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Sirenen in der Nacht

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Auf dem Rückweg schwankt meine Laune. Ich fühle mich getrieben von einer janusköpfigen Stimmung, die mich einerseits betroffen macht und mir droht, mich in das Drama zu verstricken und zu Fall zu bringen, die andererseits jedoch in mir eine skrupellose Freude feiert, da dies bis jetzt nicht eingetroffen ist. Es schnürt mir die Kehle zu und im selben Moment summt in mir ein Lied der Erlösung, so unbestimmt ist das Gefühl, das mir bittersüße Tränen in die Augen treibt. In einem Moment werde ich verdächtigt, den Bundeskanzler ermordet zu haben, und im anderen bin ich schon auf freiem Fuß und mache pietätlose Witze über den Verstorbenen. Ach, Gopal! Warum lachst du auch über meinen infantilen Quatsch?

Gedanken streunen durch meinen Kopf, herrenlos und ungezähmt, plötzlich kommt der Hammer der Müdigkeit und beinahe rutscht mir die Tüte mit den Einkäufen aus der Hand. Der Dunkelheit wird nun eines der letzten Lichter genommen, das in meinem Kopf ist, und ich bleibe benommen zurück und manövriere mich mit mangelnder Sichtweite zu meiner Wohnung. Ich sehe nicht, was um mich herum passiert, ich überquere funktionslose Ampeln, und ein Auto, das wie aus dem Nichts kommt, hupt mich an. Die Situation hat mir geraubt, was mich eigentlich auszeichnet: mein feines Gespür für die Gefahr und meine exzellente Beobachtungsgabe.

Es ist wahr. Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen, und das sage ich ganz uneitel, denn ich habe den sechsten Sinn. Das ist etwas, das niemand lehren und niemand lernen kann, denn es ist ein Geschenk der Natur. Doch meiner eigenen Natur geht es momentan miserabel und mein sechster Sinn muss gelitten haben, denn was hier passiert, entgeht mir schlicht und ergreifend. Ich fühle mich geschwächt, wehrlos und meiner Stärke beraubt, als sei ich nur ein halber Mann. Wo ist mein Haustürschlüssel? Ach, hier, in der Hosentasche. Ich halte vor der Tür kurz inne und bemühe meine älteren Erinnerungen. Konrad Adenauer hatte man, mit einer Paketbombe zu ermorden versucht. Ich weiß, dass da auch noch Rudi Dutschke und Wolfgang Schäuble waren, die bei Attentaten schwer verletzt worden sind. Ich glaube, Gregor Gysi wurde auch mal attackiert. Ach nein, das war Oskar Lafontaine, der war ja damals Kanzlerkandidat der SPD. Ich stelle die Einkäufe ab. Nicht zu vergessen, die Messerattacke auf Henriette Reker, die dann zur Oberbürgermeisterin von Köln gewählt wurde, und dann war da noch Lübcke … Walter Lübcke, wie könnte ich ihn vergessen? Außerdem sind mir vier ermordete US-Präsidenten bekannt. Abraham Lincoln, JFK und … Wer waren die anderen? Es waren vier, das weiß ich. Es ist keine Überraschung, dass Politiker, Menschen mit großem Einfluss auf andere Menschen, zur Zielscheibe werden, aber wie ist es möglich, dass man mich für den Mörder gehalten hat? Zur falschen Zeit am falschen Ort, anders kann ich es mir nicht erklären.

Es erklingt nun ein graziöser Gong aus dem Flur; die Standuhr meines Großvaters hat zur vollen Stunde geschlagen. Es ist erst zweiundzwanzig Uhr, aber das war es für heute, ich kann nicht mehr. Morgen früh werde ich weitersehen. Ich ziehe meine Bettdecke hoch bis zur Brust und strecke meine Beine aus. Das Bett ist anheimelnd und warm, wie ich es mir ersehnt habe, aber es wiegt mich trotz der Müdigkeit nicht in den Schlaf. Stattdessen nippe ich an der Wasserflasche und blättere durch die Zeitungen, beginnend mit den guten, seriösen, die ich seit Jahren bevorzugt lese. TRAUER UM UNSEREN BUNDESKANZLER … Zum Tode von Dr. Bertolt Engel … ABGEORDNETE GEDENKEN IHREM KOLLEGEN … Ex-Bundeskanzlerin ist bestürzt … DIE TODESURSACHE IST UNBEKANNT …

