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Zweites Kapitel Das Attentat

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Im Münchener Bürgerbräukeller ertönt der Badenweiler Marsch. Jubel bricht aus, orkanartig stoßen dreitausend uniformierte Männer Heil-Rufe aus. Die Stimmung erreicht ihren Siedepunkt. Schon seit zwei Stunden sind Saal und Empore dicht gefüllt. Die Kellnerinnen haben alle Mühe, die gefüllten Maßkrüge zu den durstigen Kehlen zu bringen. Jetzt, um zwanzig Uhr, überschlägt sich der Lärm. Der Führer ist da.

München, 8. November 1939: In der »Hauptstadt der Bewegung« trifft sich Hitler, wie schon in den Jahren zuvor, mit seinen »alten Kämpfern«, um jener sechzehn »Märtyrer« zu gedenken, die am 9. November 1923 für seine verfrühte nationale Revolution starben. Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten gehört dieser »Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung« zu den besonders wichtigen Daten des NS-Feierjahres.

Am 8. und 9. November 1933, zehn Jahre nach dem gescheiterten Putsch, feierte Hitler zum ersten Mal im Kreise seiner Getreuen die Erinnerung an die Toten von 1923. Damals hatte er seine Rede mit dem Hinweis begonnen, er habe zehn Jahre zuvor im Auftrag höherer Gewalt gehandelt, um die Schande des November 1918 zu beseitigen. Den 9. November vom Odium der gescheiterten Revolution zu befreien und ihm die Aura einer »nationalen Tat« zu verleihen, war seither zum Leitmotiv aller seiner November-Reden im Bürgerbräukeller geworden. Dazu paßten auch Hitlers propagandistische Absichten, die er in seiner Rede von 1936 preisgab: Ich will aus diesen Toten die ersten Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung machen, sechzehn Menschen, die gefallen sind im Glauben an etwas ganz Neues, das zehn Jahre später erst Wirklichkeit wurde. Sechzehn Menschen, die unter einer ganz neuen Fahne marschierten, auf die sie den Eid leisteten und ihn mit ihrem Blut besiegelten. Diese sechzehn haben das größte Opfer gebracht und verdienen es, daß für alle Zeiten, über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, die nationalsozialistische Partei und damit ganz Deutschland an diesem Tag dieses Opfer immer feiern sollen und daß sie sich so immer wieder dieser Männer erinnern.

Was aber geschah damals am 8. und 9. November 1923? An welche Ereignisse sollte sich ganz Deutschland erinnern? Welche Erinnerungen trieben diese »alten Kämpfer« zusammen, die jetzt, am Abend des 8. November 1939, in ihren Braunhemden dicht gedrängt im Saal darauf warten, daß ihr Führer das alljährliche Feier-Ritual mit seiner Rede eröffnet? Schließlich: Was hatte dieser Saal, der sich hinter der anspruchslosen Fassade des Bürgerbräukellers im Münchener Arbeiterbezirk Haidhausen verbarg, mit den Ereignissen von damals zu tun? Was machte ihn zur Kultstätte?

Januar 1923: Als französische und belgische Truppen in das Deutsche Reich einmarschierten und das Ruhrgebiet besetzten, empörten sich vor allem die nationalen Kräfte, deren politische Identität durch die Folgen des Versailler Vertrages ohnehin tief getroffen worden war. Immense Reparationsforderungen durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges hatten zu Inflation und Massenarbeitslosigkeit geführt. Davon war vor allem die Arbeiterschaft betroffen, deren soziale Lage sich von Tag zu Tag verschlechterte. In diesen Zeiten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Instabilität formierten sich antirepublikanische Gruppen und Verbände: von der Weimarer Verfassung nicht begeistert, gegen die Sozialdemokraten eingestellt, vor allem aber von der Vorstellung getrieben, Deutschland müsse seine »Wehrhaftigkeit« wiedergewinnen, eine »ehrenhafte« Außenpolitik entwickeln und seine Staatsautorität durch eine starke Regierung, unterstützt durch die Reichswehr, wiederherstellen.

