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Erster Akt: Jokers großes Spiel

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Joachim Jaguschek, genannt Joker, war klar, dass er es diesmal übertrieben hatte. Um ihn herum waren Kälte und Dunkelheit. Vor ihm lag die Millicher Halde. Er schmeckte das Blut im Mund und fühlte mit der Zunge an der Stelle entlang, wo bis vor ein paar Minuten noch sein rechter Schneidezahn und dessen linker Nachbar gesessen hatten. Sein linkes Auge war nahezu ganz zugeschwollen, sodass er den Weg kaum sehen konnte, auf dem er entlang gestoßen wurde. Auch das Atmen fiel schwer durch die immer mehr zugeschwollene Nase. Bingo und Bongo hatten ganze Arbeit geleistet. Dabei hatte es am Anfang wirklich gut ausgesehen. Fünf Kilotüten mit Pulver, die oberste voll mit verschnittenem Speed. Aber von der Qualität her alle Male ausreichend, um die Paviane hinters Licht zu führen. Der Rest war Babypuder gemischt mit Scheuermittel. Damit es zuerst beißt. Es hätte klappen müssen, aber Askim, der misstrauische Sack, hatte zielsicher die unterste der fünf Tüten aus dem Rucksack hervorgekramt, ihn breit angegrinst, sie angeschnitten und seinen angefeuchteten Zeigefinger in das Pulver gestoßen. Bei dem Anblick und der Gewissheit, was folgen würde, hätte sich Joker am liebsten in die Hose gemacht. Askim hatte geschnupft, große Augen gemacht und mit einem Nicken seinen beiden Gorillas zu verstehen gegeben, dass es an der Zeit war, dem Joker die Grubenlampe auszupusten. Das Grinsen war noch breiter geworden, fast zufrieden. Als ob er genau das getan hätte, was Askim von ihm erwartet hatte. Dann war alles sehr schnell gegangen.

Während er noch nachdachte, was er wohl sagen könnte, traf ihn der erste Schlag mitten ins Gesicht. Es folgte eine ganze Reihe von Schlägen, doch nach dem dritten in die Magengrube hatte sich der Joker erst einmal auf den Boden vor sich übergeben, bevor seine Beine unter ihm wegklappten. Sie hatten sich auf dem Parkplatz der Millicher Halde getroffen, um den Deal durchzuziehen. Der Ort war ideal geeignet, abseits der Straße und durch Bäume vor Blicken geschützt. Spät am Abend traf man dort niemanden an und man konnte schnell wieder verschwinden. Jetzt wusste er, was er nicht bedacht hatte: nämlich, dass man eben spät am Abend niemanden antrifft und schnell wieder verschwinden kann. Er kam sich vor, als ob er sich selbst ein Bein gestellt hätte. Und da war er wieder, der altbekannte Moment, in dem man merkt, dass man Scheiße gebaut hat und sich nichts sehnlicher wünscht, als die Zeit und Ereignisse zurückdrehen zu können bis zu einem bestimmten Punkt. Dem Punkt, an dem er Askim gestern vor der Shisha-Bar den diskreten Treffpunkt für ihr Geschäft selbst genannt hatte. Lass uns um zwei bei McDonalds einen Kaffee trinken und dabei alles Weitere regeln. Das hätte er sagen sollen. Wie zur Bestätigung bekam er einen halbherzig ausgeführten Tritt gegen die Rippen. Schüler-Kungfu. Eher symbolisch. Aber das würde sich ändern, sobald sie oben waren, da war er sich sicher. Nach oben schleppen wollte ihn von den Clowns sicher keiner.

Die Idee, sich mit Askim und seinen Leuten einzulassen, war nicht seine beste gewesen. Vor allem nicht, weil er von Anfang an vorgehabt hatte, sie abzuziehen. 25 000 Euro hätte ihm die Nummer eingebracht. Abzüglich der dreitausend, die er den Bikern in Roermond für die Tüte echten Stoffs schuldete, war es das wert gewesen. Er stolperte und wurde hochgezogen. Irgendwas geht immer, hämmerte er sich ein, während er weiter das erste Teilstück der Himmelleiter hochgeschubst wurde. Vor ihm Askim und sein Adjutant Hassan, hinter ihm Bingo und Bongo, die schon jetzt ihren Spaß hatten.

