zum Waschzwang fördert.
Der Umgang mit Gerüchen und Ekelgefühlen in der Heilkunde
Mögliche Verbindungen zwischen Geruch und Krankheiten haben Ärzte schon immer beobachtet. So waren spezifische Ausdünstungen von Diabetes mellitus, Leberkrankheiten oder Gicht schon lange bekannt. Nachdem Geruchsdiagnostik bei modernen Ärzten lange als »primitiv« in Misskredit geraten ist, zeigt sich seit einigen Jahren ein erneutes Interesse an ihrem möglichen diagnostischen Wert.
Ärzte werden geschult, ihre Ekelgefühle vor Gestank zu ignorieren und zu unterdrücken. Während meiner ärztlichen Ausbildung habe ich lernen müssen, ekelerregende Gerüche von Urin, Stuhl, Eiter, Blut und Schmutz zu ertragen. Ärzte, Kranken- und Altenpflegepersonal sind in gewisser Hinsicht »Ekel-Profis«. Es gibt Abstufungen der Ekelschwellen, an die man sich »gewöhnen« kann. Ekelgefühle und schwer erträgliche Gerüche werden kaum thematisiert. Fast scheint es ein gewisses Ekelverbot zu geben. Schließlich seien diese Berufe, so wird betont, nichts »für schwache Nerven«. Der Umgang mit Faulem, Verwesendem sowie körperlichen Ausscheidungen aller Art gehöre zum Beruf dazu.
Desodorierung, Desinfektion, Kontaktscheu, Kontaktängste, Hand- und Mundschutz, Plastikschürzen, Schutzbrillen, Versachlichungen und Objektivierung von Patienten und Verrichtungen, Waschpflicht bis hin zum Waschzwang, Verdrängung und schwarzer Humor sind darum ständige Begleiter in den Kranken- und Pflegeinrichtungen. »Wo der Pfleger sich nicht ekeln darf, darf der Patient sich nicht schämen«, schreibt Christine Pernlochner-Kügler. In Heil- und Pflegeberufen sollte diese Thematik nicht tabuisiert oder verschwiegen, sondern behutsam gelehrt werden.
Riechen – eine neue Diagnosemöglichkeit?
Geruchsreize können die Aktivitäten des Nervensystems von anderen Menschen und deren Verhaltensweisen beeinflussen. Gerüche von erkrankten Körpern lösen andere Reaktionen im menschlichen Gehirn des Gegenübers aus als gesunde Körper. Wir wissen heute, dass jede Körperzelle in Form von MHC-Molekülen (MHC, engl. »major histocompatibility complex«, Haupthistokompatibilitätskomplex), typische Erkennungszeichen hat, durch die Informationen über ihre Proteinbestandteile an die Oberfläche gelangen. So spricht man zum Beispiel vom »Geruch des Immunsystems«. Im Krankheitsfall scheiden die Zellen Zytokine aus, also Proteine, die das Wachstum und die Differenzierung von Zellen regulieren und den Körpergeruch eines kranken Menschen typisch verändern.
Das Geruchssystem erfährt intensives Interesse durch Forschungen, die zeigen, dass auf bestimmte Gerüche konditionierte Tiere mit erstaunlicher Sicherheit in der Lage sind, subtile Ausdünstungen in Blut, Urin oder Atem zu identifizieren, die beispielsweise auf Krebserkrankungen (Lungen-, Brust-, Ovarial- oder Dickdarmkrebs) hinweisen. Ähnliches gilt für Asthma, Diabetes mellitus oder Tuberkulose.
In der Forschung wird fieberhaft an der Entwicklung von »elektronischen Nasen« gearbeitet, die mittels Sensoren und künstlicher Intelligenz spezifische Moleküle in der Atemluft und in Körperflüssigkeiten identifizieren und mögliche Vorstufen von Krebs oder anderen Krankheiten entdecken könnten. Diese Aufgabe erfordert jedoch das Ausfiltern von anderen Duftmolekülen der umgebenden Luft, um Fehler auszuschließen. Inzwischen werden große Versuchsreihen von Gesundheitsinstitutionen rund um den Globus und von privaten Gesellschaften angestellt. Nach Ansicht von Experten könnten solche »künstlichen Nasen« in etwa fünf Jahren für den klinischen Einsatz bereitstehen.
Aromatherapien
Im Rahmen von psychotherapeutischen Behandlungen können Gerüche gezielt helfen, frühere Situationen wachzurufen, um diese besser verarbeiten zu können. Es werden Duftaversionen und Duftvorlieben untersucht, Düfte können gezielt zur Angst- und Depressionslinderung beitragen.
Der Geruch: Gemälde von Peter Paul Rubens (Figuren) und Jan Brueghel d. Ä. (Landschaft und Tiere).
