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Zwischenspiel 3: Askim erzählt

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Dr. Ansgar Drücker-Bernbach rieb sich die Augen. Die Abendsonne schien durch das Fenster und tauchte einen Streifen seines grauen Teppichbodens und der angrenzenden Wand in gleißendes Licht. Es fiel ihm schwer, sich auf die Probleme von Elisabeth Halcour zu konzentrieren.

„…. Sie wissen doch, dass mein Ewald kein Interesse mehr an Sex hat“, erzählte sie gerade unter Tränen und tupfte mit dem Papiertaschentuch die Tränen aus ihren Augen. „Er ist so … so … desinteressiert. Dabei bin ich doch eine durchaus sexuell orientierte und offene Frau, die auch ihre Bedürfnisse hat, verstehen Sie?“

Natürlich verstand er. Und das schon seit langem. Nicht, dass sie ihm ihre Lebensgeschichte nicht schon oft genug haarklein und mit vielen Tränen erzählt hatte. Noch eine halbe Stunde lag vor ihnen, dann wäre diese Sitzung endlich beendet und er könnte sie abrechnen. Es war sowieso egal, was er dazu sagte, denn sie würde nach Ablauf der bewilligten Sitzungen wiederkommen und ihm den ganzen Sermon noch einmal erzählen und noch einmal und … manchmal fragte er sich, weshalb er nicht wirklich bei seinem Freund Gerhard in der Traumaforschung angeheuert hatte. Aber nein, er war zu stolz gewesen und seine Frau wollte nicht wegziehen aus Baal, wo sie ein bis unter die Dachschindeln verschuldetes Haus hatten und seine Gerda ihre Erfüllung in der Inszenierung von Boulevardstücken mit ihrem Theaterverein gefunden hatte. Seine Erfüllung lag darin, morgens die paar Kilometer mit dem Cayenne bis nach Hückelhoven zu brettern und sich für die Dauer eines AC/DC-Klassikers wie ein toller Typ zu fühlen, der es geschafft hatte. Nach der Sitzung würde er erst einmal ein paar seiner rosa Lieblingspillen einfahren, die er über seine Patienten abrechnete. Seine nüchtern und kühl eingerichtete Praxis war einmal sein ganzer Stolz gewesen. Ein paar Grafiken hier, zwei teure Topfpflanzen da und dort. Eine Wand voller Fachliteratur. Jetzt war sie der Klotz an seinen Beinen, der ihn daran hinderte zu leben.


*


Elisabeth Halcour war gerade zum x-ten Mal bei ihrem traumatischen Erlebnis angelangt, als sie frühzeitig aus dem Bibelkreis heimgekommen war und ihren Mann in ihrem hellblauen Dirndl vor dem Schlafzimmerspiegel überrascht hatte. Zum Glück konnte Drücker-Bernbach innerlich gähnen und gleichzeitig immer noch konzentriert dreinschauen. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das sah konzentriert aus und die Patienten schätzten die Intensität, mit der er sich auf ihre Probleme einließ. Wenn die wüssten. Im Moment konzentrierte er sich auf sein Foto eines verlassenen Gehöfts in der Toskana, das er vor zwei Jahren bei einem Urlaub aufgenommen hatte. Nun hing es neben einer Urkunde, die ihm die Absolvierung eines therapeutischen Lehrganges bescheinigte. Sein Gedankenfluss war gerade auf dem Weg, sich in sexuelle Tagträume zu verabschieden, als er im Flur Stimmen hörte. „Nein, Sie können da jetzt nicht so einfach reinplatzen! Herr Doktor ist in einer Sitzung!“ „Ey, machst du Stress? Spring hinter deinen schwulen Schreibtisch, sonst werf´ ich dich!“ „Sie…“

Da flog die Tür auf und ein junger Mann stürmte herein. Südländischer Typ, unrasiert, die Haare schon länger nicht mehr gewaschen. Von der Aura der Verzweiflung umgeben.

„Zack, Sendepause!“, knurrte er Elisabeth Halcour an und baute sich mitten im Raum auf.

„Ja, aber …“, begann sie.

