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Vor/Nachspiel
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Becker sprang aus dem Wagen noch bevor Hausmann ihn zum Stehen gebracht hatte. Der Kies knirschte explosionsartig und schlug gegen den Wagen. Das zuckende Blaulicht gab der Szene etwas Unwirkliches. Becker spurtete los, vor ihm ragte das Hinterteil eines Lastwagens aus der Hauswand. Er hatte ein gewaltiges Loch in die Mauer gebrochen und steckte nun darin fest wie ein fetter Käfer. Die Nachbarn hatten zuerst den Unfall, dann Schreie und Schüsse gemeldet. Die Kollegen waren alarmiert und würden bald eintreffen. Becker und Hausmann hatten den Laster zuerst verfolgt, doch dann an einer Ampel verloren. Sich von einem Scheißlaster abhängen lassen, das kann doch nicht wahr sein! Hausmann hatte zurückgeschrien, doch was bringt das? Bevor sie den Wagen über die befahrene Kreuzung gebracht hatte, war der Laster längst um die Ecke verschwunden. Egal, jetzt wusste er ja, wo er steckte. Es war nicht zu übersehen. Die Laterne warf ein kaltes Licht auf das Hinterteil des Eindringlings, das von blauen Zuckungen unterbrochen wurde.
Er hörte, wie Hausmann hinter ihm die Wagentür zuwarf und sich näherte.
„Geh vor, ich gebe dir Deckung“, rief sie und tauchte in geduckter Haltung neben ihm auf. Er warf ihr einen Blick zu und nickte. Langsam näherte er sich dem Lastwagen.
„Was ist denn da los? Soll ich die Polizei rufen“, hörte er auf einmal eine laute Männerstimme.
„Nicht nötig, wir sind die Polizei“, antwortete Hausmann.
„Deshalb die Lampe aufm Dach, wa?“, schloss er Mann messerscharf. Ja, aber dann ...“, setzte er noch einmal an.
„Hau ab, Mann!“, schrie Becker, der sich umgedreht hatte und nun aufrecht und ohne jede Deckung vor dem Haus stand. „Hast du was am Kopf oder verstehst du nicht, wenn man dir was sagt? Haut alle ab! Sofort ab ins Bett und Schnauze halten!“ Sein Blick wanderte zu den Gestalten in Morgenmänteln und Jogginganzügen, die einige Meter entfernt da standen und von denen sich tatsächlich einige langsam in Bewegung setzten. In die andere Richtung, wie er erleichtert feststellte. Sein Blick traf Hausmann, die bis auf wenige Meter herangekommen war, gerade genug, um gezielt schießen zu können und trotzdem den ganzen Bereich der Hausfront im Blick hatte. Beide nickten und Becker drehte sich wieder um. Er spürte sein Herz bis in die Stirn schlagen. Der Laster hatte sich eng ins Haus gebohrt. Da war kein Durchkommen. Er lief weiter zur Tür. Offen! Seitenwechsel, Waffe im Anschlag, schussbereit. Blick hinein. In der Tür lag ein junger Mann, dessen Rücken aussah, als ob jemand darauf einen reifen Kürbis zerschlagen hätte. Der hat eine richtige Ladung abbekommen, dachte Becker und stieg vorsichtig über den Toten. Dass der tot war, stand für Becker außer Frage. Da erübrigte sich der prüfende Griff an die Halsschlagader.
„Bin drinnen“, rief er nach hinten und sah sich um. Rechts ging es ab zu dem Raum, in dem er auch das ramponierte Vorderteil des Lasters sehen konnte. Die Reifen standen auf den Resten eines Sessels, unter dem Fahrerhaus ragten zwei Füße hervor. An einem steckte noch ein abgewetzter Hausschuh. Dahinter sah er einen Torso, der halb unter dem Vorderrad des Lasters herausragte. Der Kopf musste dort gewesen sein, wo jetzt das Rad stand. Drei ausgeschaltet, dachte er und zuckte zusammen, als Hausmann neben ihm erschien.
„Drei ausgeschaltet“, sagte sie sachlich und bewegte sich nach links. Becker schlüpfte in den Raum rechts. Sein Blick raste von einer Ecke zur anderen. Niemand da, bis auf einen weiteren Toten, der in der Ecke an der Wand lehnte als sei er dort eingeschlafen. „Gesichert“, sagte er halblaut und schlich weiter. Vier! Oh Mann, das kann heiter werden, dachte er. Hinter der nächsten Tür erwartete ihn die Küche, diesmal ohne Tote. Es roch nach abgestandenem Essen. Ein Stuhl lag umgestürzt neben dem Küchentisch, auf dem sich benutzte Teller stapelten. Vom Geruch musste Becker ein wenig würgen. Aber wenigstens keine Toten.
