Читать книгу Der Hinrichter - Helmut Ortner - Страница 10
Im Namen des Deutschen Volkes!
ОглавлениеIn der Strafsache gegen
die Bereiterin Margot von Schade aus Demmin, geboren am 27. März 1923 in Burg Zievrich (Krs. Bergheim a. d. Erft),
wegen Wehrkraftzersetzung
hat der Volksgerichtshof, 1. Senat, auf die am 30. Oktober 1944 eingegangene Anklage des Herrn Oberreichsanwalts in der Hauptverhandlung vom 17. November 1944, an welcher teilgenommen haben
als Richter:
Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Freisler, Vorsitzender
Landgerichtsdirektor Dr. Schlemann,
SA-Brigadeführer Hauer,
NSKK-Obergruppenführer Regierungsdirektor Offermann,
Stellvertretender Gauleiter Simon,
als Vertreter des Oberreichsanwalts:
Landgerichtsrat von Zeschau
für Recht erkannt:
Margot von Schade hat die Meuchelmörder vom 20. Juli verherrlicht, das Mißlingen des Mordanschlages auf unseren Führer bedauert, unseren Führer aufs niedrigste verächtlich zu machen gesucht und in schamloser Selbsterniedrigung mit einem Russen sich »politisch« unterhalten.
Für immer ehrlos wird sie damit mit dem Tode bestraft.
Gründe:
Sie gibt zu, daß sie sich zum Attentat geäußert habe: »Pech gehabt!«,
Pech gehabt nämlich, daß der Mordanschlag nicht glückte!!!…
Das allein streicht sie aus unserer Mitte aus. Denn wir wollen nichts, gar nichts gemein haben mit jemandem, der mit den Verrätern an Volk, Führer und Reich, die uns durch ihren Verrat unmittelbar in Schande und Tod geschickt hätten, wenn sie Erfolg gehabt hätten, sich solidarisch erklärt.
Margot von Schade hat aber, und das mag als Vervollständigung des Bildes ihrer Verworfenheit festgestellt werden, diese ihre gemeinen Äußerungen auf der Grundlage einer durch und durch verräterischen, ehrlosen Grundeinstellung getan…
… Kein Wunder, daß sie, wie sie selbst zugibt, als sie und ihre Kameradinnen zum Gemeinschaftsempfang der Führeransprache gingen, das mit den Worten mitteilte: »Herr Hitler spricht!« Der Zorn und die Scham muß doch jedem darüber hochkommen, daß ein deutsches Mädchen sich im Jahre 1944 so ausdrückt…
… Wer in so schamloser Selbsterniedrigung als Deutsche derartige Gespräche mit einem Bolschewisten führt, wer derartigen gemeinsten Verrat unserer Geschichte verherrlicht, wer so unseren Führer verächtlich zu machen sucht – der beschmutzt dadurch unser ganzes Volk. Wir wollen mit jemandem, der mit der Treue seine Ehre, seine ganze Persönlichkeit derart atomisiert, für immer zerstört hat, aus Gründen der Sauberkeit nichts mehr zu tun haben. Wer so um sich Zersetzung verbreitet (§ 5 KSSVO), wer sich so zum Handlanger unserer Kriegsfeinde bei dessen Bemühungen, in unserer Mitte Zersetzungsfermente zu entdecken, macht (§ 91 b StGB), der muß aber auch mit dem Tode büßen, weil wir die Festigkeit der Haltung unserer Heimat, überhaupt unseres um sein Leben schwer ringenden Volkes unter allen Umständen schützen müssen…
Weil Margot von Schade verurteilt ist, muß sie auch die Kosten tragen.
gez: Dr. Freisler | Dr. Schlemann |
Sechsundvierzig Jahre später. Steinhorst in der Nähe von Hamburg. Ich sitze der Frau gegenüber, die damals in Berlin von Freisler zum Tode verurteilt worden war.
Wie sind heute ihre Gefühle beim Lesen ihres eigenen Todesurteils? Spürt sie Wut, hat sie Rachegefühle? »Nein«, antwortet sie kopfschüttelnd, »nur Lähmung und Enttäuschung. Fast alle Richter des Volksgerichtshofs kamen ja nach dem Krieg wieder in Amt und Würden. Keiner wurde zur Verantwortung gezogen oder verurteilt, und das ist deprimierend.«
Das Schicksal hat es gut gemeint mit diesem lebenslustigen Mädchen von einst und der aufrechten Frau von heute. Sie hat spät, aber nicht zu spät, wenigstens auf ganz private Weise Wiedergutmachung erfahren. Mit staatlicher Wiedergutmachung hat sie in diesem Land nicht rechnen können. Sie war Opfer, nicht Täter. Und staatliche Fürsorglichkeit wurde hierzulande mehr den letzteren zuteil.