Der französische Philosoph Voltaire merkte einmal an, dass die beste Medizin diejenige sei, die ein starkes Aroma ausströme. Schon in der frühen ägyptischen Medizin, später bei den Griechen und Römern oder in der mittelalterlichen arabischen Medizin wurden pflanzliche Essenzen und Öle zur Heilung oder Gesundheitsverbesserung breit angewendet. Neben ihren angenehmen und der Förderung des Wohlbefindens dienenden Funktionen hatten manche Substanzen der Aromatherapie desinfizierende, entkrampfende oder psychologisch stabilisierende Wirkungen. In der Säftelehre der Griechen und des Mittelalters wurden sie zur Regulierung und Mobilsierung von »Lebens- und Naturkräften« verwendet. Sie sollten etwa dazu dienen, das Herz und die Lunge zu kräftigen, Bauchkrämpfe zu lösen oder Verletzungen und Wunden zu reinigen und heilen.
Heute wissen wir, dass Aromatherapien nachweislich Einfluss auf das Herz-Kreislaufsystem, den Blutdruck, die Atmung und das Gedächtnis, das Stressniveau oder die Hormone haben. Sie können Schmerzen und Übelkeit ebenso positiv beeinflussen wie Ängste oder Niedergeschlagenheit, Menstruationsprobleme oder Schlafstörungen.
In alternativen oder komplementären Heilverfahren ebenso wie im Wellnessbereich werden Aromatherapien heute zur Stärkung des Wohlbefindens verwendet, aber auch als therapeutische Unterstützung verwendet. Sie finden als Hautcremes, Öle, Duftessenzen in Verdunstern oder offenen Behältern eine breite Anwendung.
»Duftmarken« im Warenverkehr
Duftstoffe in Parfüms und Kosmetika gehören heute zur Betonung der persönlichen Duftnote im vermeintlich geruchsneutralen Alltag. Gerüche lassen sich bekanntlich nur schwer in angemessene eigene Worte fassen und werden meist bildreich umschrieben. Dies stellt für die Werbung von Parfüms und Duftstoffen eine Herausforderung dar. Um dieser zu begegnen, ist die Werbung auf Stilmittel der Bildersprache und der Provokation von Fantasien angewiesen. Beworben werden die Wirkung der Duftstoffe und die damit suggerierten, symbolischen »Images« und (Selbst-)Gefühle wie »Attraktivität«, Eleganz, Sex-Appeal und Coolness. Dabei haben sich seit den 1960er-Jahren die klassischen Geschlechtstypisierungen der Duftmarken immer mehr vermischt.
Die vermeintlich direkte Wirkung der Gerüche auf das Befinden und die Erinnerung der Menschen hat auch die gezielte Anwendung von Düften in öffentlichen Räumen befördert. Im Marketing von Shoppingmalls und Hoteldesignern macht sich dies zunehmend bemerkbar. Es gilt dort, eine wohlriechende, angenehme und entspannte Atmosphäre zu schaffen (nach dem Motto: »Gefühle verkaufen sich«). Durch die Betonung von Gerüchen sollen Verbraucher enger an bestimmte Marken gebunden werden. Es gilt, die Überzeugungskraft des Duftes zu nutzen und bestimmte »Kosmologien« für die Gestaltung von Innenräumen zu nutzen. Geruchsmarketing ist meistens eine subtile Angelegenheit, die einerseits nicht aufdringlich erscheinen darf und andererseits wirksam sein soll. Zitronen- oder Tannengeruch sollen erfrischen und den Eindruck von natürlicher Sauberkeit und Gepflegtheit verstärken. Minze oder Lavendel sollen beruhigend auf die Kunden wirken. Aromen und Geruchsstoffe sollen die Kunden emotional mit Produkten und an Orten »verwöhnen«, damit sie sich letztlich an sie gewöhnen und sich dort »heimisch« fühlen.
Die Nase in den Wind halten
Vom scheinbar niederen, animalischen Sinn hat sich der Geruchssinn in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen in luftigere Höhen entwickelt. Er ist sozial aus der peinlichen Rolle des Gestanks befreit und desodoriert (»entrochen«) worden. Da Menschen ihren eigenen Körpergeruch kaum selbst wahrnehmen, hat man sie öffentlich, manchmal in geschickt beworbener Manipulation, darauf hingewiesen, dass andere sie riechen und dass ihre subtilen Ausdünstungen und Duftmarken erhebliche Auswirkungen auf ihre mögliche Attraktivität, Partnerwahl oder Berufsaussichten haben könnten.
Aus dieser allgemeinen Verunsicherung ist eine neue »aromatisierte Welt« entstanden, in der wir von früh bis spät synthetisierte Aromen schmecken und Düfte atmen, meist ohne die Vielfalt dieser Gerüche überhaupt noch wahrzunehmen.
Sich selber eine feine Nase, einen Sinn für die duftenden Sinnlichkeiten zu erhalten, jenseits des Desodorierens oder Überduftens von Um- und Mitweltgestank, kann Freude und neue Erkenntnisse schenken.