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BERÜHREN –

Die Welt ertasten und empfinden

Der Tastsinn ist die Grundlage aller übrigen Sinne. Es ist offensichtlich, dass das Organ des Tastsinns im gesamten Körper ausgebreitet ist und dass ein jedes Sinnesorgan zugleich ein Tastorgan ist und dass das, weswegen etwas sinnlich genannt wird, der Tastsinn ist.

Thomas von Aquin, De anima II, 19

Hautsinn und Berührungsqualitäten

Berührungen stehen am Beginn unseres Lebens und Erlebens. Bereits ab der achten Woche der Schwangerschaft reagiert ein kaum zwei Zentimeter großer Embryo auf Berührungsreize. Auf diesen Empfindungen bauen alle anderen Sinne auf. In der Haut, aber auch in allen Schleimhäuten, Muskeln und Gelenken befinden sich Empfängerzellen (Rezeptoren), welche beständig Berührungen an unser Gehirn melden. Dort werden diese gebündelt und vermitteln uns Informationen über den aktuellen Zustand des Körpers. Sie ermöglichen uns, dass wir uns im Raum und der Umwelt orientieren.

Die Haut ist Verteidigungslinie gegen Gefahren aus der Umwelt und erlaubt unmittelbare Verbindung mit der Welt. Berührungen informieren uns und können spontane Reflexe provozieren. Wir lernen aus Berührungen und können uns mit ihrer Hilfe vorstellen, wie sich ein spitzer Stein oder eine heiße Kartoffel anfühlen. Wir wählen den uns angenehmen Kleiderstoff oder wissen um die Kraft, die wir benötigen, um den Verschluss einer Tube zu öffnen.

Berührungen sind lebensnotwendig und lösen Gefühle aus. Beispiele dafür sind ein zartes Streicheln über den Kopf des Kindes, ein aufmunternder Klaps auf den Rücken, ein kräftiger Händedruck, ein Schubser, der Aufmerksamkeit fordert, ein sinnlicher Hautkontakt, ein zarter Kuss oder eine sexuelle Berührung. Medizinische und therapeutische Berührungen nutzen gezielt deren heilsamen Wirkungen.

Die wenigsten Berührungen sind uns im Alltag bewusst. So bleiben etwa die Kontakte unserer Füße mit dem Boden, Berührungen mit dem Stuhl, auf dem wir sitzen, die Kleidung auf unserer Haut, die vielen Selbstberührungen oder die Zimmertemperatur meistens im Hintergrund unserer Aufmerksamkeit. Erst wenn wir stolpern, wenn die Unterlage ungewohnt ist, die Kleidung drückt oder kratzt oder die Temperatur stärker abweicht, merken wir auf.

Der Kulturanthropologe David Howes hat beschrieben, dass bei abgelegeneren, naturnahen Kulturen ein »Hautwissen« besteht, das diesen Menschen erlaubt, sich mit ihrem subtilen Gespür für Sonne, Wind, Regen und Wald zu orientieren. In unserer Welt erscheint dies »exotisch und primitiv« zu sein.

Soziale, kulturelle oder klimatische Einflüsse beeinflussen die Qualitäten des Hautsinns, wie etwa die Art der Kleidung. In frühen Kulturen trugen die Menschen zum Schutz gegen die Widrigkeiten der Natur Tierfelle oder pflanzliche Fasern. Spätere Kulturen erfanden Web-, Knüpf- und Nähtechniken, um andere Materialien zu neuer Kleidung zu verarbeiten. Auch in der Auswahl der Kleidungsstoffe drückten sich soziale Unterschiede aus. Seide und Samt blieben meist der Oberschicht vorbehalten, Leinen und derbe Wolle trugen die anderen. Heute beeinflussen dies »der Markt«, die Werbung und die Mode.

Im Mittelalter war zwischenmenschlicher Körperkontakt als Wärmespender zwingend nötig. Man rückte eng ums Feuer zusammen und schlief zu mehreren aneinandergedrängt in einer Bettstatt. Die Erfindung von Kaminen, Heizungen und Fensterscheiben erlaubte später die Separierung von individuellen Schlafräumen. Es entwickelten sich größere körperliche Distanz und eine allgemeine Verringerung des alltäglichen Körperkontakts. Heute versuchen wir, im öffentlichen Raum Körperkontakte tunlichst zu vermeiden. Bei jeder zufälligen Berührung durch Fremde erfolgt rasch eine Entschuldigung.

Berührungen haben persönliche und häufig auch intime Qualitäten. Sie können Ambivalenz und Unsicherheit darüber beinhalten, welche Berührungen gesucht, erwünscht, ersehnt oder auch befürchtet werden. Dementsprechend benötigen sie Feingefühl, Respekt und Differenzierung. Bei allen Berührungen ist es wichtig, wie und mit welcher Absicht man jemanden berührt. Bei mangelndem Einverständnis können Berührungen übergriffig sein und nachhaltig verletzen.

Zukunftsforscher sprachen vor drei Jahrzehnten vom bevorstehenden Zeitalter von »High Tech« und »High Touch« (John Naisbitt). Inzwischen bringen Individualisierung und Vereinsamung vieler Menschen steigende Spannungen in unserer Gesellschaft zwischen Berührungshunger und Berührungsängsten mit sich. Immer mehr Menschen nutzen die Haut als Objekt für demonstrative Zurschaustellungen von Gemälden und Absichtserklärungen durch Tattoos. Es entstehen »Kuschelclubs«, als neue Dienstleistungen der Vermittlung von vorübergehender Nähe. In Wellnessoasen haben Berührungsangebote Hochbetrieb. Zur gleichen Zeit werden durch die »me too«-Debatte Übergriffe gegen Frauen in Institutionen und in der Kulturindustrie öffentlich gemacht. Auch in ärztlichen Behandlungen oder in Körper- und Psychotherapien kommen Übergriffe vor. An Schulen und in Arztpraxen wird Gewalt und Verrohung geklagt.

Die Wissenschaft hat sich lange Zeit kaum mit Berührung, Haut und Tastsinnen beschäftigt. Seit einigen Jahrzehnten hat sich dies deutlich geändert. Unterschiedliche Forschungsgebiete wie Neurowissenschaften, Medizin, Sozialpsychologie, Kognitionswissenschaften, Kulturanthropologie, Ingenieurwissenschaften, Ergonomie, Kunst, Design, Marketing, Robotik, virtuelle Realität und technische Kommunikationswissenschaften untersuchen heute das Tastsystem (A. Galace, M. Spence, 2008). Sie erkennen dabei, wie wichtig Berührungen für die Entwicklung von Frühgeborenen sind oder dass einfühlsame Berührungen angstlösend, schlaffördernd und depressionsmindernd wirken. In der Behandlung von chronischen Schmerzzuständen zeigen Berührungen ebenso Erfolge wie in der Prophylaxe der Alzheimerkrankheit.

Zugleich widmen sie sich neuen Fragen des Tastsinns. Im Kontext von modernen Technologien und Virtualisierung werden Möglichkeiten von tast- und greifsensibleren Robotern sowie von »technisch vermittelten Berührungen in virtuellen Welten« gesucht.

Die Vorstellung der Erschaffung des Menschen durch Berührung

Anfang des 16. Jahrhunderts malte Michelangelo ein riesiges Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle des Vatikans. In dessen Mitte rückte er die »Erschaffung Adams«. Der Bibel zufolge hauchte Gott dem von ihm aus Lehm geformten Adam Leben durch seinen Atem ein. Im Unterschied dazu überträgt Gott in Michelangelos Gemälde seine Lebenskraft dem Adam durch Berührung. Dieser Berührungskontakt ist aber nicht direkt, sondern geschieht über einen »Zwischenraum«. Die Hände der beiden Figuren berühren sich nicht, sondern laufen direkt aufeinander zu. Die Berührung springt wie ein Funke auf Adam über.

Der griechische Philosoph Aristoteles hat postuliert, dass bei jeder Berührung »ein Zwischenraum« das Berührende vom Berührten trenne. Es sei dieser »Zwischenraum« der eine Berührungsempfindung erst möglich mache. »In diesem subjektiv nicht wahrnehmbaren Raum zwischen dem Berührenden und dem Berührten kann ein Körper, wie nahe er auch sei, als vom anderen verschieden empfunden werden« (Daniel Heller-Rozin).