Die Millicher Halde war Stein und Schotter gewordene Bergbaugeschichte. Das, was die Kumpel im Laufe von nicht einmal 90 Jahren aus der Erde geschaufelt hatten, um an die begehrte Kohle zu kommen. Im Laufe der Jahre begrünt und bewaldet war die Halde nun auf dem Weg, ein Stück des touristischen und Naherholungsangebotes der Stadt Hückelhoven zu werden. Vom Parkplatz aus hatten sie den Anstieg über die Himmelstreppe begonnen. Ein viel zu schöner Name für das Metallgestell, das außen an der alten Abraumhalde hoch führte zur Aussichtsplattform, von der aus man bei gutem Wetter einen guten Blick ins Land hatte. Sogar das neue Stadion der Mönchengladbacher Borussia konnte man sehen.

Die ersten fünfzig Stufen auf dem Weg zur Aussichtsplattform lagen hinter ihnen. Sein verschwommener Blick schweifte über die Bäume und Büsche, die nun auf der Halde wuchsen und zur Fremde kaum noch erahnen ließen, dass es sich hier nur um den Abraum von weniger als einem Jahrhundert Bergbau handelte. Die Halde war zu Zechenzeiten abgesperrt und ein weißer Fleck auf der Stadtkarte von Hückelhoven. Die Millicher hatten sich wüste Sachen erzählt, die die Bergbaubosse oben auf der Halde veranstalten würden und hatten das Gelände jahrelang als wilde Müllkippe genutzt. Ganze Wohnungseinrichtungen und zerlegte Autos waren hier entsorgt und irgendwann zu einem überwucherten Teil der künstlichen Landschaft geworden. Die holländischen Lumpenhändler hatten das Areal kurz nach der Freigabe für die Öffentlichkeit durchpflügt und manchen wertvollen Fund abtransportiert. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis man ihn finden und wie er dann aussehen würde. Sein Axe würde sicher nicht so lange reichen, obwohl er sich großzügig damit eingesprüht hatte, weil er vor Angst einen ganz sauren Körpergeruch abgesondert hatte. Oben auf der Halde würden sie ihn töten. Wie passend. Ihn, den ehemaligen Bergmann, der seine besten Jahre auf der Zeche und unter Tage verbracht hatte, würden sie auf dem Gipfel des Abraumberges töten, zu dessen Entstehen er, sein Großvater, sein Vater und seine beiden Onkel bestimmt einige Meter beigetragen hatten. Etwas wehmütig dachte er an seine Kindheit im Schatten der Fördertürme. Bergmann in dritter Generation hatte er werden wollen. Doch dann hatte die Zechenschließung den Plan vereitelt. Vorher hatte er schon ein wenig Kontakt zur heimischen Unterwelt gepflegt. Doch ab dann war es schlagartig bergab gegangen. Ein wenig Dealen hier, ein paar Brüche dort, mal Schmuggel im Auftrag seiner Geldgeber. Er hatte eine ziemlich erbärmliche Karriere hingelegt – und sich dabei auch noch wie eine ganz große Nummer gefühlt. Klar, er war Anfang 30 gewesen, als sie ihn mit einer Abfindung auf die Straße gesetzt hatten. Und bereit zu allem. Schnell hatte er seinen Spitznamen weg: Joker. Wenn einer bekloppt genug ist, das zu machen, dann der Joker, hatten die schweren Jungs in den einschlägigen Kneipen gesagt und er hatte es auch noch als Kompliment empfunden. Bis er zum ersten Mal eingefahren war. Nicht in den Stollen, aber in die JVA. 14 Monate wegen Einbruchs. Als er rauskam, war seine Frau Biggi mit Jessica und dem letzten Ersparten über alle Berge. Egal, irgendwas geht immer, hatte er sich gesagt und seine Bemühungen, ein passabler Kleinkrimineller zu werden, noch intensiviert. Askim und seine halbseidene Truppe hatte er schon früher kennen gelernt. Und weil sie ihm vertrauten – so dachte er zumindest – waren sie die idealen Opfer, um ausgenommen zu werden. Das war wohl nichts. Und jetzt würden sie ihn oben fertigmachen. Hoffentlich würde es schnell gehen. Aber Askim war abartig genug, um seinen Spaß zu haben, wenn es ein wenig länger dauern würde. Und Bingo und Bongo waren brutal und bekloppt genug, um ihrem Chef sicherlich eine gute Show zu bieten.