Monate zuvor. Schon einmal »Spurensuche«. Ein sehr ruhiges vornehmes Wohnviertel in München, dicht am Nymphenburger Kanal. Ein moderner Wohnblock, elf Wohnungen. Im Erdgeschoß links an der Wohnungstür ein schlichtes Pappschild: Russegger. Niemand der Nachbarn weiß, daß die alte Dame Marion Freisler ist, die Witwe des ehemaligen Volksgerichtshofs-Präsidenten Roland Freisler. »Eine sehr zurückgezogen lebende Frau: sie spricht kaum mit jemandem«, gibt mir eine Hausbewohnerin Auskunft. Auch mit mir spricht Frau Russegger nicht. In einem Brief hatte ich sie Wochen zuvor um ein Gespräch gebeten; wie denkt sie heute über das erbarmungslose Wirken ihres Mannes, wie hat sie ihren beiden Söhnen den Vater erklärt? Das wollte ich sie fragen – und vieles mehr. Mein Brief blieb unbeantwortet. Ich entschloß mich, nach München zu fahren. Ein letzter, freilich erfolgloser Versuch.
Bei meinen Recherchen war ich auf Presseberichte aus dem Jahr 1958 gestoßen. Eine Berliner Spruchkammer – die letzte in Deutschland – hatte damals eine Sühnegeldstrafe von 100.000 Mark über den Nachlaß Freislers verhängt. Diese Summe entsprach dem Wert zweier Grundstücke in Berlin, die seit Kriegsende unter Treuhandverwaltung standen und die Freislers Witwe als ihr Eigentum beanspruchte. Jahrelang hatte sie um die Rückgabe der Häuser mit der Begründung gekämpft, sie seien von ihrer Mitgift gekauft worden. Die Berliner Spruchkammer kam dagegen zu dem Schluß, daß es sich um Erwerbungen aus Freislers Einkünften zugunsten seiner Frau gehandelt habe. Die Kammer stützte sich dabei auf die Tatsache, daß sich die über Jahre erstreckenden Ratenzahlungen für die Grundstücke mit den Terminen der Gehaltszahlungen für Freisler und den Etappen seiner Karriere zusammenfielen. Nachforschungen hatten überdies ergeben, daß Frau Freisler von Hause aus mittellos war.
Nach viereinhalbstündiger Verhandlung, zu der Freislers Witwe mit der Begründung »sie könne keine Anstrengungen vertragen« nicht erschienen war, wies die Kammer die Berufung der damals in Frankfurt lebenden Witwe Freislers, alias Frau Russegger, ab. Die Geldstrafe, die in gleicher Höhe bereits am 29. Januar 1958 von der Berliner Kammer verhängt worden war, entsprach den Werten der zwei Grundstücke, und so wurden diese nun statt des verhängten Sühnegelds eingezogen.
Fast dreißig Jahre später, im Februar 1985, kam die Witwe, genauer ihr »Rentenfall«, erneut in die Schlagzeilen. Diesmal ohne eigenes Zutun. Damals hatte der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Günther Wirth publik gemacht, daß Frau Russegger nach dem Kriege nicht nur die übliche Witwengrundrente aus dem Dienstverhältnis ihres kurz vor Kriegsende bei einem Bombenangriff in Berlin umgekommenen Ehemannes bezog, sondern darüber hinaus – seit 1974 – eine sogenannte Schadensausgleichsrente, gewährt vom Versorgungsamt in München mit der Begründung, es müsse unterstellt werden, daß Freisler – hätte er den Krieg überlebt – »als Rechtsanwalt oder Beamter des höheren Dienstes tätig geworden wäre«.
Aufsehen erregte damals vor allem die aberwitzige Argumentation. Die bayerischen Sozialbeamten konnten – »aus rechtsstaatlichen Gründen« – nicht die Auffassung vertreten, daß Freisler im Überlebensfall »zum Tode oder zumindest zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt worden wäre«. Vielmehr erschien ihnen »ebenso wahrscheinlich«, daß der höchste Nazi-Richter »in seinem erlernten oder einem anderen Beruf weitergearbeitet hätte, zumal eine Amnestie oder ein zeitlich begrenztes Berufsverbot ebenso in Betracht zu ziehen« gewesen wären.