Im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Theorien des 17./18. Jahrhunderts zum »Elektromagnetismus« versuchte der Arzt und Hypnotiseur Franz Messmer (1734–1815) mithilfe des »animalischen Magnetismus« bestehende »Ungleichgewichte im Nervenhaushalt« seiner Patienten durch indirekte Berührungen zu beseitigen.

Berührung als Übertragung von heilsamen »Energien«

Wir sprechen davon, dass uns etwas »tief berührt« oder »ans Herz greift«, ohne dass dabei eine direkte physische Berührung erfolgte. Der erwähnte »Zwischenraum« wird auch bei der Übertragung von »heilsamen Energien« in traditionellen Heilkunden oder in der frühen Hypnose durch den »animalischen Magnetismus« des österreichischen Arztes Franz Messmer betont.

In manchen Berührungstechniken, wie der in der amerikanischen Krankenpflege weit verbreiteten »therapeutic touch« (Dolores Krieger) sind solche »Zwischenräume« Teil der Methode. Auch wenn die Verwendung des Energiebegriffs oft nebulös und esoterisch erfolgt, so bleiben Überlegungen zu modernen physikalischen »Feldtheorien« oder biologischen, »morphogenetischen Feldern« (Rupert Sheldrake) weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

Zum philosophischen Diskurs über den »Tast-« und »Gemeinsinn«

Der kanadische Philosoph Mathew Fulkerson stellt die Frage, ob der Tastsinn »einen oder viele Sinne gleichzeitig« umfasst, da er nicht, wie die anderen Sinne, nur ein einzelnes, besonderes Sinnesorgan besitze. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Tastsinn eine Vielfalt von Sinnesrezeptoren und Sin neskanälen einschließt, die wir als »Form, Schwere, Bewegungsempfindungen, Temperatur oder Schmerz« wahrnehmen können. Wir »berühren« mit dem ganzen Körper. Eine weitere Qualität des Tastsinns sind dessen Bewertungen in »angenehm oder unangenehm«. Berührungen sind wichtige Faktoren im sozialen Zusammenleben, menschlichen Wachstum oder der Entwicklung von immunologischen Abwehrkräften. Der Tastsinn kann nach dem zeitgenössischen Wissensstand nicht mehr ausschließlich mit Wahrnehmungen über die Haut gleichgesetzt werden. Stattdessen geht man heute von einen »Tastsystem« aus.

Bereits in der griechischen Philosophie hatte das »Tastgefühl«, als möglicher »Gemeinsinn«, eine zentrale Bedeutung. Der amerikanische Philosoph Daniel Heller-Rozan hat 2007 dazu eine Monografie mit dem Titel The inner touch: Archeology of a Sensation verfasst. Er schreibt: »Es ist die Erfahrung eines Sinnes, der von allen Sinnen geteilt und, wie schwach und lückenhaft auch immer, bei allem sinnlichen Wahrnehmen empfunden wird: die Empfindung des Empfindens als solchem, mit der wir uns dem allgemeinen Leben ausgesetzt fühlen, durch das und zu dem alle Wesen gelangen, »man weiß selbst nicht wie«.

In der griechischen Philosophie wurde der Begriff der »aisthesis« verwendet, der in seinen Bedeutungen wie »Empfindung«, »Wahrnehmung« oder »Gefühl« den Philosophen der nachfolgenden Generationen weiterhin Kopfzerbrechen bereitet. Allgemein können Tastempfindungen als »Körpereindrücke« verstanden werden, also das, was auf Menschen einwirkt. Aristoteles bezog »Sinneswahrnehmungen« auf vier Dimensionen: auf das Wahrnehmungsvermögen, das Sinnesorgan selbst, das, was wahrnehmbar ist und auf das aktuelle Wahrnehmungsereignis. Der Tastsinn war nach seiner Ansicht für alle Lebewesen das erste Wahrnehmungsvermögen. Sinnliches Leben entstehe mit dem Tastsinn, und dieser begründe die übrigen vier Sinne (Riechen, Schmecken, Hören und Sehen). Der Tastsinn besitze kein besonderes Sinnesorgan, denn der ganze Körper, nicht nur die äußere Haut, empfinde Tasteindrücke. Mit diesem nehme man Eindrücke nicht »auf« der Haut oder in Muskeln und Gelenken, sondern immer »zusammen« mit diesen wahr. Der Tastsinn empfinde viele verschiedene Qualitäten zugleich, wie »warm, kalt, trocken, rau, weich« und dergleichen mehr. Schließlich geht Aristoteles von der Existenz einer einheitlichen Kraft »der Seele« aus, durch die alles wahrgenommen, verbunden und verglichen werde, was die fünf Sinne erfassen. Dieses »Eine« komme dem Tastsinn zu, der als »Gemeinsinn« für das »Gewahren und Selbstgewahren« verantwortlich sei. »Und wenn das Bewusstsein, mit einem Wort, eine Unterart von Berührung und Kontakt im buchstäblichen Sinn wäre, ›ein innerer Tastsinn‹, wie die Stoiker von dem ›Gemeinsinn‹ gesagt haben sollen, mit dem wir uns selbst wahrnehmen?«, fragt Daniel Heller-Rozin.

Die amerikanische Philosophin Renee Weber sieht bei Aristoteles Bezüge zwischen Berührungen und »inneren Empfindung des Herzens« (»irgendetwas tief drinnen im wahrnehmenden Subjekt«). Sie verweist darauf, dass die griechischen Philosophen noch keine »Bewusstseinsinstanz« sahen, bei der, wie später im 17. Jahrhundert bei Descartes, das »Denken« (»cogito«) ausschließlich dem Einzelnen zugänglich ist. Renee Weber betont die Unterschiede zwischen dem frühen griechischen Verständnis des Tastsinns und den englischen Sensualisten des 18. Jahrhunderts, wie etwa David Hume. Nach deren Tradition wäre nichts außer den körperlichen Sinneseindrücken wirklich real. Alle Gedanken wären demnach nur Abänderungen von Sinneseindrücken. Die Empfänger von ambivalenten oder unklaren Berührungen dürften nach Ansicht der englischen Sensualisten solche auch nicht empfinden. Jeder von uns weiß aber aus eigener Erfahrung, wie häufig Unklarheiten bei Berührungen auftreten können. Renee Weber verweist auf Immanuel Kant und dessen Kritik der reinen Vernunft im 19. Jahrhundert: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«

Berührung als biologischer Prozess und als zwischenmenschliches Geschehen

Heute wissen wir immer mehr über die Zusammenhänge der Biologie der Berührung. Durch Erforschungen der Interaktionen von physikalischen und chemischen Vorgängen, Rezeptoren und Nervenleitungen sowie Wechselwirkungen zwischen Reizen und Reaktionen wird der Tastsinn zusehends entschlüsselt.

Angesichts der Faszination von naturwissenschaftlichen Berührungsforschungen werden häufig die qualitativen Unterschiede vergessen, die zwischen der »sachlich- distanzierten« Berührung von Dingen und den »komplexen, subjektiven Empfindungen« in zwischenmenschlichen Berührungen bestehen.

Die neurobiologischen Reaktionen auf Berührungsreize oder die feinen Wahrnehmungen durch unterschiedliche Rezeptoren können objektiv vermessen und beschrieben werden. Wie ein Individuum Berührungsreize aufnimmt, was diese in ihm bewirken, wie es diese erlebt, bewertet und beantwortet, lässt sich aber nicht nur in allgemeinen, linear-kausalen Regeln festhalten.

Wir empfinden Berührungen auf der Haut und im gesamten Körper. Wissenschaftler unterteilen diese Wahrnehmungen in »Extero-, Intero- und Propriozeption«. Diese unterschiedlichen Prozesse werden ständig abgeglichen und integriert. Wie dies geschieht, ob über die »Seele«, einen »Gemeinsinn«, der sich aus dem »Berührungsgefühl« ableiten könnte, oder über neurobiologische Netzwerke im Gehirn mittels einzelner Strukturen wie etwa dem »Inselorgan« (Insula), darüber gehen die Ansichten auseinander.

In zwischenmenschlichen Berührungen sind individuelle Lebensgeschichten und soziokulturelle Lebenszusammenhänge wichtig. Diese bewegen sich zwischen Extremen wie »Berührungsmangel und Berührungshunger« auf der einen Seite sowie »Berührungsübergriffen und Berührungsängsten« auf der anderen. In öffentlichen Debatten finden sich sowohl Positionen für die gesundheitsfördernden Wirkungen von heilsamen Berührungen als auch solche, die vor traumatischen und krankmachenden Folgen von gewaltsamen Berührungen warnen. Als Folge zunehmender sozialer Vereinzelung wird mehr Berührungsmangel beklagt. Mit »käuflichen oder therapeutischen Dienstleistungen« kann dem nur begrenzt abgeholfen werden.