Dabei kannte er diesen Askim schon, seit er ein kleiner Türkenjunge in Doveren gewesen war. Immer eine Rotznase, die Haare strubbelig und einen frechen Blick. Er hatte ihn früher ab und zu gesehen, wenn er Ali nach Hause gebracht hatte. Ali war Askims Vater und schon lange tot. Er konnte sich erinnern, dass er auf dem abgetretenen Rasen vor dem Mietshaus mit dem Kleinen Fußball gespielt hatte. Ali hatte Lammkoteletts auf den Grill geworfen und die Nachbarn hatten laut die Fenster zugeknallt. Schon wieder der Gestank nach Ziegenfleisch. Ali hatte gelacht und seine Frau hatte frischen Salat in einer großen Schüssel aus dem Haus getragen, bevor ihn der Gummiball mit dem Logo der Bergbaugewerkschaft an der Stirn traf. Er hatte den Jungen gesehen, der wie wild herumhüpfte und sich über seinen Schuss freute, und er hatte gelacht. Dann kamen der verdammte Tag im Herbst und das Unglück mit dem verdammten Förderkorb beim verdammten Schacht 3. Wer hätte auch ahnen können, dass die Blockiervorrichtung ausgerechnet in dem Moment ihren Geist aufgeben würde, als er den Aufzugshebel bediente, um die Kumpels hochzuholen. Das Gefühl würde er nie vergessen, als der Hebel klemmte und gleichzeitig der Luftzug des herunterstürzenden Förderkorbs ihn frontal traf. Auch Ali wurde frontal getroffen, jedoch vom Förderkorb. War nicht viel von ihm übrig geblieben, als sie endlich den Korb weggeräumt hatten. Jeder in der Schicht hatte gewusst, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, den verdammten Korb und seine Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Und er hatte es auch immer getan, bis auf dieses eine Mal. Dieses eine verdammte Mal, das Ali das Leben und seinem Kumpel Hacki den rechten Arm gekostet hatte. Der kleine Askim war damals gerade zehn, wenn überhaupt. Er hatte ihn nur noch einmal gesehen, bei der Trauerfeier für Ali. Den Blick, den der Kleine ihm zugeworfen hatte, hatte er zu vergessen gesucht. Und trotzdem war er jeden Tag wieder da gewesen. Dieser verdammte Blick. Er war selbst noch ein junger Kerl gewesen, gerade erst ein paar Jahre auf der Zeche beschäftigt. Und er hatte weitergelebt, sie hatten ihm ja nichts beweisen können, weil er das Wartungsprotokoll gefälscht hatte. Dann hatte er ein paar Wochen auf Psyche krankgefeiert und dann so getan, als ob nicht passiert wäre. Irgendwann wächst Gras selbst über die übelsten Schweinereien. Warum er für seinen großen Coup dann ausgerechnet Alis Sohn und dessen Jungs ausgesucht hatte, konnte er sich selbst nicht erklären. Sie hatten ihn magnetisch angezogen und er hatte nachgegeben. Er hatte sie umkreist und beobachtet, in den Shisha-Bars und Spielhallen. Umkreist und eingekreist, dann den Hals lang gemacht. Riesengeschäft. Unverschnitten. Unschlagbar günstig. Was hatte ihn geritten? Wollte er die Alpträume loswerden, die ihn seit Alis Tod regelmäßig heimsuchten? Jetzt würde Askim auf jeden Fall das Versprechen einlösen, das der Blick des Jungen an der Hand seiner weinenden Mutter vor über 25 Jahren gegeben hatte. Und er selbst hatte sich zum Schafott geführt mit dieser selten blöden Idee. Schöne Scheiße, dachte er sich. Dann krachte es. Der Schlag riss den Joker aus seinen düsteren Betrachtungen. Er traf ihn an derselben Stelle, wo auch schon seine Vorgänger eingeschlagen waren. Der Schmerz wurde dadurch nicht weniger. Askim spazierte im feinen Zwirn vorneweg mit Hassan, als hätten sie mit denen, die ihnen da folgten, nichts zu tun. Sie unterhielten sich entspannt, als seien sie auf einem Sonntagsspaziergang, wobei sie ihn und das, was sie ihm oben anzutun gedachten, völlig ignorierten.