„Hier im Schlafzimmer liegt einer“, meldete sich Hausmann durch den Flur. „Tot!“
Er wechselte in den Flur. Hausmann kam ihm entgegen, kreidebleich. Noch zwei Räume zwischen ihnen. Becker erreichte den ersten Raum und sah drei Leichen, die grotesk übereinanderlagen, als seien sie lebend hier hineingestolpert und auf engstem Raum erschossen worden. Acht!
„Acht verdammte Leichen“, sagte er, als er wieder im Flur stand und sich gegen die Wand lehnte.
„Neun“, sagte Hausmann, als sie neben dem letzten Raum stand. Sie schien mit ihrem Mageninhalt zu kämpfen und zeigte auf den Boden neben ihm. Er drehte sich und schaute in den leeren Blick einer Frau, die an die Wand gelehnt dort saß. Ihre Stirn zierte ein großes Eintrittsloch. Der Hinterkopf fehlte zu weiten Teilen.
„Boah, Scheiße“, entfuhr es Becker. Er folgte der Blutspur an der Wand und befühlte seine Schulter. „Verdammt, alles voll. Jette bringt mich um. Die neue Jacke …“
Hausmann würgte. Der Döner vom Mittag war auf dem Weg hinaus, und zwar auf demselben Weg, den es auch hineingenommen hatte. Sie konnte einem leidtun. Leichen waren eben gar nicht ihr Ding.
Er drängte sich an ihr vorbei in das Zimmer, ein Schlafzimmer. Auf dem Bett lag ein Mann mit dem Gesicht nach unten. Er trug eine grüne Bomberjacke, wie sie früher die Rechten getragen hatten. Sein Rücken war blutverschmiert. Hinter dem Bett lag ein weiterer Mann, offenbar Südländer, seitlich zwischen Heizkörper und Bettkasten in einer riesigen Lache. Das Fenster stand offen, die Gardinen wehten sanft wie Engelsflügel. Durch das Fenster müssen die Schützen entkommen sein. Becker beugte sich über den Toten am Boden und schaute hinaus. Im Dunkeln konnte er die Konturen eines Schuppens und Stangen sehen, an denen man bei Tageslicht wahrscheinlich Wäscheleinen sehen würde. Er fragte sich, ob jemand, der eben ein Blutbad angerichtet hat, wirklich daran denkt, dass im Dunkeln irgendwo in Kopfhöhe gespannte Wäscheleinen auf seinen Hals und Kehlkopf warten, wenn er sich davonmacht. Seltsam. Er hörte ein Würgen im Flur. Hausmann. Jetzt hatte sich der Döner in Bewegung gesetzt.
„Komm erstmal hier raus“, beschloss Becker resolut, sicherte und verstaute seine Pistole und packte seine Kollegin am Arm „Wir können auch draußen auf die Kollegen warten. Die frische Luft wird uns guttun.“ Hier konnten sie sowieso keinem mehr helfen. Und wenn, dann würde zumindest er es sich zweimal überlegen. Schließlich waren die Melnikows eine durch und durch kriminelle und rücksichtslose Bande. Ursprünglich aus Weißrussland oder Tschetschenien. So genau wollten sie sich nicht festlegen. Im Rahmen einer der letzten Flüchtlingswellen waren sie hier im Landkreis angespült worden und hatten sich sofort aufgemacht, ihr Territorium zu erobern. Zuerst hatten sie sich durch Schrotthandel einen Namen gemacht, wobei sie zumeist mit geklauten Kabelrollen oder anderen hochwertigen Metallen handelten. Dann waren Zuhälterei und Drogen dazugekommen. Von den rund 15 angeblichen Kindern, Neffen und anderen Anverwandten saßen immer ein paar im Knast und trotzdem wurden es stetig mehr. Längst wusste man nicht mehr, wer wirklich zu denen gehört oder wer sich nur in ihrem Fahrwasser aufhält. Für die chronisch unterbesetzte Polizei im Kreis Heinsberg waren sie längst zu einem ernsthaften Pro-blem geworden. Und für die bis dahin in bestimmten Gegenden etablierten Gruppen, allen voran die Türken. Die hatten ordentlich bluten müssen. Allein in den letzten drei Jahren waren fünf oder sechs von denen auf sehr brutale Weise ausgeschaltet worden. Die bisherige Szene befand sich in der Auflösung und man wartete darauf, dass die Melnikows alles übernehmen. Damit war jetzt nicht mehr zu rechnen, wie es aussah. Von denen weinte er keinem auch nur eine Träne nach. Schade nur, dass ihm diese beiden Amokläufer durch die Lappen gegangen waren. Egal, die würde er später erwischen.