Haut und Berührung in der Umgangssprache

Die Haut ist eine persönliche »Grenze«. Man fühlt sich »in seiner Haut wohl« oder »unwohl«, möchte »mit heiler Haut« davonkommen, oder man »fürchtet sich um seine Haut«. In Anlehnung an das Tierreich wird die Haut auch als »Fell« oder »Pelz« bezeichnet, wenn man jemandem »den Pelz waschen« oder »das Fell über die Ohren ziehen« möchte. Manchmal steht die Haut als pars pro toto für den ganzen Menschen. Wir sprechen von einer »ehrlichen Haut« oder einer »feigen Haut«. Sensible Menschen nennen wir »dünnhäutig«. Unempfindliche, belastbare Menschen haben dagegen ein »dickes Fell«. Manche Menschen müssen vorsichtig und »mit Samthandschuhen« angefasst werden.

Wer engagiert ist, der tut etwas »mit Haut und Haaren«. »Nicht aus seiner Haut herauszukönnen« bedeutet, dass es einem schwerfällt, sich zu ändern. Wenn ein anderer Mensch Probleme hat, dann möchte man »nicht in seiner Haut stecken«. Ärger kann einem das Gefühl verschaffen, dass man »aus der Haut fahren« möchte. Bei starken Emotionen läuft einem »ein Schauer über die Haut«, man bekommt eine »Gänsehaut« und »etwas geht einem unter die Haut«. Jemandem, der unnötig Streit sucht, »juckt das Fell«. Wer sich verteidigt, »wehrt sich seiner Haut« oder »verkauft seine Haut so teuer wie möglich«. In schwierigen Situationen, aber auch im »leichten Gewerbe«, »trägt man seine Haut zu Markte«. Leicht bekleidete Frauen »zeigen zu viel Haut«. Wer stark abgemagert ist, ist »nur noch Haut und Knochen«. Der innere Gemütszustand lässt uns »erröten, erblassen oder erbleichen«.

Berühren »rührt an«, bewegt äußerlich und innerlich. Es wird umschrieben als »Anfassen, Anlangen oder Angreifen«. Berührungen können »beruhigen, besänftigen, aufregen, aufwühlen, bewegen, erschüttern, mitnehmen, nahegehen« oder »einen nicht tangieren«. Was einen »tief berührt«, »rührt einen manchmal zu Tränen«. Was schiefläuft, kann »peinlich berühren«. Man kommt mit anderen Menschen oder Dingen »in Berührung« – »versehentlich, zufällig, behutsam, zart, leicht oder derb«. Was anrührt, kann »rührselig« und übertrieben »gefühlvoll« werden. Wenn man etwas »kurz streift«, dann heißt es, man habe das »Thema berührt«.

»Tasten« ist eine eher behutsame, vorsichtige, prüfende, nach Erkenntnis strebende Berührungsqualität. Sie wird beschrieben als »ab-, an-, be-, er-, heran-, entlang-, voran- oder vortasten«. Unsensible Tastversuche nennen wir »befingern, befummeln, betatschen oder begrapschen«. Das englische Wort »to taste« stammt aus der gleichen sprachlichen Wurzel wie das deutsche »tasten«. Es bedeutet zugleich auch »schmecken und kosten«.

Je nach der eigenen »Berührungsgeschichte« ist man bei zwischenmenschlichen Kontakten, »gerührt«, »ergriffen«, »gefasst« oder findet etwas »unfassbar«. Es geht um das »An- oder Zupacken«. Für die erkennende Vernunft verwenden wir den bildlichen Begriff des »Be-greifens«.

Die naturwissenschaftliche Erforschung des Tastsinns

Bereits 1741 hatte der Anatom Abraham Vater erstmals auf kleine Sinnesrezeptoren für Vibration und Erschütterungen in der Haut hingewiesen. Diese wurden 1836 vom Anatomen Filippo Pacini differenziert beschrieben und schließlich als »Vater-Pacini-Körperchen« benannt. Weitere feingewebliche Untersuchungen brachten die »Mechanorezeptoren« des Tastsinns ans Licht. 1852 beschrieb der Anatom Georg Meissner die »Meissnerzellen«, die als »Druckrezeptoren« fungieren. 1875 fand der Anatom Friedrich Merkel die »Merkelkörperchen«, die eine weitere Gruppe von »Druckrezeptoren« in der Haut darstellen. »Dehnungsrezeptoren« der Haut und in den Gelenken wurden 1896 vom Anatomen Angelo Ruffini beschrieben. Zusammen mit den später entdeckten »freien Nervenendigungen« für die Wahrnehmung von Temperaturunterschieden betreffen all diese Rezeptoren aktive Tastwahrnehmungen, vor allem in Oberflächen von Händen, Fingern und Fußsohlen. Solche Rezeptoren wurden inzwischen auch auf den Oberflächen der inneren Schleimhäute, Organe und Knochen entdeckt.

Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Anatom und Physiologe Ernst H. Weber, der als Begründer der Psychophysik gilt, geschrieben: »Als haptische Wahrnehmung bezeichnet man das ›Begreifen‹ im Wortsinne, also die Wahrnehmung durch aktive Exploration im Unterschied zur taktilen Wahrnehmung, bei der das berührte Objekt unbewegt bleibt.« Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Biologe Ernst Haeckel entdeckt, dass bereits einzellige Organismen auf chemische und haptische Reize reagieren, obwohl sie noch kein Nervensystem besitzen. Er sprach davon, dass diese »Fluchtreaktionen« der Einzeller ein »internes Abbild zur Erhaltung des eigenen Organismus« voraussetzen. Auch Ernst Haeckel vermutete den Ursprung aller Sinne in der Haut.

Die Haut als »Sinnesorgan«

Unsere Haut ist die knapp zwei Quadratmeter große Hülle des Körpers. In unterschiedlicher Dichte beherbergt sie viele Hundert Millionen unterschiedlicher Fühler (»Rezeptoren«). Diese benachrichtigen uns über Berührungen und unterschiedliche physikalische Phänomene wie Hitze, UV-Strahlung, mechanischen Druck oder Reibungen. Unsere Haut ist Teil der Regulierung des Wasser- und Temperaturhaushalts unseres Körpers. Sie bietet chemischen Schutz und ist mit einem Fettfilm überzogen, der Säuren abmildert. Die intakten Strukturen der Haut verhindern das Eindringen von Mikroorganismen. Wir wissen heute, dass sich auf der Oberfläche unserer Haut, inklusive unserer inneren »Schleimhäute«, mehr fremde Zellen befinden, als wir insgesamt eigene Zellen haben. Dieses symbiotische Zusammenleben mit anderen Lebewesen ist für uns »überlebenswichtig. Andere Mikroben können uns gleichzeitig bei Abwehrschwächen oder Verletzungen der Haut bedrohen. Dann ist es umso wichtiger, dass diese rasch von anderen Zellen »repariert« werden. Im Rahmen der Immunabwehr hat die Haut wichtige Aufgaben.

Mithilfe des Tastsinns berühren wir ein breites Spektrum unserer Mit- und Umwelt von der Nahrungsaufnahme bis zum Gehen, von zufälligen Begegnungen mit Fremden bis zum intimen Kontakt. Wir sprechen noch vom »Tastsinn«, aber in der Wissenschaft wird heute vom »Tastsinne-System« geredet. Zum einen nehmen wir passiv Berührungen unseres Körpers wahr (»taktile« Wahrnehmungen, lat. »tangere«: tasten, befühlen), zum andern können wir durch aktive Bewegungen Reizstrukturen erkunden und »begreifen« (haptisch, griech. »haptein«: berühren, angreifen).