In Bayern hatte die Regierung am 26. September 1923 den Ausnahmezustand ausgerufen und den Regierungspräsidenten Gustav von Kahr in den Rang eines Generalstaatskommissars erhoben. Kahr, der sich als deutscher Patriot sah und dessen politische Ambitionen längst über die Grenzen Bayerns hinausgingen, wartete nur darauf, daß das fortschreitende Chaos auch die Mitwirkung der Reichswehr im fernen Berlin für seine Pläne sicherstellen würde. Kontakte und Geheimtreffen mit national-konservativen Kräften waren vorangegangen. Die drei starken Männer in Bayern – neben von Kahr der Reichswehrgeneral von Lossow und der Befehlshaber der Landespolizei, Hans Ritter von Seisser – waren sich einig, die »Freiheit Bayerns« verteidigen und das deutsche Vaterland von der verräterischen republikanischen Regierung befreien zu wollen.

Sie waren nicht allein. Ihnen standen bewaffnete Verbände zur Verfügung, die, wenn sich ihnen Teile der Reichswehr anschlössen, eine erfolgreiche, geordnete und, wie sie meinten, längst überfällige Revolution – von Bayern ausgehend – durchführen könnten.

So dachten auch die Kräfte um Hitler, Göring und Röhm, die sich im nationalsozialistischen Lager sowie im rechtsradikalen »Kampfbund« gesammelt hatten und die ebenfalls einen Umsturz planten. Um sich das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand nehmen zu lassen, waren Hitler und seine Anhänger fest entschlossen, von Kahr und seinen Mitstreitern zuvorzukommen. Als günstiger Termin erschien ihnen der 8. November 1923. An diesem Tag wollte Kahr auf einer Großkundgebung der »nationalen« Verbände im Haidhauser Bürgerbräukeller die Ziele seiner Politik erläutern. Er hatte das Datum mit Bedacht gewählt: Fünf Jahre zuvor, am 8. November 1918, war der deutsche Kaiser zum Thronverzicht aufgerufen worden, einen Tag später hatte der Sozialdemokrat Scheidemann die Republik ausgerufen – aus Sicht der Nationalisten ein Punkt der tiefsten Schmach in der deutschen Geschichte.

Hitler und seine Gefolgsleute hatten den Putsch sorgsam vorbereitet. Aus geheimen Waffenlagern in der Umgebung von München waren Pistolen, Gewehre und Handgranaten herbeigeschafft worden, um die beteiligten Truppen zu bewaffnen. Zum Putsch entschlossen war keine kleine Truppe von Rechtsradikalen, sondern eine Vielzahl von Verbänden, Einheiten und Kompanien, die sich für die bevorstehenden Kampfhandlungen bereithielten: 1500 Mann des SA-Regiments München, dessen Führer Röhm unter dem Vorwand, er wolle mit seinen Leuten eine Nachtübung abhalten, sich zuvor die notwendigen Waffen ganz offiziell beschafft hatte; hinzu kamen 125 Mann des »Stoßtrupps Hitler«, die ebenfalls zur SA gehörten, 300 Mann aus südbayerischen SA-Einheiten und 2000 Kämpfer des »Bundes Oberland«, des ehemaligen Freikorps »Oberland«. Zwei Infanterieeinheiten stellte der Verband »Reichskriegsflagge«; weitere 200 Getreue des »Kampfbundes München« hielten sich ebenfalls bereit.

Um den Eindruck zu vermeiden, Generalstaatskommissar von Kahr fürchte sich vor Münchener Bürgern, hatten die Veranstalter zur Sicherung der Bürgerbräukeller-Veranstaltung nur die notwendigsten Sicherungsmaßnahmen getroffen. Die beiden nahe gelegenen Polizeireviere wurden zum Schutz der Versammlung um jeweils dreizehn Mann verstärkt. In einer nur 500 Meter vom Bürgerbräu entfernt gelegenen Kaserne wurden weitere 45 Polizisten bereitgehalten. Um für Ruhe und Ordnung vor dem Veranstaltungsort zu sorgen, waren dreißig Beamte der Münchener Hauptwache eingesetzt. Etwa 150 Mann wurden zum Versammlungsschutz innerhalb des Saales aufgeboten, unterstützt von zwölf Kriminalbeamten, die im Saal und auf der Galerie Stellung bezogen. Viele der zum Schutz aufgebotenen Polizisten waren selbst Nationalsozialisten.