Neben ihm erbrach Hausmann ihren Mageninhalt auf ihre und leider auch seine Füße.
„Mensch, Mädchen, wir haben Zuschauer“, murmelte er und hielt sie stützend am Arm, während er hinüber schaute zu den Nachbarn, die sich angezogen hatten und nun warteten, wie es wohl weitergeht.
„Wat sensibel mit dem Magen, die Kleine, wa?“
Die Frage kam von dem Mann im Morgenmantel.
Becker wandte sich ihm zu und schaute ihn abschätzend an. Vor zwanzig Jahren wäre der ein harter Brocken gewesen, mit Muskeln von der harten Arbeit unter Tage und nicht zimperlich beim Austeilen von Kellen mit seinen großen Händen. „Sie waren nicht wirklich weg, als wir da drinnen waren, oder?“
„Nö.“
„Und wenn da drinnen geschossen worden wäre?“
„Wurde ja.“
„Da waren Sie auch schon hier?“
„Na klar. Seit die mit dem Laster da reingedonnert sind. Wird ja jeder von wach, von dem Radau. Wie soll ein anständiger Mensch denn da noch schlafen können, wa?“
„Und während da drinnen geballert wird stehen Sie hier rum und schauen sich das an.“
„Klar. Geht mich ja nix an, halt ich mich raus, kann mir nix passieren.“
„Haben Sie wenigstens die Polizei alarmiert?“
„Nö, wieso? Sie sind ja da.“
„Dachte ich mir.“
„Soll ich mal´n Aufgesetzten holen? Meine Frau schluckt dat Zeug schon seit Jahren wie Medizin, und die kotzt nie.“ Dabei deutete er auf Hausmann, die gebeugt im Vorgarten stand und würgte.
Dieser einleuchtenden Logik konnte sich Becker nicht entziehen, also bestellte er einmal „Antikotz“ für seine Kollegin und für sich einen extrastarken Kaffee, wenn´s geht mit Weinbrand. Zufrieden drehte sich der Nachbar um und zog ab. Durch diese Aufgabe war er sozusagen Teil der Ermittlungen geworden.
Hausmann hatte neben ihm fertiggewürgt, als Becker mehrere Martinshörner näherkommen hörte. Einen Augenblick später tauchte das Blaulicht der nahenden Einsatzwagen die an sich idyllische Szene vor dem Tatort in blau eingefärbte Hektik. Die Nachbarn wurden auseinandergetrieben und Flatterband gespannt. Den Kaffee mit Schuss konnte er wohl vergessen. Na klasse, dachte er und freute sich schon auf den Rest dieser verdammten Nacht.
Die Kollegen verbreiteten Hektik, was an sich dem Umstand angemessen war, dass da drinnen etliche Leichen lagen. Nach einer Weile trat Mercks von der Spurensicherung auf Becker zu und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel.
„Und was sagst du?“, begann er das Gespräch.
„Was soll ich sagen?“, antwortete Becker und wandte den Blick von seiner Kollegin ab, die etwas abseits anscheinend immer noch gegen ihre Übelkeit ankämpfte. „Wir haben da drinnen neun Tote und allem Anschein nach sind die Täter getürmt.“
„Sieben“, korrigierte ihn Mercks und nahm einen Zug an der Zigarette.
„Was sieben?“, erwiderte Becker irritiert.
„Na, wir haben da drinnen sieben Tote, nicht neun“, erklärte der bullige Mittfünfziger, nahm noch einen Zug und schnippte die Zigarette mit einem „Scheißzeug“ angewidert weit über das Flatterband auf die Straße.
Becker starrte ihn verwundert an. „Neun. Da liegen neun Tote in dem Haus, ich habe sie doch selbst gezählt.“
„Dann hast du dich verzählt, kann ja mal vorkommen“, erwiderte Mercks gleichgültig. „Da drinnen liegen sieben Kunden, nicht einer mehr oder weniger. Kannst gerne nochmal nachzählen. Aber dann streif dir bitte Überzieher über die Schuhe.“
Auf dem Weg zum Haus listete Becker die Leichen in den Zimmern auf. Mercks trottete neben ihm her und strich sie jedes Mal für sich mit einem knappen „jepp“ ab.