Tast- und Druckrezeptoren vermitteln uns einen fortlaufenden Eindruck (»Interozeption«) über unseren Körper. Dieses innere »Tastempfinden« bildet den Referenzpunkt für unsere äußeren Wahrnehmungen. Das Geschehen der unbewusst ablaufenden körperlichen Veränderungen bezeichnet der Neurobiolge Antonio Damasio als »Proto-Selbst«. Dieses entwickle sich lebenslang und diene immer wieder neu als Bezugspunkt für unsere Wahrnehmungen. »Jede Wahrnehmung ist eine Schöpfung, jede Erinnerung auch eine Neuschöpfung – alles Erinnern ist in-Beziehung-setzen, verallgemeinern, neu kategorisieren. In einem solchen Verständnis haben starre, unveränderliche Erinnerungen, hat die ›reine‹ Auffassung von einer, nicht durch die Gegenwart verzerrten Vergangenheit keinen Platz.« (Oliver Sacks)

Der Neurowissenschaftler David Linden schreibt in seinem Buch Touch: The science of the sense, that makes us human: »In den letzten Jahren haben wir geradezu eine Explosion in unserem wissenschaftlichen Verständnis von Berührung erlebt.« Diese optimistische Einschätzung wird von anderen Forschergruppen (Francis McGlone, Hakan Olofsson) geteilt. Mithilfe neuer Technologien hat die Forschung herausgefunden, dass es zwei parallel arbeitende Berührungssysteme gibt.

Historisch hatte die Forschung den Tastsinn vor allem auf seine »taktilen Unterscheidungsfähigkeiten« hin untersucht. Diese nehmen vor allem Bezug auf Mechanorezeptoren im Bereich der Hände und Füße. Deren Funktionen werden dem »schnellen, ersten Berührungssystem« zugeordnet. Solche Rezeptoren finden sich insbesondere in den unbehaarten Teilen des Körpers. Sie sind mit »A-Nervenfasern« für die Unterscheidung von Druck, Erschütterung oder Gleitfähigkeit (»haptische Informationen«) zuständig. Mit ihrer Hilfe können aktiv Unterschiede auf äußeren Oberflächen erkundet werden. Sie nehmen niedrigschwellige Reize auf und leiten diese, über sogenannte markscheibenisolierte Nervenfortsätze, rasch an das zentrale Nervensystem weiter. Ihre Geschwindigkeit ermöglicht reflexartiges Reagieren. Insgesamt umfassen die »A-Nervenfasern« etwa 25 Prozent der Tastempfindung. Die Nervenleitgeschwindigkeit der »A-Fasern« ist etwa 50-mal höher als diejenige der »C-Fasern«, die nicht mit einer Markscheibe versehen sind.

»C-Fasern« nehmen taktile Wahrnehmungen auf und sind in erster Linie für gefühlsbezogene Qualitäten der Berührung zuständig. Sie leiten sowohl angenehme Berührungen als auch Empfindungen von Schmerz, Temperatur oder Juckreiz an das Gehirn weiter. »C-Fasern« befinden sich ausschließlich in den behaarten Zonen des Körpers. Gefühlsbezogene Berührungen waren bis dahin wissenschaftlich kaum erforscht und verstanden.

Die beschriebenen Rezeptoren und Nervenleitungen finden sich nicht nur in der Haut, sondern auch in Muskeln, Faszien und Gelenken. Zudem wird die Integration ihrer Botschaften durch mentale Prozesse wie Aufmerksamkeit, subjektive Bewertung, persönliche Erinnerungen und Gefühle beeinflusst. Zwischen den Berührungsbotschaften und dem »Autonomen Nervensystem«, das eine Vielzahl von Körperfunktionen – Blutdruck, Herzaktion, Atmung, Darmtätigkeiten – reguliert, besteht ein enger Austausch. Mithilfe von »bildgebenden Verfahren« (CT, MRT, MRI) konnten Untersuchungen der Gehirnfunktionen zeigen, dass eine enge Verbindung zwischen Berührungen und deren Verarbeitung im sogenannten Inselorgan des Gehirns bestehen. Psychosomatische Wechselwirkungen bringen Veränderungen des Körperempfindens, der Spannungen in der Muskulatur, der Körperhaltung sowie der Einstellungen und Erwartungen mit sich. Selbst- und Fremdberührung können wichtige Impulse zum Spannungsausgleich bewirken.

Im Hinblick auf sinnliche Erfahrungen hat der Psychiater Erwin Strauss die Unterscheidung zwischen deren »pathischen« (griech. »pathos«: Leidenschaft, Erdulden) und »gnostischen« (griech. »gnosis«: Kenntnis, Wissen) Anteilen vorgeschlagen. »Pathisch« ist die unmittelbare, sinnliche Aufnahme von Tönen, Farben, Gerüchen oder Berührungen. »Gnostisch« ist die eher distanzierte Erkenntnis von erlebten Erfahrungen. »Pathisch« erleben wir das, was gegenwärtig geschieht. Dieses ruft, je nach unserer aktuellen Empfangs- und Reaktionsbereitschaft, eine unterschiedliche » Resonanz« in uns hervor. »Gnostisch« richten wir unsere Aufmerksamkeit eher auf die Vergangenheit und Zukunft. Wir überdenken unsere Erfahrungen, geben ihnen Richtungen, Entfernungen oder Stabilität. Es wäre aber falsch, die beiden genannten Zugangswege der sinnlichen Erfahrung strikt zu trennen, denn sie sind unterschiedliche Dimensionen unserer Gesamterfahrung.

Die Hand: empfangen, begreifen, handeln

»Mangels anderer Beweise würde mich der Daumen vom Dasein Gottes überzeugen«, sagte der Physiker Isaac Newton. Die Entwicklung der Gegenüberstellung des menschlichen Daumens gegen die Handfläche und Fingerkuppen, die Entwicklung des »Spitz«- oder »Pinzettengriffs« gilt als wichtiger Entwicklungssprung in der Menschwerdung. Es gibt kaum ein differenzierteres und vielgestaltigeres Wahrnehmungsorgan als die Hand. Inklusive Elle und Speiche umfasst die Hand 29 einzelne Knochen. Viele der 33 Muskeln, die unsere Hand bewegen, erstrecken sich vom Unterarm in die Hand hinein. Fast nirgendwo auf der Körperoberfläche hat der Tastsinn ein so hohes Auflösungsvermögen wie im Bereich von Fingern und Hand. Nirgendwo ist die Feinmotorik so genau entwickelt wie in der Präzision von Handbewegungen. In der Hand werden Berührungssinn, Eigenwahrnehmung und Wahrnehmung der Eigenbewegung so zusammengeführt, dass sie eine räumliche Vorstellung der Dreidimensionalität ermöglichen. Die Verbindungen von Hand und Hirn machen diese zu einem »Werkzeug des Geistes« (Marco Wehr/Martin Weimann).

Der Neurologe Frank Wilson hat facettenreich beschrieben, wie die Hand entscheidend zur Entwicklung des menschlichen Gehirns, der Sprache und der menschlichen Kultur beigetragen hat. Unsere Hände können zart und offen wahrnehmen, spüren und empfangen, aber auch kräftig zupacken und derb austeilen. Sie unterstützen gestenreich unsere Sprache. Viele Alltagsbegriffe nehmen Bezug auf die Hand: behandeln, verhandeln, vorhanden sein, etwas liegt auf der Hand, von der Hand in den Mund, seine Beine in die Hand nehmen, handhaben, begreifen, ergreifen, etwas in Händen halten oder aus der Hand geben, bei der Hand nehmen, kurzerhand, allerhand, alle Hände voll zu tun haben, seine Hände in Unschuld waschen oder seine Hand aufs Herz legen – dies sind nur wenige Beispiele.

Vom kindlichen Übergangsobjekt des Daumenlutschens über hilfreiche Handreichungen, das handwerkliche Gestalten und Bauen, therapeutische Behandlung bis hin zum Datenhandschuh der virtuellen Realität – überall steht die Hand im Mittelpunkt. Die haptischen Dimensionen des Tastsystems haben im Zusammenhang mit der Entwicklung von Robotern, computeranimierten Berührungen oder Bewegungen auf Distanz heute neues Interesse geweckt.

Es ist schon erstaunlich, dass Forschungen zeigen, dass die meisten Menschen ihre eigenen Hände auf Fotos nicht wiedererkennen konnten. Vielleicht hilft es, wenn wir unseren Händen öfters ein paar Momente der liebevollen Aufmerksamkeit widmen, sie betrachten, reiben, kneten und bewundern.

Die embryonale Entwicklung von Haut und Tastsinn

Jede einzelne Zelle ist dazu in der Lage, physikalische oder chemische Veränderungen an der eigenen Oberfläche zu registrieren und sich durch Eigenbewegungen an diese anzupassen. Der Biologe Gregory Bateson hat poetisch angemerkt, dass jede Zelle mit den anderen Zellen durch Berührungen zusammenarbeite. Man könne fast sagen, dass sie sich umarmen.

