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EINLEITUNG Wenn der Staat tötet – Das lange Warten des Troy Davis

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Kurz bevor Troy Davis das Gift in die Armvenen gespritzt wird, hebt der 42-jährige Afroamerikaner, festgeschnallt auf der Liege der Exekutionskammer, noch einmal seinen Kopf. Seine Blicke wandeln durch den Raum. Ein letztes Mal will er seine Unschuld beteuern, den Anwesenden seiner Hinrichtung sagen, dass nicht er es war, der den Polizisten Mark Allen MacPhail erschossen hat: „Ihr sollt wissen, dass ich nicht derjenige bin, der euren Sohn, euren Vater, euren Bruder getötet hat. Ich bin unschuldig. Ich hatte keine Waffen.“ Wenige Sekunden später wirkt das Schlafmittel, dann das tödliche Gift. Am 21. September 2011 um 23.08 Uhr Ortszeit stirbt Troy Davis im Gefängnis von Jackson im US-Bundesstaat Georgia. Zwei Jahrzehnte hat Davis im Todestrakt auf seine Hinrichtung gewartet. Warten müssen.

Seine Hinrichtung war eine der umstrittensten der an fragwürdigen Exekutionen nicht armen US-Justizgeschichte. Nur aufgrund von Zeugenaussagen hatte ihn ein Geschworenengericht bereits 1991 wegen des Mordes an dem weißen Polizisten zum Tode verurteilt. Eine Tatwaffe, DNA-Spuren oder konkrete Beweise wurden nie gefunden. Dreimal stand das Vollstreckungsdatum fest, dreimal gelang es den Anwälten, Aufschub zu erwirken. Schließlich hatten sieben der neun Hauptbelastungszeugen ihre Aussagen zurückgezogen und erklärt, den Angeklagten nur auf Druck der Polizei belastet zu haben. Der achte Zeuge war psychisch krank und der neunte – letztlich einzig verbleibende Zeuge – war der zweite Hauptverdächtige für den Mord.

Trotzdem bestätigte Richter William Moore im August 2010 das Todesurteil: „Der Fall ist zwar nicht vollkommen wasserdicht, die meisten Mitglieder einer Jury würden jedoch Mister Davis wieder wegen Mordes an dem Officer MacPhail verurteilen. Ein Bundesgericht kann sich nicht anmaßen, das Urteil einer Jury zu missachten, wenn die Unschuld des Angeklagten nicht zweifellos bewiesen ist.“

Über lange Jahre hatte sich die Menschenrechtsorganisation Amnesty international für Davis’ Begnadigung eingesetzt. Weltweit unterzeichneten fast eine Million Menschen eine Petition gegen die drohende Hinrichtung. Auch Abgeordnete der Europäischen Union, der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, ja selbst Papst Benedikt XVI. richteten Gnadenappelle an die US-Behörden. Ohne Erfolg. Troy Davis wurde mit Gift im Namen des Gesetzes aus dem Leben befördert, wie viele vor ihm. Und die Mehrzahl der Amerikaner war auch nach dieser Hinrichtung der Meinung, dass damit der Gerechtigkeit einmal mehr Genüge getan wurde. Schließlich gilt die legale Injektion, so der Fachbegriff für den Tod durch die Giftspritze, als die humanste aller Hinrichtungsmethoden – und als die modernste. „Modern“ ist in diesem Zusammenhang, was als „human“ angesehen wird. Im Zirkelschluss: Was als human gilt, was also den ethisch-kulturellen Standards einer Gesellschaft entspricht, das wird gerne als „modern“ bezeichnet.

In den USA wird der Tod durch eine Giftspritze bis heute als moderne, weil humane, weil „saubere“ Hinrichtungsart verstanden. Als wegweisender Fortschritt, als Akt der Humanität – trotz der Komplikationen und damit verbundenen Debatten, die es gibt, seit die USA keinen Nachschub mehr für ihren Giftspritzen-Cocktail von Pharmafirmen aus Europa bekommen. Nicht nur vor dem Hintergrund der skandalösen Vorkommnisse bei Giftspritzen-Exekutionen wird in den USA – wieder einmal – grundsätzlich über die Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit der Todesstrafe gestritten. Das gesamte Verfahren der angeblich so humanen und schmerzfreien Hinrichtungen steht damit mehr denn je in Frage.