Wer einen solchen Bescheid »erfinden, ausformulieren und absegnen« könne, so kommentierte damals die Süddeutsche Zeitung, der müsse »das Gemüt eines Metzgerhundes haben«. In beinahe allen großen deutschen Zeitungen löste der »Münchner Rentenfall« heftige Reaktionen aus. »Wie kann überhaupt jemand Kriegsopfer sein, der den Krieg gewollt, gefördert und verlängert hat?« fragte erzürnt Franz-Josef Müller, ein Münchner Sozialdemokrat, der 1943 im Alter von achtzehn Jahren als Mitglied der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« selbst vor Freisler stand und von ihm zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
Vierzig Jahre, nachdem Freisler mit dem Dritten Reich zugrunde ging, polarisierte der Fall um die Freislersche Rentenzahlung exemplarisch die Meinungen über den Umgang mit der NS-Vergangenheit. In einem Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung hieß es, es sei beschämend, »daß es Leute gibt, die nichts anderes zu tun haben, als vierzig Jahre nach Kriegsende in alten Rentenbescheiden zu wühlen«. Mit seiner Meinung stand der Mann keinesfalls allein.
Robert M. W. Kempner, nach dem Krieg amerikanischer Anklagevertreter in den Nürnberger Prozessen, meldete sich in derselben Zeitung ebenfalls zu Wort: »Die Witwe erhält außer der Kriegsopferversorgung und der Schadensausgleichsrente noch eine Witwenrente aus der Sozialversicherung«, schrieb er und brachte in seinem ausführlichen Leserbrief weitere brisante Details an die Öffentlichkeit: »Freisler«, so fuhr er fort, »hat jedoch niemals Sozialversicherungsbeiträge gezahlt, denn er erhielt ja sein hohes Richtergehalt. Eine Witwenpension konnte sie offensichtlich nicht erhalten, da eine solche nicht gewährt wird, wenn ein Beamter sich unmenschlich verhalten hat. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen über Artikel 131 des Grundgesetzes. In solchen Fällen aber wird eine Versorgung nur dann gewährt, wenn der Arbeitgeber, also der Staat, für den Betroffenen nachzahlt. Für Freisler müssen, da die Witwe Sozialversicherung erhält, also erhebliche Summen vom Staat nachgezahlt worden sein.« Am Ende seines Leserbriefes kritisierte Kempner die Tatsache, daß Freisler in der Rentenfrage seiner Witwe als Gerichtspräsident eingestuft wurde, und schrieb, seiner Meinung nach hätte dieser »nur als Totengräber der deutschen Justiz, also mit dem normalen Gehalt eines auf Friedhöfen beschäftigten Totengräbers eingestuft werden müssen«.
Durch die heftigen öffentlichen Reaktionen aufgeschreckt, wies der damalige bayerische Arbeits- und Sozialminister Franz Neubauer (CSU) seine Beamten an, die Rentenentscheidung zu korrigieren. Eine Rücknahme des zweifelhaften Bescheids sei jedoch »aus rechtlichen Gründen nicht mehr möglich«, teilte er später auf einer Pressekonferenz mit. Dafür, so ordnete der Minister an, solle die Kriegsopferrente so lange von Erhöhungen ausgeschlossen werden, bis der umstrittene Schadensausgleich aufgezehrt sei.
Trotz Schlagzeilen, Leserbriefen und heftiger Debatten – so ungewöhnlich war die Affäre um die Rentenzahlungen an die Witwe Freislers keineswegs.
Daß sich Hinterbliebene von NS-Größen nach dem Krieg Versorgungsansprüche und Entschädigungen beschafften, mochte vielen grotesk, ja geradezu zynisch vorkommen, doch die Regularien des Bundesversorgungsgesetzes hatten auch für diese Angehörigen eine bürokratische Nische. Davon profitierten schon in den fünfziger Jahren Lina Heydrich, die Witwe des SS-Obergruppenführers und »Endlösungs«-Strategen Reinhard Heydrich, die Töchter von Hermann Göring und Heinrich Himmler und die Witwe des Franken-Gauleiters Julius Streicher, die ihren Mann für dessen frühere selbständige Tätigkeit als Herausgeber des NS-Hetzblattes Der Stürmer rentennachversichern ließ – und 46.000 DM herausholte. Dr. Ernst Lautz, Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof und verantwortlich für unzählige Todesurteile, erhielt nach dem Krieg zu seiner Pension eine Nachzahlung von 125.000 DM, dem Staatssekretär in Hitlers Justizministerium, Dr. Curt Rothenberger, in Nürnberg zu sieben Jahren Haft verurteilt, wurden neben seiner ansehnlichen Pension von monatlich über 2000 DM gar 190.726 DM nachgezahlt.