Die biologische Entwicklungsgeschichte (Embryologie) der Haut und des Hautsinnes beginnt mit der Ausbildung der Keimblätter des menschlichen Embryos. Aus der äußeren Haut, dem Ektoderm, entwickelt sich die obere Schicht, die Epidermis. Aus dieser Schicht entwickelt sich auch das Nervengewebe. In einem langen Prozess von Zellwanderungen werden unterschiedliche Fühler (Rezeptoren) für Druck, Wärme und Schmerz sowie das »Jucksystem« in die darunterliegende Schicht des Mesoderms (mittlere Haut) ausgebildet. Im subkutanen Gewebe, der Unterhaut, bilden sich versorgende Blutgefäße und das Fettgewebe zur Flüssigkeits- und Wärmeregulierung.

Embryologische und Ultraschalluntersuchungen konnten zeigen, dass der nur knapp zweieinhalb Zentimeter große Embryo bereits ab der achten Schwangerschaftswoche mit einer Ganzkörperbewegung auf Berührungsreize in einem Lippenbereich reagiert. Diese Fähigkeit, die noch vor der Ausbildung aller inneren Organe existiert, kann als biologischer Beweis dafür gelten, dass sich das Tastsystem als erstes Wahrnehmungssystem entwickelt und sich frühzeitig enge Verbindungen zwischen Empfinden und Bewegen entwickeln. Bis zur 14. Schwangerschaftswoche dehnt sich diese Berührungssensibilität auf alle Körperregionen des Embryos aus. Ab der 12. bis 13. Schwangerschaftswoche sind bei ihm zielgerichtete Greifbewegungen der sich ausbildenden Hände zu beobachten. Diese Greifbewegungen finden unter Ausschluss jeglicher visueller Information statt.

Der Berührungsforscher Martin Grunwald hat die Entwicklungsbewegungen und Berührungserfahrungen des Embryos dargestellt (Martin Grunwald, 2017). Er geht davon aus, dass tastbasierte Erfahrungen des Embryos eine basale »neuronale Matrix im Gehirn« bilden. Im mütterlichen Fruchtwasser erfährt sich der bewegende Embryo mithilfe seines Tastsinns als Organismus im Raum und entwickelt ein erstes Körperschema. Berührungen sind eine wichtige Bedingung für zielgerichtete Bewegungen der Körperglieder. Winzige Sensoren in Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken senden auch im Ruhezustand ständig elektrische Impulse aus, die über die Positionen und die Lage der Körperglieder informieren. Berührungserfahrungen können als Bezugspunkte für die anderen Sinnessysteme dienen.

Die zahlreichen Selbstberührungen des Embryos können als Beruhigungsmöglichkeiten verstanden werden. Vor allem die Mundregion, die besonders dicht mit Tastrezeptoren und Bewegungsmöglichkeiten versehen ist, wird vom wachsenden Embryo betastet und bewegt, auch als Vorbereitung auf die Nahrungsaufnahme nach der Geburt.

Vor der Geburt bilden Zellen der Haut die sogenannte Käseschmiere, die die Haut des Embryos vor möglichen Schädigungen durch das Fruchtwasser schützt und als Gleitfilm für den Geburtsvorgang dient.

Nach der Geburt dienen tastende Erforschungen vor allem der Mundregion dem Säugling als Bezugspunkte seiner weiteren Bewegungsentwicklung. Die Berührungen zwischen ihm und der Mutter tragen zur Entwicklung seines psychischen Befindens bei. Aus phänomenologischer Sicht hat der Psychiater Thomas Fuchs darauf verwiesen, dass die Erfahrung des Widerstands in der Berührung hilft, die eigenen körperlichen Grenzen, den Übergang »vom Leib zum Körper« als eigenem »Körperschema« zu entwickeln. »An den Grenzen der gespürten Leiblichkeit taucht das zentrale Phänomen des Widerstands auf: In Berührung, Druck oder Stoß, beim Kauen oder Schlucken, bei der Defäkation, als Gegenrichtung des Bodens im Liegen oder Stehen. Widerstand bedeutet Gegenwirkung zu einer vordringenden leiblichen Richtung«. Tastend begegnen wir dem »anderen«, das uns zugleich fremd und verwandt scheint. Das »Fremde«, das uns berührt und das wir berühren, hinterlässt in uns »Eindrücke«. Diese sind nicht nur mechanisch, sondern haben auch Gefühlsqualitäten. Berührungsreize vermischen sich mit anderen Sinneswahrnehmungen und Gedächtnisinhalten, mit Handlungsabsichten, Erwartungen und Gefühlsbewertungen.

Psychobiologische Konsequenzen von Nähe und Berührung

Biochemie und Neurochemie waren die Grundlagen für die Arbeiten des Primatenforschers Harry Harlow. Mithilfe von technischen »Surrogat-Müttern« konnte er erstmals die fundamentale Bedeutung von mütterlicher Berührung und Zuwendung für die Entwicklung des Wachstums von Säuglingen nachweisen. Seine Forschungen über »Kontakttröstungen« bei jungen Primaten zeigten, dass Berührungen ein hochwirksamer, biologischer Ausdruck von mütterlicher Liebe sind. Seine Mutter-Kind-Experimente mit Affenbabys förderten wichtige Umwälzungen in der Psychologie des 20. Jahrhunderts.

Der Zeitgeist der Laborforschung war in den 50er-Jahren stark von technischen Apparaturen dominiert. In diesen Forschungen zur existenziellen Bedeutung von körperlicher Berührung wurden viele Jungtiere durchaus malträtiert, um dadurch größere Aufmerksamkeit für die Bedeutung der behutsamen Erziehung von Menschenkindern zu ermöglichen (Donna Haraway). Harlows Arbeiten wurden wegen ihrer drastischen Forschungsmethoden auch kritisiert. Sie fanden jedoch in einem kulturellen Klima statt, in dem von wissenschaftlicher Seite noch häufig und lautstark eine »distanzierte« mütterliche Liebe für notwendig befunden wurde. Sie sollte stattdessen auf einer »neutralen Nähe« basieren, denn zu viele Berührungen, so hieß es, würden kleine Kinder nur »verweichlichen« und »Abhängigkeitsprobleme erzeugen«.

Der Psychologe und Endokrinologe Seymour Levine konnte nachweisen, dass die Trennung junger Primaten von ihren Müttern zu erheblichen pathologischen Veränderungen ihrer Stresshormone führte. Wenn die jungen Primaten anschließend mit ihren Müttern wieder vereint wurden, zeigte sich rasch eine Rückentwicklung der ausgeschütteten Stresshormone sowohl bei den Jungen als auch bei ihren Müttern. Weitere Arbeiten der Berührungsforschung zeigten, dass Frühgeborene, die mehrmals am Tag für einige Minuten sanft massiert werden, deutlich schneller an Gewicht und Kraft zunehmen. Diese Berührungen fördern eine schnellere Reifung des Nervensystems.

Schritt für Schritt wurden Berührungen immer mehr als wichtiger Faktor des menschlichen Überlebens verstanden. Forschungen über die Wechselwirkungen der Mutter-Kind-Beziehungen, unterstützt durch psychoanalytische Beobachtungen in der Säuglingsforschung (John Bowlby, Rene Spitz, Daniel Stern), zeigten praktische Möglichkeiten für eine verbesserte Gestaltung des »Bindungsverhaltens« zwischen Müttern und ihren Kindern auf.

Soziologisch sind die psychobiologischen Forschungen als Teil eines sich insgesamt verändernden Klimas der amerikanischen Gesellschaft zu verstehen, das seit den späten Jahren des Zweiten Weltkriegs eine zunehmende »Psychologisierung« (Eva Illouz) der Erziehung, der sozialen Interaktionen und der Gestaltung von Arbeitsplätzen vorantrieb.

Bereits 1906 hatte der Engländer Henry Dale ein Hormon der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) entdeckt, das er nach einer griechischen Sprachableitung Oxytocin nannte, was so viel bedeutet wie »schnelle, leichte Geburt«. Er hatte die Rolle dieses Neuropeptids für den Geburtsverlauf und die nachfolgende mütterliche Milchproduktion beim Stillen erforscht. Dreißig Jahre später erhielt Henry Dale für seine Entdeckung den Nobelpreis für Medizin. Erst langsam wurde das gesamte Wirk- und Einflussspektrum von Oxytocin deutlicher, vor allem im Zusammenhang mit Berührungen, auch im Erwachsenenalter, mit Nähe, Vertrauen und Intimität. Oxytocin wird heute als »Gegenspieler« zu Stresshormonen und als mitverantwortlich für die Initiierung von »Ruhe und Verbindungsreaktionen« angesehen. Manche sprechen leicht ironisch von einer »Wunderdroge« (Stefanie Kara). Oxytocin kann die Serotonin-Freisetzung beeinflussen, was auch darauf hinweist, dass Berührungen eine wichtige Rolle in der Prävention und Therapie von Depressionen haben können.