Artikel, die ich erwartet habe, vorsichtige Berichterstattung, keinerlei Spekulationen und kaum Informationen. Anders ist es bei der Boulevardpresse. Ich schlage die bunten, regelrecht schreienden Blätter auf. Ich lese gewagte Thesen auf Basis geheimer Informationen, die ein Insider berichtet hat; exklusiv, schreiben sie. KEIN TERRORANSCHLAG! BUNDESKANZLER ENGEL ERLAG EINER MYSTERIÖSEN KRANKHEIT!, heißt es hier und ich muss den Titel dreimal lesen, damit er mit vollem Aroma über meine Zunge rollen und ich ihn schmecken und prozessieren kann, bevor ich mir den Artikel vornehme. Welch ein Genuss für die geschundene Seele. Danach schlage ich die nächste Klatschzeitung auf und finde einen ähnlichen Artikel. Noch einer und dann noch einer. Ich glaube, sie nehmen alle aufeinander Bezug, aber die mysteriöse Krankheit ist der Tenor der Boulevardpresse und es scheint keine Hinweise auf ein politisches Attentat oder einen Terroranschlag zu geben.

Ich goutiere jedes Wort und meine Augen leuchten, befeuert von einem neuralen Wohlgefühl. Sollte das alles wahr sein, dann …

Mein Gott, wie kann man das schlimmste Attentat der deutschen Nachkriegsgeschichte mit einer unbekannten Krankheit verwechseln? Die polizeilichen Ermittler tappen offenbar vollkommen im Dunklen. Mit der Erleichterung, die mich nun überkommt, entspannen sich auch sogleich meine Muskeln und ich sacke tiefer in die Matratze ein. Wenn der Bundeskanzler wirklich einer Krankheit erlegen ist, bin ich aus dem Schneider. Es tut mir leid für ihn, aber ich halte diese Nachrichten für äußerst positiv. Ich schlage eine andere Zeitung auf.

DASS DR. BERTOLT ENGEL EINE ZWANZIG JAHRE JÜNGERE EHEFRAU HATTE, GEFIEL VIELEN NICHT. PRIVAT SAH ER SICH GERN IN DEN MEDIEN ALS DER GROSSE ZAMPANO, DER SICH HUMORVOLL UND CHARISMATISCH GAB, UND AUCH BEI POLITISCHEN ENTSCHEIDUNGEN SCHOSS ER GERNE AUS DER HÜFTE. ER WAR POLARISIEREND, ABER IN DER KURZEN ZEIT ALS BUNDESKANZLER VERSTECKTE ER SICH NIE, NAHM SICH DEN DINGEN AN, LIESS SICH NICHT DEN MUND VERBIETEN UND REFORMIERTE UNSER LAND AUCH GEGEN WIDERSTÄNDE. KEIN ZWEIFEL, IN DEN WICHTIGEN FRAGEN FUNKTIONIERTE SEIN MORALISCHER KOMPASS TADELLOS UND DARUM IST SEIN LEBENSWERK AUCH EINES VON GRÖSSE UND BEDEUTUNG. ER MACHTE UNSER WIRTSCHAFTLICH STARKES DEUTSCHLAND ENTGEGEN DER RECHTSPOPULISTISCHEN WELLE ZU EINEM NOCH BESSEREN GASTGEBER FÜR HILFESUCHENDE ALLER HERKUNFT UND ALLER RELIGIONEN. ZUM ORT DER WÜRDE, DER NÄCHSTENLIEBE UND DER HUMANITÄT. FÜR SEINE HERZENSGRÖSSE UND SEINE SOZIAL- UND INTEGRATIONSPROJEKTE BEKAM ER WELTWEIT ANERKENNUNG, WEIT MEHR ALS IM INLAND, WO ES ZULETZT VON KONSERVATIVEN MEDIEN, BESORGTEN BÜRGERN UND OPPOSITION VIEL KRITIK HAGELTE. SEIN VISIONÄRES PROJEKT WURDE STETS BEDROHT VON DEN ZU LOCKEREN SICHERHEITSMASSNAHMEN, HIESS ES. DIE BÜRGER WAREN BEREITS WEGEN DES TERRORISTISCHEN ATTENTATS SENSIBILISIERT, DAS 2016 ELF BESUCHER DES BERLINER WEIHNACHTSMARKTS AN DER GEDÄCHTNISKIRCHE DAS LEBEN GEKOSTET HATTE. EINE WEITERE KATASTROPHE DER INNEREN SICHERHEIT HÄTTE DAS ENDE SEINER POLITIK BEDEUTET. WIR KÖNNEN FROH SEIN, DASS ES NICHT SO WEIT KAM UND SEINE IDEEN IN JEDEM VON UNS WEITERLEBEN KÖNNEN. ER SELBST HATTE WENIGER GLÜCK UND STARB IM ALTER VON NUR NEUNUNDFÜNFZIG JAHREN EINES MUTMASSLICH UNNATÜRLICHEN TODES. ER WAR NICHT IMMER EIN ENGEL, ABER ER WIRD UNS ALS MENSCH MIT LEBENSFREUDE, ALS KÄMPFER FÜR FREIHEIT UND WIDERSTÄNDLER GEGEN DIE EXTREMEN VERFÜHRUNGEN IN ERINNERUNG BLEIBEN. ALS EINER VON UNS, DESSEN POLITIK NICHT ALLE GUT FANDEN, DIE ABER RICHTIG WAR. AUCH DAS BEDEUTET DEMOKRATIE UND DAS HATTE ER VERSTANDEN.