Während Kahr gerade mit seiner Rede begann, in der er eine flammende Kritik an der Novemberrevolution von 1918 äußern wollte, näherte sich Hitler mit seinen Getreuen in einem roten Mercedes dem Bürgerbräukeller. Kurz vor zwanzig Uhr trafen sie dort ein, und Hitler gab den dienstleitenden Polizisten den Befehl, den Platz vor dem Bierkeller von nicht mehr eingelassenen Besuchern zu räumen. Obwohl Hitler über keinerlei Befehlsgewalt verfügte, begannen die Beamten tatsächlich damit, die Menge in die angrenzenden Seitenstraßen abzudrängen. Danach trafen die Verbände des »Stoßtrupps Adolf Hitler« auf mehreren Lastwagen ein. Der Bürgerbräukeller wurde von ihnen umstellt und abgeriegelt. Jetzt begann Hitlers großer Auftritt. Umgeben von einer Gruppe bewaffneter Kampfgenossen, darunter Rudolf Heß und Hermann Göring, betrat er, mit einem geladenen Revolver in der Hand, den überfüllten Saal. Unruhe brach aus, zahlreiche Besucher versuchten, durch Seiteneingänge den Saal noch schnell zu verlassen. Vergeblich: Die Putschisten hatten alle Eingänge gesperrt und davor Maschinengewehre in Stellung gebracht.

Um sich Ruhe zu verschaffen, gab der in einen schwarzen Bratenrock gekleidete Hitler einen Schuß aus dem Revolver in die Saaldecke ab. Dann stürmte er durch die Tischreihen zum Rednerpodium, stieß von Kahr zur Seite und schrie: Soeben ist die nationale Revolution ausgebrochen! Der Saal ist von sechshundert Schwerbewaffneten besetzt. Niemand darf den Saal verlassen! … Die Kasernen der Reichswehr und der Landespolizei sind besetzt, Reichswehr und Landespolizei rücken bereits unter Hakenkreuzfahnen heran.

Davon konnte keine Rede sein. Weder waren die Kasernen der Reichswehr und Landespolizei besetzt, noch rückten Soldaten und Polizisten unter Hakenkreuzfahnen in Richtung Bürgerbräukeller heran. Es war die erste Rede Hitlers im Bürgerbräukeller an jenem Abend, und nachdem er sie gehalten hatte, forderte er Lossow, Kahr und Seisser auf, ihm in ein Nebenzimmer zu folgen. Da Hitler bewaffnet und offensichtlich auch zu schießen bereit war, hörten sie ihm wenig erbaut etwa eine Viertelstunde zu. Ultimativ erklärte Hitler: Jeder hat den Platz einzunehmen, auf den er gestellt wird, tut er das nicht, so hat er keine Daseinsberechtigung. Sie müssen mit mir kämpfen, mit mir siegen oder mit mir sterben. Wenn die Sache schiefgeht, vier Schüsse habe ich in der Pistole, drei für meine Mitarbeiter, wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich! Neben Hitler stand sein stämmiger Leibwächter Ulrich Graf, von Beruf Fleischer in der Münchener Freibank, mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Vor dem Fenster des Nebenzimmers patrouillierten Verbände der SA.

Draußen im Saal war es inzwischen stiller geworden. Göring hatte die Menge beruhigt: Ruhe, Ruhe, Sie haben ja Ihr Bier! rief er immer wieder. Aufgeregt und eingeschüchtert zugleich warteten die Besucher darauf, was geschehen würde. Plötzlich erschien auf dem Podium wieder Hitler, der aufgrund der stockenden Verhandlungen mit Kahr, Lossow und Seisser das Nebenzimmer wieder verlassen hatte. Wenn es jetzt keine Ruhe gibt, lasse ich ein Maschinengewehr auf der Galerie aufstellen! schrie er in den Saal. Dann begann er mit einer weiteren Rede, um die gegen den Putsch eingestimmte Menge auf seine Seite zu ziehen. Ein Augenzeuge schilderte später diese Minuten: Er begann völlig ruhig und ohne jedes Pathos. Was geschehe, richte sich in keiner Weise gegen Kahr. Dieser habe sein volles Vertrauen und solle Landesverweser Bayerns werden. Gleichzeitig aber müsse eine neue Regierung gebildet werden: Ludendorff, Lossow, Seisser und er. Ich kann mich nicht erinnern, je in meinem Leben einen solchen Umschwung der Massenstimmung in wenigen Minuten, fast Sekunden erlebt zu haben …

Hitler erklärte, die Regierung sei aufgelöst. Am selben Tag noch werde in München eine neue Reichsregierung ausgerufen, und bis zur Abrechnung mit den Verbrechern, die Deutschland in die Auflösung führten, wolle er die Führung der provisorischen Regierung übernehmen, in der Ludendorff Chef der Reichswehr, Lossow Reichswehrminister und Seisser Reichspolizeiminister sein sollten. Aufgabe der provisorischen Regierung sei es, alle Kräfte Bayerns und des übrigen Reichs zu sammeln, ins »Sündenbabel« Berlin zu marschieren und das deutsche Volk zu retten. Hitler gab zu, es sei ihm nicht leichtgefallen, Kahr, Lossow und Seisser zum Eintritt in die neue Regierung zu bewegen, aber sie hätten schließlich zugesagt, und er fragte die Leute im Saal, ob sie diese Lösung der deutschen Frage billigten. Die Menge brüllte ihm ihre Zustimmung zu.