Störungen des Tastsinns und psychosomatische Aspekte von Hautleiden

Nervenentzündungen oder -verletzungen, Multiple Sklerose, chronische Stoffwechselerkrankungen der Niere, Diabetes mellitus, toxische Umweltvergiftungen oder psychische Leiden können zu Störungen des Tastempfindens führen.

Der Neurobiologe António Damásio nennt die Haut »das größte aller Eingeweide« im Körper. Bei seelischen Belastungen führt die Verengung oder Erweiterung von Blutgefäßen unter der Haut dazu, dass sich »peinliches Erröten« zeigt.

In der »Psychosomatik der Haut« wird beobachtet, dass etwas zu sehr »irritiert«, »(zu) hautnah geschieht«, unbewusst »unter die Haut gegangen ist«, sodass es notwendig sei, »sich seiner Haut zu wehren« oder »seine Haut zu retten«.

Selbst zugefügte Hautverletzungen durch Ritzen und Schneiden sind bei sogenannten Borderline-Störungen häufig. Sie bringen diesen Menschen eine vorübergehende Entlastung und werden nicht in suizidaler Absicht ausgeführt (Ulrich Sasse).

Bei chronischen Überlastungen und unbewusstem Abwehrverhalten kann sich dieses mit Juckreiz paaren. Neurodermitis drückt sich in Rötung und Verfärbungen der Haut sowie in Schuppungen und unbewusst in Widerwillen und Ängsten vor Berührungen aus. Im Rahmen von psychotherapeutischen Konfliktklärungen habe ich beobachten können, wie dies für von Neurodermitis betroffene Menschen am eigenen Leibe nachvollziehbar wurde. Mit nachlassender Anspannung und Ängstlichkeit gingen die Krankheitszeichen ihrer Haut zurück. Bei manchen Behandlungen von Hauterkrankungen ist neben dem Auftragen von Salben, Cremes oder Puder kein direkter Berührungskontakt möglich. Hier kann die »Therapeutic Touch«-Methode möglicherweise helfen, eine »indirekte« Form der Berührung, die mit einem über die materielle Grenze der Haut hinausgehenden, »energetischen Feld« des menschlichen Körpers arbeitet. Durch systematische Streichbewegungen soll dieses »energetische Feld« der Haut heilsam beeinflusst werden. Auch wenn diese Phänomene wissenschaftlich noch nicht schlüssig erklärbar sind, so sind die praktisch erzielten Erfolge mit dieser Behandlungsmethode vielversprechend.

Ärztliche Berührungen

In meiner Arbeit haben Berührungen unterschiedliche Bedeutungen gehabt. Nach dem theoretischen Studium erlernte ich Techniken der körperlichen Untersuchung. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung wurden wir auf Qualitäten der Haut wie Farbe, Durchblutung, Feuchtigkeit und Narbenbildung hingewiesen. Wir lernten unpersönlich zu untersuchen, fast wie ein verlängertes Sehen.

Die ärztliche Untersuchung des entblößten Körpers erscheint uns heute selbstverständlich. Eine ganzkörperliche Untersuchung ist in der Medizin erst schrittweise seit Beginn des 19. Jahrhunderts zur Praxis geworden. Zuvor wurde eine körperliche Untersuchung als verschroben oder gar anzüglich verstanden (Roy Porter). Lange war es üblich, dass Ärzte mit ihrem Ohr direkt auf dem Körper der Patienten dessen innere Geräusche abhörten. Einen Wendepunkt brachte hier die Entwicklung des Stethoskops durch den französischen Arzt René Laennec im Jahr 1819.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Österreicher Leopold Auenbrugger eine Klopftechnik zur Verwendung des Körperschalls in der Diagnostik von Hohl- und Festorganen in der medizinischen Untersuchung entwickelt. In »lauschender Berührung« (Anna Harris) lernen Ärzte und Ärztinnen die »hohl und dumpf klingenden Körperräume« zu entdecken, Strukturen von Rippen und Lunge zu finden sowie Organe und Körperhöhlen durch deren Klang und Widerhall zu vermessen.

Die körperliche Untersuchung ist eine ritualisierte Einführung in das, was es bedeutet, Arzt oder Patient zu sein. Sie bestätigt das Recht der Ärzte, fremde Körper zu berühren sowie diagnostisch oder intervenierend in deren Inneres vorzudringen.

Das Erlernen von ärztlichen Untersuchungs- und Berührungstechniken ist ein weitgehend unpersönlicher und distanzierter Prozess. Im Vordergrund der ärztlichen Berührungen stehen Objektivierung, Ethik und Hygiene. Ich erinnere mich nicht, dass während meiner ärztlichen Ausbildung über heilsame Qualitäten von Berührungen sowie über die Bedeutung von Nähe, Kontakt oder Verbindung gesprochen wurde.

Heute wird beklagt, dass die unmittelbare, körperliche Untersuchung durch den Arzt ohne Zuhilfenahme von Instrumenten zunehmend an Wert verliert. Aus technischer Perspektive wird gleichzeitig darauf hingewiesen, dass manuelle, ärztliche Untersuchungen im Vergleich zu technischen Geräten eine geringere diagnostische Genauigkeit besitzen.

Die sorgfältige ganzkörperliche Untersuchung ist auch für geübte Ärzte zeitaufwendig. Der Zeitdruck, der heute auf Ärzten lastet, drängt manuelle körperliche Untersuchungen in den Hintergrund. Welche Qualitäten und welche zwischenmenschlichen Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung dabei verloren gehen, ist eine Debatte wert.

Unter dem Titel »Losing touch« hinterfragen kanadischen Familienärzte den Verzicht auf körperliche Untersuchung. Damit gehe ein wichtiges Stück Vertrauen und »pathisches Wissen« verloren. Diese Ärzte sprechen von einer »judgement-based care«, einer auf erfahrenen Beurteilungen beruhenden Versorgung, die alle menschlichen Sinne einschließlich der Gefühle einbeziehe und den Erfahrungen und Zukunftsvorstellungen der Patienten gebührend Aufmerksamkeit schenke. Dies könne helfen zu vermeiden, dass Ärzte vorschnell die erlebte Wirklichkeit eines spürbaren Körpers gegen die digitale Verrechnung von Körperstrukturen eintauschten (Martina Kelly u.a.).

Therapeutische Berührungen

»Die Haut ist das Organ der Grenze: Hier hört der Organismus des Individuums auf, und hier beginnt die angrenzende An- und Umwelt. So ist die Haut, da sie eine Grenzfunktion erfüllt, das Innenwelt und Außenwelt verbindende Organ. Hier geht eines in das andere über, tauscht sich eines mit dem anderen aus, wirkt eines auf das andere ein« (Hugo Kückelhaus).

Jede Berührung ist eine hautnahe Begegnung. Sie ermöglicht Kontaktaufnahme und die Überwindung von Abstand. Sie bewirkt Austausch und gegenseitige Einwirkung von zwei fremden Welten. Wie viel Durchlässigkeit an den Grenzflächen von Berührungen möglich ist, erlaubt und zugelassen oder abgewehrt wird, dies kann je nach Kontext, Situation und Person sehr unterschiedlich sein.

Die Vorsilbe »be-« ist verbunden mit »beide«. Ein Kontakt bezieht sich als »kon«- (»mit«) und »tangere« (»berühren, verbinden«) auf ein entstandenes Miteinander von zwei zuvor getrennten Einheiten. Durch tastendes Berühren (»haptisch«), erkunden, umfassen, erspüren, begreifen wir Oberflächen, Formen, Festigkeiten, Temperatur oder Gewicht eines zuvor fremden Gegenübers.

Die gezielte Arbeit mit Körperkontakt ist in der Medizin, Physiotherapie, Massage oder Psychotherapie hilfreich, kann manchmal aber auch schädlich sein. Berührungen können behutsam sein und quasi zuhörend, aber auch zupacken und gezielt eingreifen. Sie können emotional bewegen, Erregungen dämpfen, Anspannungen lösen oder heilsame Geborgenheit vermitteln.