„.. im hinteren Flur linker Raum, drei Leichen übereinander.“
„Jepp.“
“Dann die Frau im Flur.“
„Jepp.“
„Daneben im letzten Raum noch zwei …“
„Negativ.“
„Wie bitte?“ Becker blieb stehen und schaute seinen Kollegen entgeistert an. „Na klar, einer mit so `ner Bomberjacke, der lag auf dem Bett. Und neben dem Bett am Heizkörper noch so ein südländischer Typ. Es war zwar dunkel, aber so viel konnte ich erkennen.“
„Ich weiß nicht, wo du die gesehen haben willst, aber der Raum ist leer. Allerdings hat jemand reingepinkelt. Am Bett ist eine große Lache“, entgegnete Mercks und setzte sich wieder in Bewegung.
„Und latsch jetzt bitte nicht da rein. Du kannst nachher die ganzen Fotos haben, als Erster, versprochen.“
Das Fenster. Die Wäscheleine. Becker setzte sich in Bewegung ums Haus herum. Vielleicht waren seine beiden Leichen ja hinten rum verduftet. Ein Uniformierter kam ihm entgegen, bei dem er sich eine Taschenlampe lieh. Über uneben verlegte Bodenplatten ging es am Haus vorbei in den offenen Garten. Im Strahl der Lampe entdeckte Becker schnell die Wäscheleine vor dem Fenster. Vielleicht konnte die ja was über die beiden verschollenen Gewaltopfer erzählen.
„Was suchst du hier?“, hörte er Hausmanns Stimme hinter sich.
„Zwei unserer Toten“, lautete seine abwesende Antwort, denn er suchte schon mit dem Scheinwerfer den Boden rund um die Wäscheleine ab. „Laut Mercks haben wir nur sieben Tote da drinnen und nicht neun, wie wir gezählt haben.“
„Aha?“, sagte Hausmann und ihre Stimme klang irritiert. „Aber wir haben doch durchgezählt, bevor ich … naja.“ Sie brach den Gedanken ab und schaute ihn ernst an. „Ben, ich muss dir was sagen. Ich bin schwanger, weißt du?“
„Aha.“
„Aha?“
„Ja, und da wollte ich mal schauen, wohin sich die beiden anderen verdrückt haben. Sie können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben und bis neun zählen kann ich immer noch“, fuhr Becker abwesend fort und leuchtete auf den Boden. Da war die Auskunft. Unter der Leine auf dem Boden waren Rutschspuren. Da hatte sich einer beim Weglaufen verheddert. Und etwas verloren. Auf dem Boden glitzerte etwas im Schein der Taschenlampe.
„Sag mal, hast du eben gesagt, dass du schwanger bist?“, schoss es ihm auf einmal durch den Kopf und er drehte sich zu Hausmann um. Sie war nicht mehr da.
*
Die Kette mit dem Amulett lag in einer Plastiktüte auf dem Schreibtisch. Becker stellte die Tasse daneben ab und stand auf. Es handelte sich bei dem Kleinod um die „Hand der Fatima“, das hatte er mittlerweile dank Google und einer türkischstämmigen Kollegin herausbekommen. Der Anhän-ger hatte die Form einer Hand, in deren Mitte ein Auge eingearbeitet war. Ein Glücksbringer, der den Besitzer vor den Dämonen des Alltags beschützen sollte – und anscheinend vor tödlich herumfliegenden Pistolenkugeln. Mit seiner Geschichte von den beiden verschwundenen Leichen hatte Becker bei den Kollegen nur Hohn geerntet. Niemand wollte ihm glauben. Vor allem nicht, weil er bisher in dem Fall eine ziemlich jämmerliche Figur abgegeben hatte.
Er wartete darauf, dass Köhler reinstürmt und ihm vor der versammelten Schar der Kollegen einen zwischen die Hörner gibt. Hausmann hatte auch nicht wirklich Partei für ihn ergriffen. Ihr war es peinlich genug, dass die Kollegen sie kotzend am Tatort angetroffen hatten. Becker nahm ihr nicht übel, dass sie sich im Hintergrund hielt und nicht darauf beharrte, wie viele Leichen sie in der Wohnung gezählt hatte. Sie hielt sich fern von ihm und er bekam die ganze Packung kollegialer Häme alleine ab. Er war froh, dass die blöden Bemerkungen ihn ablenkten und er einen Grund hatte, sich vor der Entschuldigung bei seiner Kollegin und dem unausweichlich folgenden Gespräch zu drücken. Er wusste ja, was sie sagen würde. Dass er sie nicht als Kollegin akzeptiere und sie sich nicht ernstgenommen vorkomme, dass er sie durch sein Verhalten ausbremsen würde, dass sie ein gutes Team sein könnten, wenn er sich nur mehr öffnen und auch mal erzählen würde. Wovon sollte er erzählen? Dass er sie nicht als Kollegin wollte? Dass ihm Hermanns als Partner lieber gewesen war, der sich aber auf eine Stelle beim LKA beworben hatte? Dass er mit ihr ins Bett gehüpft war, aber nicht zusammenarbeiten wollte? Dass es ihm egal war, ob sie schwanger war und von wem? Schwer zu vermitteln.