Auch General Ludendorff applaudierte. Er, der zur Vermeidung unangenehmer Begegnungen mit Verspätung in den Bierkeller gekommen war und jetzt in voller Uniform und mit allen Orden geschmückt auftrat, hatte sicherlich nicht im Sinn, neben dem Gefreiten Adolf Hitler eine zweitrangige Rolle zu spielen. Trotzdem erklärte er, er stehe der nationalen Regierung zur Verfügung. Er wolle der schwarz-weiß-roten Kokarde die Ehre wiedergeben, die die Revolution ihr genommen habe. Dies sei ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte, und er vertraue auf Gottes Segen für das Unternehmen. Danach erhob sich Kahr, der inzwischen mit Lossow und Seisser in den Saal hatte zurückkehren dürfen, und ging zum Rednerpult. In diesem Augenblick höchster Not sei er bereit, die Leitung der bayerischen Staatsgeschäfte als Statthalter der Monarchie zu übernehmen, die vor fünf Jahren so schmählich zerschlagen worden sei. Er tue das schweren Herzens und, wie ich hoffe, zum Segen unserer bayerischen Heimat und unseres lieben deutschen Vaterlandes.

Beifallsrufe, Applaus. Die Begeisterung ergriff die Menge. Alle stimmten in das abschließende Deutschlandlied ein.

Überzeugt davon, daß der Umsturz gelungen sei, wurde umgehend folgende Proklamation veröffentlicht: An das deutsche Volk! Die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin ist heute für abgesetzt erklärt worden. Eine provisorische deutsche Nationalregierung ist gebildet worden. Diese besteht aus General Ludendorff, Adolf Hitler, General von Lossow, Oberst von Seisser.

Hitler verließ danach siegestrunken mit seinen Leuten den Saal. Das Kommando vor Ort übernahm fortan General Ludendorff, und er ließ zum späteren Ärger der Nazi-Putschisten die drei Erpreßten gegen ihr Ehrenwort auf freien Fuß.

Kaum hatte Kahr sich freimachen können, eilte er zusammen mit dem Chef der bayerischen Reichswehr, Lossow, in die Kaserne des Infanterie-Regiments 19. Hier widerriefen sie die erzwungene Teilnahme am Hitler-Putsch noch in derselben Nacht. Die Münchener Reichswehr-Garnison wurde gegen die Umstürzler mobilisiert, die NSDAP verboten. Der nächste Morgen würde die Entscheidung bringen: Kahr oder Hitler?

Kahr ließ in der Nacht Plakate drucken und in ganz München ankleben, auf denen er Hitler Wortbruch vorwarf und die Auflösung der Nationalsozialisten sowie der Bünde »Oberland« und »Reichskriegsflagge« erklärte.

Am Morgen des 9. November 1923 sammelten sich Kolonnen der SA und Mitglieder des Kampfbundes einschließlich des »Bundes Oberland«, stärkemäßig der Polizei weit überlegen, am Bürgerbräukeller. Gegen sie standen die Polizeieinheiten der Stadt, des Landes und notfalls der Reichswehr. Die Putschisten hatten mit einer derartig massiven Gegenwehr nicht gerechnet. Je deutlicher sich ihre Niederlage abzeichnete, desto verzweifelter wurden ihre Aktionen. So wurden auf Befehl Görings »Marxisten« unter den Münchener Stadträten als Geiseln genommen, ohne zu wissen, was mit ihnen eigentlich geschehen sollte. Als »strategische Maßnahmen« wurden an verschiedenen Standorten der Innenstadt Geschützstellungen errichtet. Gleichzeitig wurde versucht, die wichtigsten militärischen und politischen Einrichtungen der Stadt unter Kontrolle zu bringen. Außer beim Wehrkreiskommando scheiterten die Putschisten kläglich. Weder das Polizeipräsidium noch die Regierungsräume in der Maximilianstraße konnten besetzt werden.