Therapeutische Berührungen fördern bisweilen in Verbindung mit ermutigender, sprachlicher Unterstützung körperliches Gewahr werden. Bei neurotisch gestörten oder traumatisierten Menschen helfen sie, unbewusste, ursprünglich nur als Alarmzeichen gedeutete Körperempfindungen gelassener und distanzierter zu bewerten, wieder abklingen zu lassen und zu integrieren.

Oft bewirken therapeutische Berührungen zu Beginn Abwehr oder Furcht. Charlotte Selver hat vorgeschlagen, dass am Beginn von pädagogischen oder therapeutischen Berührungen stehen sollte: »Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Sie jetzt berühre?« Der Dichter Novalis schrieb: »Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschen berührt.« Auch wenn dies eine romantische Formulierung ist, so trifft sie doch den Kern des Respekts für das Gegenüber. Ähnlich betonte der Philosoph Martin Buber die Berücksichtigung der Gleichzeitigkeit einer zwischenmenschlichen »Ich-Du«-Beziehung mit einer professionellen, sachlichen »Ich-Es«-Behandlung.

Wenn man einen fremden Menschen berührt, dann wird man gleichzeitig auch von diesem berührt. Geschulte Hände, »manipulieren« nicht nur die körperlichen Strukturen, sondern sie vermitteln auch Stimmungen und Gefühle. Meisterinnen der therapeutischen Berührung erkunden ihre Klienten mit »wachen und leeren Händen«. Sie lassen sich vom »jeweils Besonderen« ihres Gegenübers berühren.

Eigene Erfahrungen mit Berührungs- und Bewegungsqualitäten sind notwendige Voraussetzungen für eine gute therapeutische Behandlung von Anderen. Über viele Jahre habe ich mich praktischen Übungen von unterschiedlichen Methoden wie der Feldenkrais-Arbeit, Eutonie, Body-Mind Centering, Sensory Awareness, Esalen-Massage, Konzentrativer Bewegungstherapie, Rolfing, Alexandertechnik, Physiotherapien, Osteopathie, Manuelle Medizin, Chiropraxis und anderen Körpertechniken unterzogen, um »am eigenen Leib« deren Wirkungen zu erproben. Berührungsexperimente fördern die Erkundung des Körpers im Raum, in Bodenlage, im Sitzen, Stehen und Gehen, in langsamen und schnellen, in geplanten, freien oder manchmal auch in vorgestellten Bewegungen. Die Kontaktaufnahme mit Händen und Füßen, mit Bällen, Stäben, Steinen, Stoffen oder pflanzlichen Materialien hilft, ein »Gespür für Unterschiede« von Oberflächen, Formen, Größen, Gewicht, Festigkeit oder Temperatur zu verfeinern.

In der Zusammenarbeit mit Manfred Clynes, dem Begründer der Sentics-Methode, konnte ich Berührungsqualitäten als Ausdruck von Gefühlen kennenlernen. Als Psychologe und Konzertpianist hatte er in seinem Buch: Sentics the touch of emotions, die Ausdrucksqualitäten von Gefühlen (distanziertes Gefühl, Ärger, Hass, Trauer, Liebe, Sexualität, Freude und Ehrfurcht) herausgearbeitet. Jahre später hat der Neurobiologe David Kadner untersucht, ob und wie Menschen die Kommunikation von Gefühlen durch Berührung nachvollziehen können. In seinen Forschungen wurden Versuchspersonen von Menschen berührt, welche sie aber nicht sehen konnten. Diese erinnerten sich selbst während der Berührungen an spezifische Gefühle. Die berührten Versuchspersonen konnten die »inneren« Gefühle der anderen allein durch ihre jeweilige Berührungsqualität, ohne sprachliche Informationen, weitgehend richtig erkennen. Solche Untersuchungen geben Hinweise, dass Berührungen eine eigene Sprache und Grammatik besitzen.

Wie fühlen sich Berührungen an? Was lösen sie aus? Wie können sie variiert werden? Welches Tempo, welcher Druck oder wie viel Pausen sind angemessen? Welche Assoziationen und Erinnerungen setzen sie frei?

Manche Berührungstechniken bleiben behutsam an der Oberfläche und lösen mit ruhigen, langen Massagestrichen Spannungen. Andere verharren länger bei einzelnen Körperbereichen, ohne aktive Bewegungen, sondern sie »lauschen« auf Antworten des Körpers ihres Gegenübers auf ihre Berührungen. Manche Berührungstechniken richten sich an spezifische Gewebestrukturen und Organsysteme in der Tiefe des Organismus, an Muskeln, Sehnen, Bindegewebe, Faszien oder Knochenstrukturen.


Ein Podologe bei der Arbeit. Aquarell von Zhou Pei Qun, ca. 1890.

Bonnie Bainbridge-Cohen betonte, wie wichtig es sein kann, wenn man in der Behandlung eines »Problembereichs« (etwa Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen) sich diesem »aus dem korrespondierenden Bereich seines eigenen Körpers« annähert. Moshe Feldenkrais führte seine Behandlungsvorschläge in der »Funktionalen Integration« meist »indirekt«, also nicht »am Ort« der »erlebten Probleme« aus. Heinrich Jacobi betonte die bewusste Notwendigkeit des »Erlaubens« und »Gestattens« von Veränderungen, bevor diese längerfristig wirken könnten.

Gerda Alexander arbeitete Unterschiede heraus, zwischen Berührung als »selbstverständlicher, fortlaufender Information über meinen Körper und seine Grenzen« sowie »Kontakt« als bewusst erlebter Verbindung, Fühlungnahme und Begegnung mit der jeweiligen Situation. Man kann beispielsweise im Stehen den Boden mit den Füßen berühren. Aber man kann dabei gleichzeitig bewusster erleben, dass und wie dieser Boden mich jetzt »trägt«, mir Halt gibt und die Möglichkeit, diesen Halt als Widerstand für den nächsten Schritt zu nutzen.

Kontakt nimmt Bezug auf Fragen wie: »Was will dieser Moment oder diese Aufgabe von mir?« Bin ich bei mir und bei der Situation? Bin ich aufmerksam, interessiert (lat. »inter- esse«, dazwischen sein), offen, wach, aufgeschlossen, empfänglich für das, was ich beabsichtige und tue? Nehme ich bewusst »Anteil« an dem, was geschieht? Oder fühle ich mich nicht angesprochen, bin ich müde, gelangweilt, schwer, angespannt oder unter Zeitdruck? Möchte ich die Sache schnell hinter mich bringen? Wenn es gelingt, mehr im Kontakt (lat. »cum«- mit/zusammen, »tangere« – berühren, beeindrucken) mit sich zu sein, innerlich berührt zu sein, sich aufmerksamer in die Situation einzuspüren, dann kann man am/im eigenen Körper leib-seelische Spannungsunterschiede (den jeweiligen »Tonus«) bemerken und selbstständig ändern. Dies ist »selbstverantwortliche Berührungstherapie«.

Berührungen in der Psychotherapie

Zu Beginn seiner Arbeit waren für Sigmund Freud therapeutische Berührungen nicht ungewöhnlich. Ende des 19. Jahrhundert galt die »manuelle oder instrumentelle Reflexbehandlung« von »hysterogenen Zonen« als gängige Praxis. 1896 wandte sich Sigmund Freud in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess. Dieser hatte als Hals-, Nasen- und Ohren-Spezialist mit seiner »nasogenitalen Reflexneurose« für Aufmerksamkeit gesorgt. In seinem Brief beschrieb Freud die Behandlung einer Patientin, die unter »krampfartigen Brustschmerzen« litt: »Ich habe mir bei ihr eine merkwürdige Therapie erfunden. Dabei suche ich empfindliche Stellen auf, drücke auf diese und provoziere so Schüttelkrämpfe, die sie befreien.«

Bei einer anderen Patientin hatten Freud und sein Kollege Josef Breuer eine »hysterogene Zone« »in einer ziemlich großen, schlecht abgegrenzten Stelle an der Vorderfläche des rechten Oberschenkels« gefunden. Wenn sie die »hyperalgische Haut« (schmerzempfindliche Haut) an dieser Stelle drückten, dann nahm das Gesicht der Patientin einen seltsam schmerz-lustartigen Ausdruck an, ihr Gesicht rötete sich, sie schloss die Augen, warf den Kopf zurück, und ihr Rumpf bog sich rückwärts – was damals ein Hinweis auf einen Anfall von schwerer Hysterie galt.