Die Hoffnung war deshalb groß, als parallel zur Präsidentenwahl im November 2016 in gleich drei Bundesstaaten – Kalifornien, Nebraska und Oklahoma – die Bürger aufgerufen wurden, über die Zukunft der Death Penalty abzustimmen. Und das nur wenige Wochen nachdem das anerkannte Pew Research Center die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht hatte, die Todesstrafen-Befürworter in der Minderheit sah: nur noch 49 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus. Ein Jahr zuvor waren es noch 56 Prozent gewesen – und noch 1994 hatten acht von zehn Amerikanern für die Todesstrafe plädiert.

Doch in allen drei Bundesstaaten fielen die Ergebnisse ernüchternd und eindeutig aus: In Kalifornien wurde die Todesstrafe beibehalten, in Nebraska wieder eingeführt – nachdem sie 2015 abgeschafft worden war. In Oklahoma stimmten die Bürger dafür, die Todesstrafe sogar in der Verfassung des Landes zu verankern. Ein herber Rückschlag für die Gegner der Todesstrafe, die in den letzten Jahren immerhin erreicht hatten, dass acht US-Bundesstaaten diese Strafe abschafften.

Vor allem in Kalifornien, wo seit 2006 wegen der anhaltenden Debatten über die Chemikalien für Giftspritzen niemand mehr hingerichtet worden war, bedeutete das Wählervotum einen Rückschritt. Eine knappe Mehrheit von 52,7 Prozent sprach sich für die Beibehaltung der Todesstrafe aus. Bei einer weiteren Abstimmung, ebenfalls im November 2016, wurde erneut ein Antrag, der darauf abzielte, die Todesstrafe durch eine lebenslange Haft ohne Bewährung zu ersetzen, mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.

In Kaliforniens Gefängnissen warten 741 (Anfang 2017) zum Tode Verurteilte auf ihre Exekution. Landesweit waren es im Juli 2016 in den USA 2905 Verurteilte. Es folgen zahlenmäßig Florida (396) und Texas (254). Der Südstaat hält seit Jahren den Rekord, was die Vollstreckungen betrifft. Schon Rick Perry, von 2000 bis 2015 republikanischer Gouverneur, war darauf mächtig stolz. „Texas hat 234 Todeszellen-Insassen hingerichtet“, bilanzierte der NBC-Moderator Brian Williams bei der Kandidaten-Debatte der Republikanischen Partei 2011. Damit habe Perry mehr Menschen exekutieren lassen „als sonst ein Gouverneur in modernen Zeiten“. Und schon damals strahlte Perry über das ganze Gesicht. Auch dessen Nachfolger Greg Abbott, ebenfalls Republikaner, scheint fest entschlossen, den zweifelhaften Spitzenplatz zu verteidigen. Die Richter in Texas gelten als kompromisslose Hardliner: Seit 1982 wurden 538 Menschen hingerichtet (Dezember 2016). Ein trauriger, ein beschämender Rekord.

Ein Umdenken ist nicht zu erwarten: Am 7. März 2017, 23.06 Uhr Ortszeit, wurde der 44-jährige Rolando Ruiz in Huntsville mit der Giftspritze hingerichtet, nachdem er ein Vierteljahrhundert in der Todeszelle verbracht hatte. Weitere Exekutionen sind terminiert. Mit öffentlichen Protesten muss nicht gerechnet werden. In Texas bekennen sich rechtschaffene Bürger offen und gerne zur Todesstrafe. Wer als Politiker dort gewählt werden möchte, sollte als überzeugter Befürworter der Todesstrafe in Erscheinung treten, sonst ist er im Südstaat chancenlos. Der Wähler will, dass dem Rechtsfrieden Genüge getan wird, selbstredend „zivilisiert“ und „human“, ganz so, wie es die texanische Justiz vorgibt – mittels einer Giftspritze.

„Human“ soll exekutiert werden – das beanspruchten alle Reformer, wenn es um die Neu- oder Weiterentwicklung von Hinrichtungsinstrumenten ging. Die ersten Überlegungen zur „Humanisierung“ der Todesstrafe reichen weit zurück. Schon der Arzt Joseph-Ignace Guillotin legte im Dezember 1789 der französischen Nationalversammlung einen „Reformvorschlag zum Hinrichtungsproblem“ vor. Daraufhin wurde in Frankreich die Enthauptung durch das Fallbeil, die Guillotine, bei der dem Verurteilten im Liegen der Kopf durch ein fallendes Beil abgetrennt wird, als einheitliche Hinrichtungsmethode festgelegt. Das „Prinzip der Gleichheit vor dem Tode“ und die zuverlässige Tötung waren die ersten Folgen dieser „Humanisierung“ der Todesstrafe. Die modernen Hinrichtungsmethoden sind deren Weiterentwicklung.