Beispielhaft für die Konzeptionslosigkeit der Nationalsozialisten war die Zerstörung der sozialdemokratischen »Münchener Post«. Auf ausdrücklichen Befehl Görings waren die Verlagsräumlichkeiten besetzt, die Redaktionsbüros verwüstet, Maschinen und Material zerstört worden. Als alles in Scherben lag, kam der »Befehl« Hitlers, die Redaktionsräume zu erhalten. Er hatte vorgesehen, Druckerei und Verlag der nationalsozialistischen Zeitung »Heimatland« zu übereignen. Zu spät.

Die Lage wurde für die Putschisten immer aussichtsloser. Es mußte etwas geschehen. Noch einmal sollte versucht werden, das Ruder herumzureißen. Um die nationale Revolution doch noch zu erkämpfen, beschlossen sie einen Marsch durch die Innenstadt. Ziel: die Feldherrnhalle. In drei Kolonnen zu vier Reihen nahmen die Putschisten Aufstellung. Insgesamt füllte der zwölf Mann breite Zug die gesamte Straße – links der »Stoßtrupp Hitler«, in der Mitte das SA-Regiment München und rechts der »Bund Oberland«. An der Spitze marschierten der Führer und Ludendorff, vor ihnen eine Schützendivision und zwei Reihen von Fahnenträgern.

Zunächst gelang es den Nazis, die erste Kette der Landespolizei an der Ludwigsbrücke zu durchbrechen. An der Feldherrnhalle jedoch beendete eine Salve der Polizei den voreiligen »Marsch auf die Feldherrnhalle«. Ein Augenzeuge erinnerte sich: Ein Geknatter von Dutzenden von Schüssen bricht los, schlägt in die Reihen, fetzt den Zug auseinander. Eine unbeschreibliche Panik folgt in den dicht gedrängten Massen, die nun auseinanderbersten, wie wenn eine Riesenhand dazwischengefahren wäre. Frauen kreischen auf, Männer brüllen, Dutzende haben sich auf den Boden geworfen, um den hereinfetzenden Geschossen auszuweichen, Dutzende, Hunderte drängen zurück aus dem Bereich des verheerenden Feuers.

Sechzehn Nationalsozialisten sollten ihren »Marsch« schließlich mit dem Leben bezahlen. Die Putschisten-Führer selbst kamen glimpflich davon: Hitler renkte sich die Schulter aus, als er entweder hinfiel oder aufs Pflaster gerissen wurde. Göring wurde verwundet, in ein Münchener Krankenhaus gebracht und danach von Parteigängern über die Grenze nach Österreich geschmuggelt.

Der Putsch war gescheitert. Was als Zündpunkt der nationalen Revolte propagiert worden war, hatte sich zu einem kurzen Wahn verflüchtigt. Doch das Feuer sprühte noch bedrohliche Funken. Als Polizeieinheiten am Abend des 9. November vor dem Bürgerbräukeller vorfuhren, um die gefangengesetzten Geiseln zu befreien, wurden sie von der aufgebrachten Bevölkerung beschimpft: »Pfui! Vaterlandsverräter! Bluthunde! Heil Hitler!«

Zwei Tage später erschien die Polizei am Staffelsee im Landhaus des Hitler-Spezis Ernst Hanfstaengl, um den geflüchteten Führer zu verhaften. Kurz vor dem Eintreffen der Polizisten griff Hitler zur Pistole und schrie: Das ist das Ende. Mich von diesen Schweinen verhaften zu lassen, niemals! Lieber tot! Hanfstaengls Frau schlug ihm die Waffe aus der Hand. Hitlers Ende war verhindert worden, doch die Funken, die dieser Mann geschlagen hatte, waren nicht gelöscht.