Das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, ich erinnere mich wieder. Der Attentäter hatte einen Sattelzug in die Menschenmenge hineingefahren. Das hatte mich damals sehr bedrückt, da ich denselben Markt am Tag zuvor besucht hatte, und die unschuldigen Menschen in der besinnlichen Zeit – freudig, ausgelassen, der Sicherheit vertrauend, gesehen hatte. Danach hatten wir das Gefühl, es könnte jeden überall treffen … beim Feiern, beim Einkaufen, beim Essen, beim Toilettengang. Die Angst brauste in uns auf und lähmte uns für ein paar Wochen, doch dann überkam uns wieder die Routine. Dieses wiederholende Verfahren, das auftritt in der Maske eines falschen Vertrauens. Dass die Dinge so bleiben, wie sie sind … unerschütterlich, solange die Augen der Staatsschützer und Ordnungshüter nur wachsam genug sind. Die Angst verschwand und der Alltag beschäftigte uns wieder. So war es damals. Wirklich? Ich glaube es zumindest, doch ich weiß es nicht mehr genau. Erst jetzt bemerke ich den Kein-Engel-Spruch in seinem Nachruf. Gopal würde er garantiert amüsieren.

Ich lege das gefaltete Papier auf den Nachttisch, damit ich es Gopal irgendwann zeigen kann. Vielleicht schneide ich die Seite auch aus, dann muss ich nicht die ganze Zeitung tragen. Oder ist das Quatsch? Er ist schließlich nur ein Zeitungsverkäufer, ich kenne ihn nicht wirklich. Ich wende mich dem nächsten Blatt zu. Seite um Seite und die Zeit verfliegt. Meine Augen beginnen zu brennen und ich halte eine der Zeitungen über meinen Kopf, um das aggressive Licht der Deckenlampe abzuwenden, so dicht, dass die Nachrichten aus aller Welt auf mich eintrommeln, bis sie mich irgendwann überwinden und in meinen Körper wandern. EIN ERNEUTES RETTUNGSPAKET WIRD ALS DREISTE BANKENRETTUNG KRITISIERT.

Der drastische Ölpreisverfall und die Sanktionen des Westens drängen das Land in die Ecke, warnt Professor für Politikwissenschaften Gerd Schwarz.

SIE TESTEN EINE INTERKONTINENTALRAKETE MIT ATOMSPRENGKOPF. DAS GEHT ÜBER DIE PROVOKATION HINAUS, SAGT DER NACHBARSTAAT, UND MOBILISIERT WEITERE TRUPPEN IN DER GRENZREGION.

Die NATO stationiert Einheiten im Baltikum.

DIE NEUE ULTRANATIONALISTISCHE REGIERUNG BRICHT VERHANDLUNGEN NACH AUSWEISUNG DER DIPLOMATEN AB. Es wird zu Zurückhaltung gemahnt und im nächsten Moment mit einem Erstschlag gedroht.