„Ja, aber raus jetzt! Hier, hast du hundert Euro! Lass dich mal ordentlich durchbügeln, dann geht´s dir besser!“, lautete seine bestimmte Antwort. Der Hunderter landete zeitgleich wie ein Schmetterling in ihrem Schoß. „Und jetzt Abmarsch!“

„Darf ich wissen, wer Sie sind?“, setzte Drücker-Bernbach an und richtete sich in seinem Sessel auf.

„Ja. Ich bin ein Mann, der Hilfe braucht“, kam die Antwort. „Das ist alles, was Sie wissen müssen!“ Die Augen des jungen Mannes sprachen eine ganz andere Sprache. Willst du mich anmachen? Kannst du haben! „Und Sie sind der Mann, der mir zuhört! Klar?“

Drücker-Bernbach wendete sich an Elisabeth Halcour, die verzweifelt und nach Luft schnappend von ihrem Sessel aufgestanden war und nun ebenfalls mitten im Raum stand.

„Lassen Sie sich bitte vorne einen neuen Termin geben, das hier scheint ein Notfall zu sein.“

„Ja, aber…“, setzte sie an.

„Hallo? Gehört, was der Doktor sagt? NOTFALL! Also raus jetzt, sonst helf´ ich nach, klar?“, kam es von dem Eindringling.

„Klar“, murmelte sie und zog mit einem nachgeschobenen „Bis zum nächsten Mal“ ab. Dann besann sie sich eines Besseren, bückte sich und hob den Geldschein auf, der ihr vom Schoß auf den Boden gesegelt war.

„Und nicht vergessen: Scheiß-Tür zu machen! Oder hast du zu Hause Säcke vor der Tür!?“

Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Therapeuten, während die Tür mit einem leisen „Verzeihung“ zugezogen wurde.

„Verraten Sie mir jetzt, wie ich Ihnen helfen kann?“, setzte Drücker-Bernbach erneut an. Die Situation versprach Spannung und das erregte ihn innerlich. Eine willkommene Abwechslung. Der Eindringling gehörte eindeutig nicht zu den Leuten, die normalerweise hier wegen seiner Hilfe vorsprachen. Allem Anschein nach türkischer oder arabischer Herkunft, so genau konnte er es nicht einordnen. Gekleidet war er geschmacklos und teuer. Unter der Lederjacke schienen einige beeindruckende Muskelpakete zu stecken, um den Hals trug er eine anscheinend echte und sehr dicke Goldkette.

„Du bist Seelenklempner?“

„Kann man so sagen, ich nenne es lieber …“

„Quatsch keinen Mist, Mann!“, unterbrach der junge Türke ihn und setzte sich auf den von Elisabeth Halcour angewärmten Platz. „Du kriegst Geld fürs Zuhören und meine Seele ist verstopft, klar?“

„Klar.“

„Was kriegst du für dein Zuhören?“

„Haben Sie eine Überweisung?“

Haben Sie eine Überweisung?“, äffte ihn sein Gegenüber nach. „Bin ich schwul oder sehe ich aus wie ein Arsch, der eine Scheißüberweisung braucht, um zu reden?“ Seine Augen blitzten. Nicht wirklich böse, wie Drücker-Bernbach fand, eher verzweifelt. Auf eine seltsame aggressive Art verzweifelt. Sehr interessant.

„Nein, durchaus nicht.“ Mit einem Griff in die Tasche fischte er einen Streifen rosa Pillen heraus, drückte zwei aus ihrer Verpackung und schluckte sie. „Auch eine?“, fragte er und hielt den Tablettenstreifen in Richtung des jungen Mannes.

„Brauch ich nicht. Ich hatte die letzten Wochen genug richtiges Zeug, nicht so einen schwulen Kram! Also, wie viel kriegst du?“

„Sagen wir…“

„Hier sind fünfhundert, cash! Keine Fragen, Ohren auf und nachher Schnauze halten, okay?“

„Klingt wie ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann“, sagte der Psychiater ruhig, nahm das Geld, das ihm sein Gegenüber entgegenstreckte und steckte es ohne nachzuzählen – das erschien ihm nicht ratsam – in die Jackentasche.