Am 8. und 9. November 1933 gedachten die mittlerweile an die Macht gekommenen Nationalsozialisten erstmals ihrer gefallenen »Märtyrer« von 1923. Sie trafen sich an jenem historischen Ort, wo sie einst die »nationale Revolution« ausgerufen hatten, die nun, zehn Jahre später, Wirklichkeit geworden war: im Münchener Bürgerbräukeller. Die Feierlichkeiten begannen am 8. November mit Propaganda-Veranstaltungen in der Münchener Innenstadt, gipfelten in einer zweistündigen Rede Hitlers vor den »alten Kämpfern« im Bürgerbräukeller und wurden mit einem Erinnerungsmarsch zur Feldherrnhalle und der Vereidigung von SS-Rekruten gekrönt. Den »historischen Marsch« vom Haidhauser Bürgerbräu über die Ludwigsbrücke zur Feldherrnhalle schilderte ein Augenzeuge von 1933: Es war zweifellos eine eindrucksvolle Demonstration, die ernsten Männer im Braunhemd, die schweigende Menge und die brennenden Pylonen an den Straßenfronten, dazu das trübe Novemberwetter. Das Glockenspiel des Rathauses spielte, als der Zug den Marienplatz erreichte, das Horst-Wessel-Lied. Salutschüsse kündigten das Eintreffen der Spitze an der Feldherrnhalle an. Eine Minute des Schweigens folgte.

An diesem Abend wurde an der seitlichen Bogenöffnung der Feldherrnhalle feierlich ein Bronzedenkmal enthüllt. Hitler forderte von den Rekruten, ihr Leben ebenfalls der »nationalen Revolution« zu opfern, so wie die sechzehn, die hier an dieser Stelle gefallen sind. Für euch darf es nichts anderes geben im Leben als die Treue … Diese Toten sind euer Vorbild…

Seit dieser ersten Gedenkfeier waren die Rituale festgelegt. Die NS-Führer und ihre »alten Kämpfer von 1923«, die sich nun alljährlich im Bürgerbräukeller trafen, inszenierten eine Jubelveranstaltung, die vor allem der Umdeutung des Fiaskos von 1923 in einen patriotischen Akt diente. Der Ausgang des Prozesses, der ihnen damals nach dem Putschversuch gemacht worden war, half ihnen bei dieser Geschichtsfälschung. Die meisten kamen als »Mitläufer« und »Befehlsempfänger« ungeschoren davon, die Anführer erhielten milde Urteile. Hilfreich war dabei, daß die Richter ganz offen mit den Putschisten sympathisierten. Hitler wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, die Untersuchungshaft angerechnet. Und auch die fünf Jahre mußte er nicht verbüßen. Nach nur einem knappen Jahr befand er sich wieder auf freiem Fuß. Sein Kampf konnte erneut beginnen. Das Feuer konnte wieder entfacht werden.

Hitler hatte seine Kampfgenossen von damals nicht vergessen, vor allem nicht die Toten. Sie wurden zu »Blutzeugen der Bewegung« stilisiert und zu »Märtyrern« erklärt. Den Weggefährten von einst blieb der »Blutsorden« vorbehalten, den ihnen der Führer 1934 an die rechte Brustseite knöpfte. Den trugen sie seither voller Stolz. Auch an diesem 8. November 1939.

Das blutrote Band, am Knopf der rechten Brusttasche befestigt, hebt sich unübersehbar von den braunen Hemden ab; daran eine mattsilberne Medaille, die das Profil eines auf einem Eichenkranz sitzenden Adlers zeigt. Darauf steht: 9. November – München 1923. Auf der Rückseite ist die Feldherrnhalle eingraviert, darüber das Hakenkreuz auf Sonnenstrahlen und im Bogen die Worte: Ihr habt doch gesiegt.

Ja, wir haben gesiegt. Wir waren dabei, als die »nationale Erhebung« in diesem Saal begann; wir haben unsere patriotische Pflicht erfüllt. So denken sie, die Männer, die stolz ihre Orden an der Brust tragen. Wie in all den Jahren zuvor ist es »ihre« Feier, ihr Abend.

Als der Führer, gefolgt von der NS-Prominenz, zum Podium schreitet, wo vor einer großen Hakenkreuzfahne die Mikrophone aufgebaut sind, bricht enthusiastischer Jubel aus. »Heil, Heil!…« schallt es durch den Saal. In den Gesichtern spiegeln sich Begeisterung, Stolz, ja Ehrfurcht. Alle sind sie versammelt: dicht vor dem Führer die NS-Prominenz, dahinter die »alten Kämpfer« und die Hinterbliebenen der sechzehn »Gefallenen des 9. November«, die Reichs- und Gauleiter, die Obergruppenführer und Gruppenführer der SA und SS, die Arbeitsgauführer und sonstige Parteimitglieder. Der Saal platzt aus allen Nähten.