DAS MILITÄRISCHE WETTRÜSTEN, ANGESTOSSEN VOM KAMPF GEGEN DEN TERROR, BELASTET DIE INTERNATIONALEN BÜNDNISSE …

Die Buchstaben werfen Schatten, auf denen meine Augen ruhen, weil sie das allein vom Papier gefilterte Licht nicht ertragen können. Ich erinnere mich nicht genau, aber irgendwann habe ich die Zeitung auf mein Gesicht gelegt und nun ist sie zu einer zweiten Haut geworden. Mein Puls wird immer langsamer und mir fallen die Augen zu. Ich träume. Ich träume schlecht und bleibe gefangen in einer Phase zwischen Wachen und Schlafen, kann meine Augen nicht öffnen, kann mich nicht bewegen und Albträume jagen mir durch den Kopf, in denen ich verfolgt von uniformierten Männern durch die Nacht fliehe. Aber all das mit einer Bewusstheit, die mich anstrengt. Ich schwitze, wälze mich kraftlos im Bett hin und her und höre aus der Nachbarwohnung alte französische Chansons, die durch die Wand summen. Früher oder später muss ich in die Tiefschlafphase gekommen sein, denn als mich von draußen Lärm weckt, fühle ich mich wie aus einer anderen Welt gerissen.

Ich sitze aufrecht in meinem Bett und lege eine Hand auf meine Brust, um den Druck zu lindern. Sirenen! Panisch springe ich auf, lösche das Licht und laufe zum Fenster hinüber, das rhythmisch im blauen Warnlicht aufscheint. Es ist die Polizei. Drei Wagen kommen angeschossen und halten direkt vor meiner Haustür. Es war klar, dass sie mich nicht freiwillig gehen gelassen haben, und in meiner Wohnung suchen sie natürlich als Erstes nach mir. Du bist so ein Idiot, Simon! Die Türen öffnen sich und die Beamten laufen in das Haus. Ich sehe es vor meinem geistigen Auge wie ein Film, aber die Türen bleiben geschlossen und stattdessen kommt der Polizei ein großer Müllwagen entgegen. Er schlängelt sich in eine Lücke und sie rasen lautstark daran vorbei. Das Blaulicht enteilt nun meinem Fenster und die Sirenen werden mit der Zeit immer leiser und leiser, bis es bald wieder ganz still ist. Ich stehe noch einige Minuten vor dem Glas, in Sorge, dass sie sich lediglich in der Adresse geirrt haben und wieder zurückkehren.

Noch vom Bett aus schaue ich bekümmert zum Fenster, doch ich bin so müde, dass mir wie bei einer Überreizung alle Sinnesorgane schmerzen. Ich schließe meine wunden Augen. Kaum drifte ich meinen Albträumen entgegen, höre ich die Sirenen wieder. Ich eile zum Fenster und sehe weitere Polizeiwagen, die an meiner Wohnung vorbeirauschen. Sie folgen den anderen, vermute ich. »Irgendetwas muss passiert sein.« Noch zwei- oder dreimal wiederholt sich das Spiel, ich erinnere mich nicht genau, denn ich bin zu erschöpft. Doch gegen Mitternacht stelle ich fest, dass ich nicht mehr einschlafen kann.

Erschöpfung, Müdigkeit und Schmerz sind Eindringlinge, die versuchen, meinen Körper in einer blutigen Schlacht einzunehmen, aber etwas in mir muss die Zugbrücken hochgezogen und sich im Inneren verschanzt haben … etwas, das mich triezt und mich auf meine Beine zurückzwingt. Schwerfüßig hebe ich mich durch den Flur zur Küche, um meinen pausenlosen Durst zu stillen, und am Arbeitszimmer zieht ein kalter Wind unter der Tür hindurch. Beiläufig registriere ich ihn, aber erst mit der Orangensaftflasche am Mund wird er mir richtig bewusst. Ich gehe zurück, öffne die Tür und klirrende Kälte schlägt mir entgegen, als hätte das Zimmer kein Dach. Die Leuchtstoffröhre an der Decke geht an und wirft eine verschattete Helligkeit auf das Chaos vor mir. Es dauert eine Weile, bis die grelle Strahlung sich mit einem satten Licht füllt und ich Details im Zimmer erkennen kann. Einen zugemüllten Schreibtisch, zerknittertes Druckerpapier und ausgetrocknete Fasermaler, denen die Kappen fehlen. Alte Technik auf den Schränken, zerschundene Magazine auf dem Boden und Dutzende Blu-ray- und DVD-Filme wohin mein Auge nur reicht. Einzig die Bücherregale zeigen ein Ordnungsmuster, dem lediglich einige Bücher entflohen sind. Dan Browns Illuminati und Diabolus sowie John Colemans Das Komitee der 300 liegen aufgeschlagen auf dem Tisch, und vor meinen Füßen sehe ich ein Buch über die Rothschilds. Wo ist Browns Sakrileg? Ich mache ein paar Schritte in die Tiefe des Raumes hinein, beuge mich hinab und hebe die ausgesprochen schönen Exemplare von Orwells 1984 und Huxleys Schöne neue Welt auf. Dann gehe ich zum Regal und stelle sie zu den anderen Klassikern, zwischen Die sieben Säulen der Weisheit von T. E. Lawrence und Leo Tolstois Krieg und Frieden. Letzteres hatte ich als Mängelexemplar auf einem Bücherbasar der Uni erstanden. Fünfzig Seiten fehlen in der Mitte, das habe ich leider zu spät bemerkt, da war ich schon auf Seite dreihundert.