Neuartig am Fall Freisler aber war, daß dabei nicht nur die grundsätzlichen Kriegsopferrechte und früheren »Verdienste« geltend gemacht wurden, sondern ein bis zum Rentenalter künstlich verlängertes Berufsleben eines Nazi-Verbrechers. Die Argumentation mochte absurd sein – und dennoch: Vieles, beinahe alles sprach für die Richtigkeit der Auffassung der Münchner Beamten. Zwar gehörte Freisler unzweifelhaft zu den herausragenden Massenmördern des NS-Systems. In der Zeit seiner Präsidentschaft – von 1942 bis 1945 – und zum Teil unter seinem persönlichen Vorsitz verkündete der Volksgerichtshof durchschnittlich zehn Todesurteile pro Tag. Freilich: Nur wenn Freisler nach Kriegsende den Alliierten in die Hände gefallen und unter die Hauptverbrecher in Nürnberg geraten wäre, hätte die Chance für ein gerechtes Urteil über ihn bestanden.
Doch selbst im Nürnberger Juristenprozeß wurden die Angeklagten lediglich zu überschaubaren Freiheitsstrafen verurteilt, die dank einer großzügigen Begnadigungspraxis keiner der Verurteilten voll absitzen mußte. Von der bundesdeutschen Justiz war sühnende Gerechtigkeit gegenüber den früheren Richterkollegen ohnehin nicht zu erhoffen. Bereits in den fünfziger Jahren hatte der Bundesgerichtshof mit einer zweifelhaften Rechtsprechung einen Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen, indem er allen NS-Richtern ein doppeltes »Rechtsbeugungs-Privileg« zuerkannte: Ein Richter darf danach wegen Mordes oder anderer schwerer Verbrechen nur verurteilt werden, wenn er zugleich der Rechtsbeugung für schuldig befunden wird. Dafür war bei den NS-Juristen der Nachweis des »direkten Vorsatzes« erforderlich – und dieser war kaum zu erbringen. Der Täter mußte bewußt oder gewollt gegen die damals geltende Rechtsordnung verstoßen haben. Eine absurde Begründung. Fast alle Richter im Dritten Reich, besonders aber die Roben-Mörder des Volksgerichtshofs, befanden sich in völliger Übereinstimmung mit den Terror-Gesetzen des NS-Staates. Im Falle Freislers wäre der Nachweis solcher Rechtsbeugungsabsicht noch viel schwieriger gewesen als bei irgendeinem seiner braunen Richterkollegen, die das Kriegsende überlebt und in aller Regel im Adenauer-Staat ihre Justizkarriere fortgesetzt hatten.
Eine Statistik der Berliner Justizbehörde über noch lebende Mitglieder des Volksgerichtshofs spricht eine deutliche Sprache. Unter den bei der Erhebung im Jahre 1984 noch lebenden Juristen waren nach dem Krieg: zwei Amtsrichter, ein Amtsgerichtsdirektor, zwei Landgerichtsräte, vier Landgerichtsdirektoren, vier Oberlandesgerichtsräte, sechs Staatsanwälte, drei Oberstaatsanwälte und sogar zwei Senatspräsidenten. Die Ausnahme blieb es, daß einer der VGH-Juristen nach dem Krieg nicht in den Staatsdienst übernommen wurde. Warum also sollte nicht auch Freisler vor der Strafverfolgung sicher gewesen sein und eine zweite Karriere gemacht haben können? Insofern entbehrte die Argumentation der Münchner Sozialbürokraten nicht einer bestimmten Logik. Freisler – eine deutsche Karriere.
Margot Diestel, eines seiner wenigen überlebenden Opfer, hat für ihr erlittenes Martyrium 920 DM erhalten – als einmaliges Schmerzensgeld. Der Witwe ihres Todesrichters aber gewährte der Staat eine ordentlich dotierte Rente. Nicht die Tatsache der Gewährung ist skandalös, sondern die Begründung. Noch bedrückender: Freisler hätte, wie unzählige seiner braunen Richterkollegen auch, der neuen Republik als Staatsbeamter gedient, hätte weiterhin als »Rechtswahrer« Karriere gemacht.
Zur zweiten Karriere ist es nicht gekommen. Wie aber verlief die erste? Wie wurde aus dem ehrgeizigen Gymnasiasten und jungen Fahnenjunker Roland Freisler der nationalsozialistische Jurist und fanatische Blutrichter Freisler? Wie kam er an die Spitze einer der am meisten gefürchteten Terror-Institutionen der Nationalsozialisten – des Volksgerichtshofs? Wer war dieser Roland Freisler…?