Der Führer spricht – das Volk lauscht. Nicht nur das Parteivolk hier im Saal. Im gesamten Reich sitzen die Menschen vor den Volksempfängern und verfolgen die Rede. Bemerkenswert an diesem Abend ist, daß Hitler die übliche »Partei-Erzählung« auf wenige Passagen beschränkt und daß sich seine Rede statt dessen vor allem in einer einzigen Schimpf- und Hetzkanonade gegen England erschöpft. Unter frenetischem Beifall weist er England die Schuld am Kriegsausbruch zu:

Diejenigen Kräfte, die 1914 gegen uns standen, haben auch jetzt wieder den Krieg gegen Deutschland angezettelt – und mit den gleichen Phrasen und mit den gleichen Lügen …

Wenn Lord Halifax in seiner gestrigen Rede erklärte, daß er für die Künste und die Kultur eintritt… so können wir nur sagen: Deutschland hat schon eine Kultur gehabt, als die Halifaxe davon noch gar keine Ahnung hatten. Und in den letzten sechs Jahren ist in Deutschland mehr für die Kultur getan worden als in den letzten einhundert Jahren in England …

Denn ich habe mich bemüht, nicht nur die kulturelle Seite unseres Lebens zu entwickeln, sondern auch die machtmäßige, und zwar gründlich. Wir haben eine Wehrmacht aufgebaut – das kann ich ja ruhig heute aussprechen –, wie es eine bessere in der Welt nicht gibt!…

England als Kulturschöpfer ist ein Kapitel für sich. Wir Deutschen brauchen uns jedenfalls nichts von den Engländern auf dem Gebiet der Kultur vormachen lassen.

Unsere Musik, unsere Dichtung, unsere Baukunst, unsere Malerei, unsere Bildhauerkunst kann sich mit den englischen Künsten schon absolut vergleichen. Ich glaube, daß ein einziger Deutscher, sagen wir: Beethoven, musikalisch mehr geleistet hat als sämtliche Engländer der Vergangenheit und Gegenwart zusammen!

Der Saal tobt.

Was sie hassen, ist das Deutschland, das ein gefährliches Beispiel für sie ist, das soziale Deutschland, das Deutschland unserer sozialen Arbeitsgesetzgebung … Das Deutschland der Fürsorge, des sozialen Ausgleichs, der Beseitigung der Klassenunterschiede – das hassen sie! … Sie hassen das Deutschland der sozialen Gesetzgebung, das den I. Mai als den Tag der ehrlichen Arbeit feiert! …

Und sie hassen selbstverständlich damit auch das starke Deutschland, das Deutschland, das marschiert und das freiwillige Opfer auf sich nimmt.

Immer wieder werden seine Tiraden von begeistertem Applaus unterbrochen. Mit markiger, durchdringender Stimme fährt er fort:

Unser Wille ist genauso unbeugsam im Kampfe nach außen, wie er einst unbeugsam war im Kampfe um diese Macht im Innern. Sowie ich Ihnen damals immer sagte: Alles ist denkbar, nur eines nicht, daß wir kapitulieren, so kann ich das als Nationalsozialist auch heute nur der Welt gegenüber wiederholen: Alles ist denkbar, eine deutsche Kapitulation niemals!

Wenn man mir darauf erklärt: Dann wird der Krieg drei Jahre dauern, so antworte ich: Er kann dauern, so lange er will – kapitulieren wird Deutschland niemals. Jetzt nicht und in alle Zukunft nicht…

Sie werden uns weder militärisch noch wirtschaftlich auch nur im geringsten niederzwingen können. Es kann hier nur einer siegen, das sind wir!

Minutenlanger Beifall folgt der Rede, die Menge ist wie berauscht. Was hier mit Heil-Rufen gefeiert wird, ist der Glaube an die eigene Unbesiegbarkeit.

Noch während die Nationalhymne erklingt, kämpfen Leibwächter Hitler und seiner Begleitung den Weg zum Ausgang frei. In ihrer Jubelorgie bemerken die meisten im Saal zunächst gar nicht, daß der Führer die Kultstätte schon verlassen hat.

Wegen »dringender Staatsgeschäfte« hatte Hitler zunächst auf seine alljährliche Rede im Bürgerbräukeller ganz verzichten wollen. Erst einen Tag zuvor hatte er sich doch noch zur Teilnahme an der Traditionsveranstaltung entschlossen. Den Hintergrund für sein langes Zögern bildete die Auseinandersetzung mit der Generalität in der Frage des Westfeldzuges.