Während es bei der heutigen Diskussion über die Todesstrafe fast immer um deren Abschaffung geht, versuchten die Reformer seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vor allem „humanere“ Formen der Vollstreckung zu entwickeln. Zwar wurde die Notwendigkeit der Todesstrafe kaum angezweifelt, doch entsprachen die grausamen Hinrichtungsrituale der Vergangenheit nicht mehr den kulturellen Standards der Gesellschaft.

Von den archaischen Strafen bis zur Giftspritze – die Geschichte staatlichen Tötens ist immer auch eine, wenn auch ambivalente, gesellschaftliche Reformgeschichte. Es geht dabei nur vordergründig um die Achtung der Menschenwürde, die auch dem Delinquenten zugebilligt wird. Vor allem handelt es sich um den Versuch, die Hinrichtung für den Verurteilten und die Gesellschaft erträglicher zu gestalten. Ein Schlusspunkt eines zivilisierten juristischen Aktes soll es sein – für alle Beteiligten: für den Ankläger, der das Urteil gefordert hat; den Richter, der das Urteil verhängt; für den Henker, der das Urteil vollstreckt; die Augenzeugen, die der Hinrichtung beiwohnen müssen; die Angehörigen des Opfers und des Verurteilten. Ein besonderes Interesse staatlicher Definitionsmacht gilt der Art und Weise, wie eine Exekution in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.

In diesem Buch geht es um staatliches Töten. Zu allen Zeiten und in beinahe jeder menschlichen Gesellschaft wurde die Todesstrafe vollstreckt. So unterschiedlich die Rituale und Instrumente sind, die dafür entwickelt wurden, lassen sich doch Gemeinsamkeiten feststellen. So ist stets eine Legitimation erforderlich, um das staatliche Töten als unausweichliche Notwendigkeit erscheinen zu lassen, weil sonst der Gemeinschaft großes Übel drohe – sei es durch göttliche Vergeltung, sei es durch den Zusammenbruch der sozialen Ordnung. Gesetzestexte und Verurteilungsrhetorik haben sich ebenso geändert wie die Exekutionsmethoden und Hinrichtungsinszenierungen; geblieben ist der Glaube, etwas „Gerechtes“ zu tun – im Namen des Volkes.

Eine zweite zentrale Fragestellung des Buches ist, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Stellung der Vollstrecker des Todesurteils darstellt, wie ein Richter und Henker mit der persönlichen Schuld umzugehen vermag. Eine Möglichkeit, diese persönliche Schuld zu verringern, besteht darin, den Vorgang gewissermaßen zu entpersönlichen, die Hinrichtung durch die gesamte Gesellschaft vollstrecken zu lassen. Dieser Gedanke findet sich bereits in einer der ältesten Formen der Todesstrafe, der Steinigung, die nicht nur im Alten Testament Erwähnung findet, sondern in einigen Ländern mit islamischer Rechtsprechung – der Scharia – noch heute praktiziert wird. Doch nicht nur bei den archaischen Strafen zeigt sich der Doppelcharakter des Vollstreckers. Einerseits nimmt der Henker eine herausgehobene Rolle ein, andererseits agiert er als anonymer Schütze eines staatlichen Erschießungskommandos oder als Mitglied eines Exekutionsteams, das die letale Injektion (Giftspritze) vorbereitet, die unweigerlich zum Tod des Verurteilten führt.

Des Weiteren geht es um die immensen Kosten für das staatliche Töten. Sind diese überhaupt zu rechtfertigen? Allein Kalifornien muss mehr als 100 Millionen Dollar im Jahr für die Kosten der Todesstrafe aufbringen. Eine Untersuchung der amerikanischen Wissenschaftler Arthur Alarcon und Paula Mitchell ergab, dass im Pazifikstaat seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1978 fast vier Milliarden Dollar für die death penalty ausgegeben wurden. Da seitdem 13 Verurteilte hingerichtet wurden, bezifferten die beiden Wissenschaftler die Kosten für jede Exekution auf über 300 Millionen Dollar. Die Kosten summieren sich unter anderem auch aufgrund der langen Wartezeit zwischen Verurteilung und Hinrichtung, die sich durch Berufungsverfahren in Kalifornien auf durchschnittlich 25 Jahre erstreckt.