Da sei ihm wohl die Düse gegangen, als er die vielen Toten gesehen hatte, hieß es. Und das sei ja auch normal für einen Provinzbullen wie ihn. Dabei hatte der Kommentar auch noch so geklungen, als ob wirkliches Verständnis mitschwang. Verständnis, so eine Scheiße! Er fühlte sich wie eine Lachnummer. Aber er war sicher: Es waren neun Leichen gewesen, nicht eine weniger. Und schon gar nicht zwei! Es war zum Verrücktwerden. Da hatten sie ihn richtig reingelegt. Er war in eine Falle getappt, die nicht funktioniert hätte, wenn er sich an die Vorschriften für einen solchen Einsatz gehalten hätte. Natürlich hätte er für ausreichende Lichtverhältnisse sorgen und die angeblichen Leichen nach Vitalfunktionen überprüfen müssen. Verdammt, das wusste er selbst. Aber draußen auf dem Flur stand Hausmann neben einer Leiche und hätte zu kotzen begonnen, wenn er sie nicht an die frische Luft gebracht hätte. Und ihm war längst klar, wer die beiden Phantomleichen waren, die ihn nun zum Gespött der Kollegen machten. Die übelsten Kommentare waren von den Kollegen aus Aachen gekommen, die noch in derselben Nacht eingeschaltet worden waren. Sie hatten zum Besuch eines Psychologen geraten und sich dabei grinsend angeschaut, als sie von Beckers verschwundenen Leichen gehört hatten. Immerhin hatte man auf sein Geheiß hin bei Tagesanbruch hinter dem Haus nach verwertbaren Spuren gesucht, aber der nächtliche Regenguss und die Kollegen, die zuerst am Tatort waren, hatten ganze Arbeit geleistet.
„Hey Becker, draußen fliegen ein paar Leichen herum, sind das die, die du suchst?“ Becker schaute auf und in das Gesicht des Kollegen Meier, der seinen Kopf grinsend zur Tür herein gesteckt hatte, ihn aber schnell wieder zurückzog, als die Kaffeetasse gefolgt von einer flatternden Fahne dunkelbrauner Flüssigkeit auf ihn zugeschossen kam.
Diese Scheiße würde ihm noch eine Weile nachlaufen, da war er sich sicher. Dann steckte Köhler seinen Kopf durch die Tür.
„Wie sieht das denn hier aus?“, platzte es aus seinem Chef heraus. „Sorgen Sie dafür, dass das weggemacht wird und dann kommen Sie bitte mal in mein Büro, Herr Kollege Becker. Ich habe das nicht zu unterdrückende Verlangen, mich mit Ihnen und Ihrer Kollegin zu unterhalten.“
Auch das noch. Becker vergrub das Gesicht in beiden Händen und rieb es, um wieder ein wenig Farbe zu bekommen.
„Hey, Becker“, hörte er auf einmal Hausmanns Stimme. Er schaute auf und sah ihren Oberkörper halb hinter der Tür. „Ich wollte es dir selbst sagen, bevor der Alte es gleich tut.“
„Ja“, unterbrach er sie etwas genervt. „Was denn noch?“
„Ich höre auf.“
„Was?“ Er starrte sie fassungslos an. „Was tust du?“
„Das ist schon alles mit Köhler besprochen“, sagte sie ruhig. „Ich packe gleich meine Sachen in einen Karton und bin verschwunden.“
„Ja, aber …“, begann er fassungslos. „Wieso?“
„Weil du ein Arschloch bist, Becker“, antwortete sie ruhig. „Sogar ein Riesenarschloch. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben.“ Dann war ihr Oberkörper verschwunden und die Tür wurde ins Schloss gezogen.
Er starrte fassungslos auf die Tür, als ob sie ihm auch noch etwas mitzuteilen hätte.
„Weißt du, was du mich mal kannst? Du kannst mich am Arsch lecken, du blöde Kuh!“, platzte es aus ihm heraus. „Ich komme ohne dich sowieso besser klar!“ Das war gelogen und das wusste er.
„Hör mal, der redet wieder mit seinen unsichtbaren Leichen“, hörte er eine dumpfe Stimme auf dem Flur.
Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er stand auf. Köhler wartete in seinem Büro darauf, ihn zusammenscheißen zu können. Darauf wollte er ihn auf keinen Fall zu lange warten lassen.