Wie hatte Askim gesagt? „Du hast mich enttäuscht, weißt du. Du bist kein Freund mehr, weiß du? Du bist nicht einmal mehr ein Mensch. Du bist schon jetzt nur noch totes Fleisch, weißt du? Keiner bescheißt Askim, keiner!“ Zugegeben, sein Plan war von Anfang an nicht der sicherste. Aber vielleicht hatte ihn genau das gereizt. Und er hatte überreizt. Andererseits fragte er sich, wie aus dem süßen Jungen von damals so ein Arschloch werden konnte.

„Ey, trab voran, du Opfer. Musst ja nicht mehr viel gehen in dein´ Leben“, hörte er Bingo von hinten. Oder war es Bongo? Die beiden sahen aus wie Affen, die demselben Wurf entstammten. Sogar die wuchtigen Bärte schienen, als stammten sie aus derselben Produktion. Wieso tragen diese Bekloppten eigentlich alle neuerdings diese hässlichen Oberschenkelbesen?, fragte er sich. Als ob das in seiner Situation wichtig sei. Dann der schon erwartete Schlag gegen seinen Hinterkopf. Er stürzte nach vorne auf die Treppenstufen und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen.

„Pass auf, Arschloch!“, knurrte Askim, der ihn nun doch bemerkte. „Wenn du meine Hose vollblutest, dauert es gleich nur noch länger, klar?!“ Damit war die Hoffnung auf ein schnelles Ableben schon gestorben. Askim war ein eitler Geselle, der davon ausging, dass sein Wort Gesetz war. Wenn er belustigt werden wollte, dann wurde er belustigt. Seine drei Kumpane versuchten, ihm in Nichts nachzustehen, auch nicht in modischen Dingen. Deshalb sahen sie auch aus wie Bilderbuch-Gangster aus dem Musikvideo. Die Jacken trugen große Abzeichen, die sicher irgendwelche asiatischen Worte darstellten.

Die Hückelhovener Kleinkriminellen, die etwas auf sich hielten, kauften in Roermond in einem Laden ein, der für diese lächerlichen Dinger ein Schweinegeld verlangte. Doch unter ihren geckenhaften Jacken hatten sie geladene Waffen. Er hatte nur einen von oben bis unten schmerzenden Körper und die Gewissheit, bis zum Hals in der Scheiße zu stecken. War es das, was er in Wirklichkeit gewollt hatte? Dass die Gestalten um Askim nicht ganz dicht waren, war bekannt. Sie waren die einzigen, die allen Ernstes meinten, für ihre kleinen Geschäfte mit Waffen auflaufen zu müssen. Den anderen reichten Baseballschläger, Askims Jungs brauchten Ballermänner. So waren sie schnell zu auffälligen Nummern geworden, zumal sie auch gerne mit den Euros um sich warfen wie in Hiphop-Videos. Vielleicht war es das gewesen, was den Joker so an ihnen gereizt hatte. Neid.

Er rappelte sich auf und wurde sofort weitergeschubst. Er wollte sich mit der Hand über den Mund wischen, doch sie war voller Dreck. Er rieb sich kleine Steinchen in die aufgeplatzte Unterlippe und spuckte aus. Hassan pfiff eine türkische Melodie und schaute sich anerkennend nickend um. „Die Hückelhovener Alpen sind das, verstehst du?“, sagte er zu seinem Boss, der den Gag mit einem gegrunzten Lachen kommentierte. Am liebsten hätte der Joker auch etwas dazu gesagt. Warum nicht? Verscheißen konnte er es sich mit denen sowieso nicht mehr. Aber er verkniff es sich und wartete auf den nächsten Schlag von hinten.

Sie hatten das zweite Teilstück der Treppe gerade passiert und standen kurz nach Luft schnappend auf dem schmalen Landabsatz, bevor es weiterging. Dem Ende entgegen. Aber Irgendwas geht immer, hämmerte er sich ein und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Wartete er auf ein Wunder? Irgendwas geht immer. Irgendwas geht immer. Er zwang sich, sein Mantra herunterzubeten. Immer wieder. Glaubte er noch daran? Ja! Er glaubte daran, musste daran glauben. Wenn man sonst schon nichts mehr hat, dann glaubt man eben an irgendeinen Scheiß.

Schlag, Tritt, Wanken, Treppe steigen. Die letzte Choreografie seines Lebens.