»Ach, da!« Sakrileg liegt unter einer alten Tageszeitung. Ich falte sie zusammen, nehme den Roman zur Hand und blättere darin herum. Er ist voll mit neongrünen Anstreichungen. Ich habe ein Faible für kühne Behauptungen wie die von Dan Brown, der meint, dass auf Da Vincis berühmtem Wandgemälde nicht Apostel Johannes die langhaarige, bartlose, feminine Person zu Jesus’ Rechten ist, sondern seine Ehefrau Maria Magdalena. Ein wirklich subversives Gedankenspiel – ich wünschte, es wäre mir eingefallen. Beim Zurücklegen des Buches fällt mir eine Notiz neben dem Kreuzworträtsel der Zeitung auf. Johannes und Maria Magdalena sind ein und dieselbe Person! Wurden in der Bibel nie gemeinsam erwähnt(?) Das sieht wie meine Handschrift aus. Ein gedankliches Fragezeichen markiert die Stelle.

Ich gehe weiter zu meiner Reiseschreibmaschine – eine schwarze Remington Portable von 1928, noch voll funktionsfähig – wo ich gerne Ideen spinne, ziehe das beschriebene Blatt heraus und lese: Madison setzte sich breitbeinig auf seinen Schreibtisch und lehnte sich zurück. Nun war es klar, sie wollte gar nicht wissen, wo ihr Ehemann war, dachte Jackson und steckte sich eine Zigarete an … Da fehlt ein t in Zigarette. Nach der Arbeit, oft nachts, versuche ich mich gern an Kriminalromanen und habe bereits erfolgreich einen Onlineschreibkurs abgeschlossen. Das Zertifikat habe ich ausgedruckt. Es muss hier irgendwo rumfliegen. Wie dem auch sei, die goldenen Regeln habe ich alle verinnerlicht, aber ich feile immer noch am Charakter meines Privatdetektivs.

Der Wind zieht mir in den Nacken und ich drehe mich zum Fenster um. Eines der beiden Elemente steht sperrangelweit offen und lässt die Kälte ungehindert parieren. War das nicht vorhin geschlossen? Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Vorsichtig gehe ich hinüber und werfe einen diskreten Blick auf das Vordach, das direkt unter meinem Fenster liegt, und dann auf den halbbeleuchteten Hinterhof. Doch niemand ist zu sehen und als das Licht, das vermutlich von einer Kellerbeleuchtung stammt, plötzlich erlischt, schließe ich schnell das Fenster und dränge den aggressiven Windstrom aus dem Raum. Zurück bleibt eine kühle Stille. Ich ziehe die Gardinen zu, grün-linierte Staubfänger, die bei mir stets eine Allergie auslösen. Doch beim Schließen erheischt mein Blick etwas und ich ziehe sie schnell wieder auf. Es ist ein gelber Klebezettel auf der Glasscheibe, ähnlich wie jener in meinem Auto. Ich nehme ihn vom Fenster, um ihn mir genauer anzuschauen. Die sehen für mich alle gleich aus – mehr oder weniger die gleiche Farbe, gleiches quadratisches Format, alle haben eine Klebefläche auf der Rückseite – aber das Jeansblau der Tinte, die krakelige Handschrift und die stark nachgezeichneten Lettern deuten auf dieselbe Herkunft hin. Auf diesem steht Bereitschaft zur Unterordnung. Ich überlege, was auf dem anderen stand. Und dann diese Klaue. Ist das wirklich meine Handschrift? Auf den ersten Blick ja, doch so unsauber und ungleichmäßig könnte sie auch von jeder anderen Männerhand stammen. Von Kinderhänden sogar. Mein Blick wandert nun ein weiteres Mal auf den Hinterhof und ich fixiere einen schwarzen Punkt in der Finsternis. Ich verstehe das nicht. Ist das irgendeine Botschaft?

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