*


„Also, ich heiße Askim und bin in den letzten Jahren zweimal umgebracht worden“, begann er. Drücker-Bernbach legte kurz die Stirn in Falten und nickte. „Soso …“

„Ja, und beide Male war es derselbe Flachwichser, der mich kalt machen wollte. Nicht dass du mich falsch verstehst: Es gab eigentlich keinen Grund dafür. Echt!“

„Äh… nein? Das macht die Sache aber … sagen wir kompliziert“, warf Drücker-Bernbach ein und grinste etwas fahrig. Vielleicht war die Dosis seiner rosa Helfer doch zu hoch für diese Tageszeit.

„Kompliziert ist gut, Mann“, bestätigte Askim. „Und auf die Dauer macht mich das irgendwie … naja …“

„Ja?“

„…. Irgendwie betroffen. Ich meine, was hat der Arsch gegen mich, dass er mich alle Backe lang um die Ecke bringen will?“

„Ich weiß es nicht, wissen Sie es denn nicht?“

„Naja, beim ersten Mal wollte der uns irgendeinen Scheißpuder als Speed verkaufen und wir haben es bemerkt. Und da mussten wir natürlich handeln. Also wollten wir ihn um die Ecke bringen.“

„Aha. Aber damit schafft man sich nun wirklich keine Freunde, oder?“

„Ah, ein Scherzkeks“, sagte Askim anerkennend. „Aber man vertickt auch kein Scheißpulver für teures Geld – und schon gar nicht an mich.“ Seine Augen funkelten böse.

„Schon klar, da würde ich Sie auch umbringen wollen … äh, ich meine ihn, den … den anderen.“

„Eben. Das ist Geschäft, weiß man. Aber der Sack hat meinen Cousin Hassan erschossen und mir eine scheißdicke Metallstange einmal durch den Bauch gestoßen. Hier!“ Mit diesen Worten zog er sein Shirt hoch und entblößte eine große Narbe, die seinen Bauch verunstaltete. Drücker-Bernbach war schwer beeindruckt und warf gleich automatisch noch zwei Pillen nach. „Mannomann“, murmelte er.

„Sag ich doch. Aber der Sack hatte Glück, weil die Bullen gekommen sind und er abhauen konnte. Ich auch. Scheiße nochmal, waren das Schmerzen. Bin rübergefahren nach Holland. Da hat ein Onkel sich was aufgebaut. Der kennt haufenweise nützliche Leute, auch `nen Arzt, der aber keiner ist – also nicht so offiziell, verstehst? Der hat mich dann zusammengeflickt. Hat Wochen gedauert und Schmerzen, sag ich dir, Schmerzen waren das! Als er mir das Ding rausgezogen hat, hab ich meinen eigenen Blinddarm gesehen, ich schwöre! Als ich wieder alleine stehen konnte, habe ich ihm für die Schmerzen den Kiefer gebrochen, dem Hurensohn. Aber insgesamt hat er `nen guten Job gemacht.“

„Wann war das?“

„Ist gut vier Jahre her. Das hat meine Karriereplanung ziemlich durcheinandergebracht, wie du dir sicher vorstellen kannst. Als ich wieder da war, musste ich echt wieder bei null anfangen. Hammer, oder?“

„Ja, äh … Hammer, stimmt. Um welche Art Karriere handelt es sich bei Ihnen genau?“

„Hör zu, Mann“, knurrte sein Gegenüber bedrohlich. „Das geht dich nichts an, verstanden? Je weniger du weißt, umso besser ist das für dich und deine Familie.“

Drücker-Bernbach dachte an seine Frau und diese wunderbare Möglichkeit, sie loszuwerden, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Er verdrängte den Gedanken schnell wieder und schluckte noch eine Pille. „Gut, das hätten wir ja dann“, begann er, räusperte sich und klopfte auf seinen leeren Block. Er hatte sich schon die ganze Zeit nicht getraut Notizen zu machen. Wer weiß, wie der Kerl das ausgelegt hätte. Vielleicht sollte er sich einen Notfallknopf anschaffen, den man auf der Unterseite seiner Armlehne anbringen könnte. „Und wann hat er Sie zum zweiten Mal umgebracht?“


Zwei Hurensöhne

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