Sein Ende hatte er sich ganz anders vorgestellt. Im Kreise seiner Familie, die um ihn trauern würde. Mit seiner Frau, der dreckigen Schlampe, die natürlich keine Schlampe wäre. Und seiner kleinen Jessika, die dann natürlich nicht mehr klein sein würde. Ein paar Enkel, gesichtslos, spielten in dieser Fantasie auch eine Rolle. Nun würde er keine Zeit mehr haben, ihnen Gesichter zu verleihen, an die er gerne denken würde. Da oben auf der Halde würde es Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis ihn jemand aus Zufall fand. Einer der beiden Gorillas riss ihn erneut aus seinen Gedanken.

„Ey, Scheiße ey, guck dir die Scheiße an, ey!“ Seine vier Begleiter blieben stehen und auch er drehte sich automatisch um. Bongo stand da und schaute fassungslos an seinem rechten Bein herunter. Im Mondlicht konnte man dunkle Flecken auf der Hose erkennen. „Ist das Hundescheiße oder hat der mich vollgekotzt?“ Die drei wollten es mit eigenen Augen sehen. Hassan machte einen Schritt an Joker vorbei und drückte ihn wie einen lästigen Passanten im Schlussverkauf zur Seite. „Zeig mal.“

„Ey, du bist mir ein Gangster“, begann Askim und folgte Hassan. „Ist das nicht scheißegal, was da an deiner Hose klebt? Wir wollen den da umlegen, klar?!“

„Der da“ war auf einmal hellwach. Jetzt oder nie. Er nahm alle Kraft zusammen und spurtete los. Die Treppe hoch. Er rammte mit der Schulter Hassan zur Seite, der gegen das Geländer knallte. „Ey, pass auf“, „Ey, bleib stehen!“ „Schieß doch, du Idiot!“, hörte er sie hinter sich. Dann setzte er zum Hechtsprung über das Treppengeländer an. Hinter sich hörte er Getrappel und türkische Wortfetzen. Gleichzeitig schlug seine Hüfte gegen das Metallgeländer. Er landete hart auf dem steinigen Boden, rappelte sich wieder auf und hechtete ins Gebüsch. Er sah Sterne. PLOPP, PLOPP machte es hinter ihm. Sie schossen. Das war Askims Luger mit Schalldämpfer. Er stürzte durch die dornigen Büsche und stolperte vorwärts. Dann ein lautes Krachen. Bongos Magnum! Neben ihm knickten Äste ab und Blätter standen für Sekundenbruchteile in der Luft. Treffer. Dann ein stechender Schmerz am linken Ohr. Keine Zeit für Schmerzen, weiterlaufen. Er fühlte nach dem Ohr, fand es aber nicht mehr. Weiterlaufen. Wieder Ploppen und Krachen, sie feuerten weiter. Irgendwas geht immer! Jetzt muss dir was einfallen, dachte er. Dann stolperte er. Ein Reifen, mitten im Gebüsch! Er nahm ihn und schleuderte ihn verzweifelt in die Büsche den Hang herunter. Krachende und rutschende Geräusche, die nach unten flossen.

Die Aktion hatte Erfolg. „Der Sack will wieder runter, los!“, schrie Askim und seine beiden Gorillas trabten los, dem Krach des fallenden Reifens nach, während der Joker weiter nach oben lief. Irgendwas geht immer! Mit einem Blick über die Schulter erkannte er, dass sich auch Hassan in Bewegung gesetzt hatte. Seine Chance. Jetzt bloß kühlen Kopf bewahren. Gebückt kroch er den steilen Hang hinauf bis zu einer etwas flacheren Stelle. Gleich bist du oben, dann hast du es geschafft, dann ….

… traf ihn ein Schlag auf die bereits schmerzende Nase. Er sah noch mehr Sterne fühlte nichts. Fiel.

„Du bist mir ja `ne Marke“, hörte er Askims Stimme. Er war nicht auf den Trick reingefallen und weiter nach oben gelaufen. Scheiße!

„Mann, die Leute haben Recht, mit dem, was die sagen“, begann Askim und seine Stimme klang beinahe freundlich. Er schaute mit gesenktem Kopf vor sich und kam langsam den Hang herunter. „Weißt du, was die sagen? Die sagen: Der Joker ist total plemplem. Das sagen die. Du bist so ein Psycho, einer mit Flatterblick und vor Angst immer ganz eng am Körper klebenden Eiern, so einer bist du. Deshalb wirst du auch nie das ganz große Ding schaffen. Du wirst immer nur so ein bekloppter kleiner Automatenknacker bleiben, der- ..“ Askims Augen weiteten sich. Ungläubig schaute er zu Joker herunter, der das Ende einer Eisenstange in der Hand hielt. Das andere hatte er ohne nachzudenken wütend nach vorne gerammt, es steckte in Askims Bauch.