Peter Gaymann, Wellness Hühner

Freud suchte später für seine Methode einen gänzlich anderen Weg ohne jede körperliche Berührung. Er bevorzugte die indirekte »Berührung durch Worte«. Er beschrieb die »Berührungsangst« als ein Kernelement des neurotischen Verdrängens. Dieses »Tabu« der Berührung erstrecke sich nicht nur auf die direkte Berührung mit dem Körper, dem unmittelbaren leiblichen Kontakt, sondern auch auf das übertragene, gedankliche »in Berührung kommen mit« dem Verbotenen (Sigmund Freud, Totem und Tabu).

Georg Groddeck, einer der Begründer der Psychosomatik, schrieb über seine praktische Arbeit: »Die tiefste Grundlage für ärztliches Handeln (…) ist eine gewisse Übereinstimmung dieser beiden Menschen (Arzt und Patient) auf animalischem Gebiet. Der Ausdruck ›animalisch‹ soll bedeuten, dass dieser wichtigste Faktor der Behandlung zunächst nichts mit dem Wissen und Können des Arztes zu tun hat, sondern aus der Begegnung zweier Menschenwelten, aus ihrer gegenseitigen menschlichen Sympathie und Antipathie entsteht. Es gehört nicht viel Erfahrung dazu, um zu wissen, dass die körperliche Berührung für die Ausbildung dieses Heilfaktors beinahe entscheidend ist.«

Heute haben körperliche Berührungen im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit nur eine marginale Rolle. Durch die Trennung zwischen Psyche und Körper fehlt jegliche körperliche Berührung in der Aus- und Weiterbildung der Psychotherapeuten. Zudem erwarten Patienten in der Psychotherapie ausschließlich ein Reden über ihre Probleme.

Für die psychotherapeutische Arbeit ist einerseits ein Klima von Vertrauen, Geborgenheit und menschlicher Nähe wichtig. Andererseits ist aufgrund von neurotischen Übertragungsphänomenen durch Berührungen die Gefahr von sexuellen Verführungssituationen und Übergriffen vorhanden. Deshalb werden Berührungstechniken in den meisten Psychotherapien nur selten angewandt. Sie werden stattdessen an spezielle Körpertherapeuten delegiert. Der Austausch über die therapeutischen Prozesse ist zwischen den Therapeuten meist schwierig. Mehr als zwanzig Jahre habe ich mit Kollegen unterschiedlicher Richtungen ein internationales Seminar für körperorientierte Psychotherapie, Körpertherapie und Körperkunst, »Leib oder Leben«, organisiert. In meinen Workshops habe ich versucht, Therapeutinnen und Therapeuten in Selbsterfahrungen die möglichen Wirkungen von Berührung und Kontakt »am eigenen Leib« nahezubringen. Die Umsetzung ihrer Erfahrungen in die berufliche Arbeit war für die meisten schwierig.

Händedruck als Kommunikationsmittel

Wir sprechen zwar von einer psychotherapeutischen »Be-Handlung«, aber dies ist ein irreführender Begriff. Hände spielen in der Therapie kaum eine Rolle. Aber die Bewegungen und Positionierung der Hände von PatientInnen, sowie deren wechselnde Spannung oder nervöse Beweglichkeit können subtile Hinweise auf ihr Befinden vermitteln. Sind ihre Hände verkrampft oder offen? Wie häufig und wann werden sie für unbewusste Selbstberührungen genutzt? Sind die Hände und Arme verschränkt oder an den Körper gepresst? Wie viel Bewegungsspielraum ermöglichen sie?

Eine weitgehend unproblematische Berührung in der Psychotherapie ist die Begrüßung durch Handkontakt. Die Art und Weise, wie mir jemand die Hand zum Gruß darreicht, zögernd oder herausfordernd, ob er diese von sich streckt oder zu sich zieht, ob jemand seine Hand fast leblos in meine legt oder sie kraftvoll nach unten drückt – all dies können Botschaften über den aktuellen Zustand und das Anliegen eines Menschen vermitteln. Die Temperatur der Hand, ob kalt oder warm, feucht oder trocken, rau oder zart, ist ein weiteres Signal in der Kommunikation. Auch die Dauer des Handkontakts, schnell und zurückweichend, dauerhaft und klammernd, mit der ganzen Hand oder nur mit wenigen Fingern, gibt mögliche Informationen. All dies kann Hinweise darauf geben, wie man »zueinanderfinden« kann, wie die Bedürfnislage ist, inwieweit man sich vertrauensvoll »in die Hand eines anderen begeben« möchte, ob man »bei der Hand genommen werden« möchte oder »Hand-in-Hand« zusammenarbeiten.

Nachdem sich in der Therapie ein gutes Arbeitsbündnis und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt haben, können diese Kommunikationsformen bewusst thematisiert und alternative Formen für die Zukunft erprobt werden. Aus dieser Berührung kann eine freundliche Erinnerung für die »Übung« von Veränderungen »im Alltag« werden.

Individuelle Berührungsangst und ihre Auflösung im »Massenkörper«

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti wurde durch die Nationalsozialisten ins Exil gezwungen. Er widmete sich in seinem Buch Masse und Macht auch der individuellen Berührungsfurcht in unterschiedlichen Kulturen sowie deren paradoxer Auflösung innerhalb von Menschenmassen. »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen und zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus. (…) Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert.« Über die Auflösung dieser Berührungsfurcht schreibt er: »Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht ins Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen bedrängt. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind alle gleich. (…) Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich.«

Die alltägliche Berührung von glatten Oberflächen und Berührungen auf Distanz

Die häufigste berührte Oberfläche ist heute der eindimensionale Touchscreen der Handys und Tablets. Bereits kleine Kinder werden zu diesem Kontakt animiert. Verstärkte Aufmerksamkeit von Forschern und Industrien gilt auch neuen Formen der »Berührung auf Distanz«. Sie suchen nach Möglichkeiten von »vermittelten Berührungen« und untersuchen, wie der Tastsinn – neben Hören und Sehen – stärker »als virtueller Kommunikationskanal« entwickelt werden könne. Technisch gestaltete Oberflächen simulieren bereits heute mithilfe von Datenhandschuhen oder haptischen Datenanzügen »virtuelles Tasten«. Sie vermitteln computeranimierte Berührungseindrücke bis hin zur Illusion des Cybersex.

Ob solche neuen Entwicklungen dem beklagten Berührungshunger der Moderne abhelfen können, scheint zweifelhaft. Sie könnten auch zur weiteren Entfremdung und Verarmung von Berührung führen. Der Medienforscher Marshall McLuhan schrieb: »Jede Erfindung oder Technologie ist einerseits eine Erweiterung von menschlichen Fähigkeiten, aber sie kann auch gleichzeitig als Selbstamputation unserer körperlichen Möglichkeiten verstanden werden.«

Manche Zukunftsszenarien sprechen davon, dass wir bald »intelligente Kleidungen« tragen könnten, die uns, mithilfe von »computer-enabled materials« und multiplen Sensoren über den Zustand unseres Selbst und unserer Umwelt informieren würden. Solche Technofantasien werden sich sicher vermarkten lassen. Aber ob sie auf Dauer zwischenmenschliche Berührungen ersetzen können, darf mit Recht bezweifelt werden.

Nichts kann liebevolle Berührungen ersetzen, und man kann sie nur vorübergehend an Fremde übertragen. Wir sollten mehr Kontakt erlauben und ermöglichen. Wenn eine Mutter ihr Neugeborenes zum ersten Mal in ihren Armen hält, dann erlebt sie unfassbare Momente des berührenden Glücks. Kinder suchen den kuschelnden Kontakt und wollen gestreichelt werden. Intuitiv reibt jeder als Erstes die schmerzhafte Stelle, an der man sich angestoßen hat, mit den eigenen Händen. Die nackte Haut zweier Liebender vereint ganze Kontinente. Wenn sich ernsthafte Schwierigkeiten in einer Partnerschaft auf Dauer nicht lösen lassen, dann signalisieren neurodermitische Hautausschläge manchmal stellvertretend die Ablehnung jedes weiteren Kontakts. Erst wenn man die Wohltaten von Berührung und Nähe gespürt hat, kann man sich umso besser seiner Haut wehren. Es gibt kein Medikament, das in traurigen Momenten des Abschieds so trösten kann, wie die liebevolle Umarmung eines nahestehenden Menschen – auch ohne Worte.

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