Eine knappe Mehrheit von 51,1 Prozent votierte bei dem bereits zitierten Referendum dafür, die Todesstrafen schneller zu vollstrecken. Das spare der Allgemeinheit Kosten. Und auch hier machte Paula Mitchell eine einfache Rechnung auf: Selbst wenn jedes Jahr 30 Hinrichtungen in Kalifornien vorgenommen würden und lediglich 20 neue zum Tode Verurteilte hinzukämen, säßen 2040 noch immer 4755 Häftlinge in den Todestrakten der kalifornischen Gefängnisse. Für viele von ihnen bedeutet dies, dass sie noch lange Jahre, mitunter Jahrzehnte, in ihren Todeszellen auf den Tag ihrer Exekution warten werden – meist ohne Aussicht auf Begnadigung.

Schließlich thematisiert dieses Buch die Inszenierung der Todesstrafe. Öffentlich sichtbar oder medial verkündet, dient sie immer auch – und immer noch – der Abschreckung und der psychosozialen Reinwaschung. Sie funktioniert als säubernde, disziplinierende Projektionsfläche eigener Ängste und gesellschaftlicher Mitverantwortung. Früher brauchte es die öffentliche Hinrichtung, die grausame Zurschaustellung der Getöteten oder ihrer Körperteile. Es folgte die schrittweise Abschaffung der öffentlichen Hinrichtung. Heute setzen die Verkünder des strafenden Staates auf die Wirksamkeit moderner Medien: Journalisten berichten, Reporter interviewen, TV-Kanäle liefern die Bilder. Wer das Spektakel vor den Toren amerikanischer Gefängnisse je erlebt hat, weiß um die medienwirksame Dramaturgie des angekündigten Todes. Exekutionen faszinieren Menschen. Damals wie heute.

Drei Viertel der Menschheit leben in Staaten, die sich das Recht vorbehalten, ihre Bürger zu töten. Zur Legitimierung dieser Praxis werden die klassischen niederen Beweggründe der Rache oder Vergeltung angeführt – oder eine erhoffte Abschreckungswirkung, die allerdings noch keiner empirischen Untersuchung standhielt. Es gibt viele Statistiken zur Todesstrafe, sie beruhen auf Informationen von Menschenrechtsgruppen, Medienberichten und einigen wenigen offiziellen Zahlen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlicht jährlich die Zahlen weltweiter Hinrichtungen. Doch sie dürften allesamt unvollständig sein, da sie sich nur auf die zur Kenntnis gelangten Fälle beziehen. Die tatsächlichen Zahlen liegen mit Sicherheit höher. Aktuelle Statistiken werden am Ende dieses Buches genannt. Die Entwicklung ist erschütternd: In den zurückliegenden Jahren wurden in der Volksrepublik China die meisten Todesurteile vollstreckt, gefolgt von Iran, Saudi-Arabien, dem Irak und Pakistan – sowie den USA.

Vor allem die amerikanische Hinrichtungswirklichkeit ist für unsere europäische Rechtskultur irritierend. Ein Land, dessen Verfassung seinen Bürgern die Menschenrechte garantiert, ein Land, das sich gerne in der Vorbildrolle als intakte Demokratie sieht, das so selbstbewusst auf seine moralischen Werte verweist und das davon überzeugt ist, vom lieben Gott mit großem Wohlwollen betrachtet zu werden, dieses Amerika setzt als einzige westliche Demokratie noch immer auf die Todesstrafe.

So hatten die acht Richter des Supreme Court Ende 2016 einmal mehr über die Rechtmäßigkeit gleich mehrerer drohender Hinrichtungen zu entscheiden, darunter auch die des 45-jährigen Ronald Smith im Staatsgefängnis Montana, der sich mit seinem letzten Einspruch an das Verfassungsgericht gewandt hatte. Doch mit einer 4:4-Entscheidung wurde dieser abgelehnt. Smith wurde noch in derselben Nacht getötet, nach einem 35-minütigen, schmerzhaften Todeskampf, wie Zeugen berichteten.

Was in der letzten halben Stunde seines Lebens genau passierte, könnte nur Ronald Smith selbst sagen. Nur er könnte erzählen, was er dachte und fühlte, als das Gift in seinem Körper zu wirken begann, als das Beruhigungsmittel, das ihn einschläfern sollte, dies offenbar nicht tat. Vielleicht hatte er grauenvolle, brennende Schmerzen, vielleicht war er bei vollem Bewusstsein. Ronald Smith starb grausam – im Namen des Volkes.

Wie zuvor Troy Davis.

Ohne Gnade

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