„Boah, Alter, du bist ja komplett bescheuert…“, murmelte Askim mit ungläubigem Blick und schaute an sich herunter. Auch der Joker konnte nicht fassen, was er da getan hatte. Askims Waffe fiel auf den Boden. Dann raffte er sich auf, drückte den Rücken durch. Er schaute irritiert auf seine blutigen Hände, mit denen er gerade versucht hatte, die Blutsuppe wegzuwischen, die an seinem Bauch herunter auf die Hose lief. Die schöne neue Hose. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er richtete sich langsam auf.

„Bruder, hilf mir! Ich hab das Schwein!“

Er grinste den Joker wieder dumpf an. „Mann, bist du – eine – Pf-Pf – Oh Scheiße“, murmelte er und sackte nach vorne auf den Joker zu. Der fing ihn notgedrungen ab. Askims Hand krallte sich in seine Schulter.

„Du bist wenigstens konsequent“, brachte er gepresst hervor. „Erst den alten Ali umbringen und dann noch seinen einzigen Sohn, Mann.“

„Das war ein Unfall, das weißt du“, verteidigte sich Joker. Wie bescheuert, dachte er gleichzeitig. Ich ramme dem Typen eine Eisenstange in den Wanst und rechtfertige mich für den Tod seines Vaters. Von unten hörte er Füße die Treppe hocheilen.

„Jetzt machen meine Jungs dich …. f-fer-tig“, presste Askim mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor. „Hast du eine …A-Ahnung, wie ich das Sch-Scheißding wieder rauskriege?“

„Das wird schon“, murmelte Joker und schaute sich um. Irgendwie musste er den siffenden und blutenden Askim loswerden. Denn wenn die von da unten wieder hier oben ankamen, hatte er ein größeres Problem als bisher.

„Bruder, ich komme!“, war von unten zu hören. Dazu die hastigen Schritte auf der Metalltreppe. Hassan war nicht so schnell wie Bingo und Bongo nach unten gekommen. Dafür war er zu fett. Aber er war zu allem bereit und leider viel zu nah. Schon sprang er einige Meter unter ihnen über das Geländer und tauchte in das Gebüsch ein. Er hielt direkt auf Joker und den sterbenden Askim zu und zog die Pistole. „Wo ist die Sau?“

Joker presste sich Askim mit dem Rücken vor den Bauch, sodass er für Hassan in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Wenn schon schießen, dann nicht auf ihn. Seine pochenden Kopfschmerzen setzten wieder ein. Ihm wurde schwindelig.

„Alter, was ist los?“, fragte Hassan, als er vor ihnen auftauchte. Askim versuchte noch etwas zu sagen, aber aus seinem Mund kam nur noch Blubbern. Hassan sah ihn ungläubig mit weit aufgerissenen Augen an. „Warte, ich helfe dir.“

Seine Hand griff nach der Stange, als der Joker schoss. Der Schuss riss ihm die Waffe aus der Hand und Hassan um. Dann stieß er Askim von sich weg und starrte die beiden an, die nun reglos vor ihm lagen. Bingo und Bongo waren schon unten angekommen, als sie den Schuss hörten.

„Ey, wasn da los?“, rief einer und „Komm!“, der andere.

Dann wie aus dem Nichts eine dritte Stimme: „Stehenbleiben, Polizei! Waffen fallen lassen und Hände hoch!“ Bullen! Wo kamen die denn jetzt her? Der Joker kratzte sich irritiert am Kopf. Die ganze Sache war ihm zwar schon vorher völlig entglitten, aber das war jetzt die Krönung. Los jetzt, raff´ dich auf und verpiss´ dich!, dachte er. Irgendwas geht immer! Dann machte er einen Schritt nach vorne und ging in die Hocke.