Am 22. Oktober hatte Hitler den Angriff im Westen beschlossen und den Beginn der Offensive auf den 12. November festgelegt. Insbesondere die Generalität des Heeres war der Meinung, daß ein Angriff vor dem Frühjahr 1940 nicht möglich sei, und widersetzte sich seinen Vorstellungen. Dennoch scheiterten alle ihre Versuche, Hitler von seinem Vorhaben abzubringen. Wegen der ungünstigen Witterungsverhältnisse mußte der Termin dann aber doch verschoben, mußten die bereits anlaufenden Angriffsvorbereitungen gestoppt werden. Eine endgültige Entscheidung über den neuen Termin wollte Hitler nun am 9. November fällen.

Er wollte auch deshalb in Berlin bleiben, um in dieser Angelegenheit die Fäden in der Hand zu behalten. Darum war ursprünglich die Feier »nur mit eingeschränktem Programm geplant«. Hitler selbst wollte keine Rede halten. Statt dessen sollte sein Stellvertreter Rudolf Heß am 8. November abends um 19.30 Uhr über alle deutschen Sender sprechen. Doch dann wurde alles geändert. In einem für Hitler typischen Spontanentschluß flog er von Berlin nach München, um trotz seiner knappen Zeit die Rede zu halten. Die Veranstalter hatten Anweisung, das Abendprogramm zu straffen, damit Hitler noch am selben Abend den Nachtzug nach Berlin nehmen konnte. Am nächsten Tag wollte er wieder in der Reichskanzlei sein. Da ihm sein Privatpilot einen Rückflug nach Berlin am selben Abend angesichts der unsicheren Witterungsverhältnisse nicht hatte garantieren können, war für die Rückfahrt ein Sonderzug bereitgestellt und dessen Abfahrtzeit auf 21.31 Uhr festgelegt worden.

Von alldem wissen die meisten im Saal nichts. Sie haben nur mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, daß der Führer kürzer als in den Jahren zuvor gesprochen hat und danach umgehend verschwand. Die meisten begeben sich jetzt zu den Ausgängen. Nur die »alten Kämpfer« bleiben noch beim Bier unter sich. Die Uhr zeigt 21.20.

Während Hitler mit seiner Begleitung auf dem Weg zum Hauptbahnhof ist, detoniert im Bürgerbräukeller unter ohrenbetäubendem Knall eine Bombe. Balken krachen, Mauerwerk bricht, Staub wirbelt auf. Schreie, Verzweiflung. Ein Teil der Decke stürzt ein. Sieben Menschen sind sofort tot. Ein weiterer wird auf dem Transport in das Krankenhaus sterben. Über sechzig Personen sind schwer verletzt. Der Bürgerbräukeller gleicht einem Trümmerhaufen.

Hitler, dem der Anschlag galt, besteigt gerade den Zug nach Berlin. In Nürnberg wird ihm die Nachricht vom Bombenattentat übermittelt. Seine erste Reaktion: Es ist eine Falschmeldung. Danach erklärt er: Jetzt bin ich völlig ruhig. Daß ich den Bürgerbräu früher als sonst verlassen habe, ist mir eine Bestätigung, daß die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will.

Am Abend dieses 8. November 1939 wird der Vorsehungsmythos Hitlers geboren. Die Redakteure des »Völkischen Beobachters« schreiben noch in der Nacht ihre Propaganda-Artikel. Am nächsten Morgen erscheinen sie unter der Schlagzeile DIE WUNDERBARE ERRETTUNG DES FÜHRERS im ganzen Land. Darunter heißt es:

Das Attentat, das in seinen Spuren auf ausländische Anstiftung hinweist, löste in München sofort eine fanatische Empörung aus. Zur Feststellung der Täter ist eine Belohnung von 500.000 Mark ausgesetzt worden, die durch einen freiwilligen Beitrag von privater Seite auf 600.000 Mark erhöht wurde. Die verheerende Explosion im Bürgerbräukeller ereignete sich etwa um 21.20 Uhr, zu einer Zeit, als der Führer schon den Saal verlassen hatte. Ihn hatten fast alle führenden Männer der Bewegung, Reichsleiter und Gauleiter auf den Bahnhof begleitet, wo er wegen dringender Staatsgeschäfte sofort nach dem Schluß seiner Rede den Zug der Rückkehr nach Berlin bestieg. Man kann es nur als Wunder bezeichnen, daß der Führer diesem Attentat auf sein Leben entging, das zugleich ein Anschlag auf die Sicherheit des Reiches ist.

Wer aber waren die Attentäter? Wer die »ruchlosen Mörder«?

Der einsame Attentäter

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