Die würden noch eine Weile brauchen, bis sie hier oben angekommen waren. Mit wenigen Handgriffen hatte er Askim und Hassan um ihre Armbanduhren sowie drei Ringe erleichtert. Dann griff er in Askims Jacke. Tatsächlich fand er einen Umschlag. Gut gepolstert. Geld. Aber nur ein paar Scheine, der Rest war Zeitungspapier. Ein paar lausige Hunderter.

Die Schweine wollten mich bescheißen! Er musste grinsen und stopfte das Geld in seine Hosentasche. Von unten klangen die Geräusche einer gewaltsamen Festnahme nach oben. Das sind nicht nur zwei Streifenbullen, dachte er. Da ist eine ganze Truppe am Start. Da hat uns einer verpfiffen – zum Glück. Nichts wie weg! Er stolperte den Hang hinauf, bis er neben der Aussichtsplattform aus dem Gebüsch kam. Erschöpft hielt er inne und rang nach Luft. Noch einmal fühlte er an die Stelle, wo einmal sein Ohr gewesen war und die nun höllisch schmerzte. Das war richtig in die Hose gegangen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Er musste es jetzt durchziehen. Eigentlich wollte er seine Reise mit viel Bargeld in der Tasche beginnen. Das war nichts geworden. Trotzdem musste er los. Erst in Richtung Millich und verstecken, bis sich da unten die Hektik gelegt hat. Irgendwas geht immer!


*


Die Sonne tauchte den Himmel in ein unwirkliches rosafarbenes Licht. Er drückte sich in den Sitz und schaute auf die Landschaft, die an der Autobahn vorüberzog. Mit etwas Glück würde er sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Der Reisebus hatte vor vier Stunden mitten in der Nacht Düsseldorf verlassen. Bald würden sie die Grenze passieren.

Er hatte das Gelände der Halde noch rechtzeitig verlassen können, bevor die Bullen mit dem ganzen Aufgebot ausgeschwärmt waren. Seine Spur hatte sich in den Gärten des angrenzenden Millicher Baugebietes verloren. In Schaufenberg hatte er ein Auto geklaut und die Gegend über die weitverzweigten Wirtschaftswege verlassen, bevor er es zwischen Grevenbroich und Neuss in einem Baggerloch versenkt hatte.

Das Ohr mit seinem verkrusteten Notverband brannte höllisch. Nicht, dass mir der Lauscher abfault, dachte er und roch prüfend an den Fingern, mit denen er es eben noch unter Schmerzen betastet hatte. Sie stanken nicht mehr als sonst. Um ihn herum saßen Reisende, die wie er nicht genug Geld oder andere Gründe hatten, sich an keinem Flughafen blicken zu lassen. In zwanzig Stunden würde er in Belgrad sein, von dort aus würde es über Athen und Ankara weitergehen. Spätestens in zwei Wochen wäre er seiner Schätzung nach in Katmandu. Dort würde er weitersehen. Katmandu! Er hatte den Namen mal gehört, als er mitten in der Nacht vor dem Fernseher aufgewacht war. Die Bilder, die er da zwischen Halbschlaf und Vollsuff gesehen hatte, hatten ihm gefallen. Und so war der Name für ihn zu etwas geworden, das genug von einem Paradies hatte, um ihm eine Richtung zu geben. Und nun war er endlich auf dem Weg zu seinem Paradies. Die paar Hunderter von Askim und seinen Jungs hätten nicht gereicht. Deshalb hatte er noch in Neuss einen Kiosk klargemacht. Die Ausbeute war zwar auch nicht sehr groß gewesen, aber dafür hatte er ja auch keine Pistole in seiner Jackentasche gehabt, sondern nur einen Schraubenzieher. Der Joker musste grinsen. Irgendwas geht immer. Er war helle im Kopf und hatte anscheinend gerade eine richtige Glückssträhne. Klar, das mit dem halbabgeschossenen Ohr sah scheiße aus, also würde er sich die Haare länger wachsen lassen. Es würde schon weitergehen. Das Ding mit dem Babypuder und Atta konnte er auch anderswo durchziehen, am besten mit Touristen. Die sind nicht so gefährlich, weil sie selten bewaffnet sind. Er hatte sich mit dem Teufel angelegt und gewonnen. Das mit dem Ohr war nicht das Schlimmste. Ein Zurück gab es nicht mehr. Hückelhoven und seine Vergangenheit lagen für immer hinter ihm. Er war dem Teufel noch einmal von der Schippe gesprungen. Der Joker war wieder im Spiel.

Zwei Hurensöhne

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