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Tatort Hotel

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Bald ist es ein Uhr in der Nacht, der Minutenzeiger dreht die ersten Runden an Tag zwei n. BK – nach Bundeskanzler – und ich sitze wieder in meinem Auto. Dieses Mal auf dem Weg nach Berlin Mitte, aufgeschreckt aus dem grässlichen Schlaf und ich versuche mir die Klebezettel aus dem Kopf zu schlagen. Sie ergeben keinen Sinn und ich bezweifele mittlerweile, dass das meine Handschrift ist. Ich habe Sorge, dass ihr Urheber über das Fenster in meine Wohnung kam, und bin zugleich genervt. Genervt von mir selbst, um genauer zu sein. Eine schwere Amnesie hat mir meine jüngsten Erinnerungen ausradiert und ich reibe mich an ein paar dümmlichen Klebezetteln auf. Das ist mal wieder typisch, ich kann diesen Pedanten in mir einfach nicht auskurieren und verabscheue mich dafür. Konzentriere dich auf die wichtigen Dinge, Simon! Ist doch alles gut ausgegangen. Du bist wieder auf freiem Fuß und die Polizei sucht nicht nach dir. Verstehst du das? Die wollen dich nicht!

Darum fahre ich zum Hotel, dem angeblichen Ort des angeblichen Anschlags, und werde der Sache selbst nachgehen. Denn niemand macht mich zum Täter und niemand zum Opfer, ich nehme die Zügel selbst in die Hand, wie meine Kindheitshelden aus den Comicbüchern und Groschenromanen, die ich immer so gern gelesen habe. Für mich waren Privatdetektive stets die wahren Helden, weil sie immer genau wussten, wann sie das Gesetz übertreten mussten, um das Richtige zu tun. Sie waren schroffe, labile Charaktere mit Ecken und Kanten, aber mit dem Herzen am rechten Fleck. Ich liebte sie dafür und auch für ihr fragwürdiges Leben, das sich stets im rechten Moment wendete. Sie waren authentisch, nicht wie diese falschen Gesichter und diese synthetischen Fratzen, die man mittlerweile tagaus, tagein im Fernsehen, in der Politik und auf der Arbeit sieht. Das erträgt ja niemand. Gibt es denn keine Helden mehr?

Diese Gedanken machen mich hellwach, mein sechster Sinn und mein Näschen für Gefahr kehren zurück, und ich fange alles mit meinem akribischen Blick auf; kiecke jenau, wie der Berliner sagen würde. Verlassene Autos am Straßenrand, einsame Gehwege und finstere Wohnblöcke, die sich wie lichtscheu in der Kulisse verstecken. Nur wenige Fenster erlauben einen Einblick in die Wohnungen. Die Letzten, die zur Ruhestunde noch nicht ihre Ruhe gefunden haben. Supermärkte, Banken und Lädchen wirken verlassen, die Müllerstraße ist geisterhaft leer gefegt und die alte Nazareth-Kirche steht wie ein kubischer Schatten auf dem Leopoldplatz. Erst auf der Chausseestraße kommen mir ein paar Autos entgegen. Sie sind schnell und drängen sich fast von der Straße, bemerke ich später. Ihnen folgt mein Blick über den Rückspiegel, dann sehe ich ein Polizeiauto über den Asphalt rasen, mit Blaulicht und Sirene. Das geschieht hinter mir und weit vor mir entfernt erkenne ich einen Brand. Er bläst glühende Teilchen in die Luft und imitiert mit seinem Lichtwurf die längst vergangene Dämmerung. Oberkörperfreie Männer stehlen ihm brennendes Holz, entzünden daran Molotowcocktails und werfen beides mit Wut auf einen schwarzuniformierten Polizeiblock.

Ich verlangsame mein Auto, weil ich die Lage nicht einschätzen kann, und plötzlich landet lautlos irgendetwas auf meiner Frontscheibe. Mit dem gedimmten Licht der Innenraumbeleuchtung erkenne ich, dass es ein Flyer ist. Wehr dich, Bürger! Auf die Straße mit dir!, steht darauf und das ist alles, was ich lesen kann, denn dann fliegt er wieder von dannen, um den nächsten Unwissenden des Weges zu begleiten. Warum sollen wir uns wehren? Was zur Hölle ist da los? Als ich näherkomme, sehe ich, dass es nicht nur ein paar gewaltfrönende Rowdys sind, die die Ordnungshüter in Schach halten, sondern ein Mob von Menschen jeglicher Couleur, massenhaft und ungehalten. Ein regelrechter Bürgeraufstand, mitten in der Nacht, der die ganze Seitenstraße füllt und auf die Chausseestraße hinausführt. Es ist auch nicht nur ein Polizeiblock, der das Feuer und die Steine abwehrt, sondern erprobte Hundertschaften von Gesetzeshütern. Beide Parteien haben sich voreinander aufgestellt, provozierend die eine, passiv die andere, und es ist klar, dass die Zusammenmischung wie chemisch zu reagieren droht. Es sind nur Sekunden, schon beflügeln Kampfschreie die aufgebrachte Menge und sie stürmen auf die Polizisten los, die sich wie in der Phalanx-Taktik der römischen Legion formiert haben. Es kracht schrecklich, als sie zusammenstoßen. All die bewaffneten Hände erheben sich in die Höhe, um mit voller Kraft nach unten geschlagen zu werden. Auf und ab, auf und ab.

»Was zur Hölle ist hier los?« Das ist Krieg, denke ich, und fahre langsam an dem Aufstand vorbei. Plötzlich fallen Schüsse und ich muss beschleunigen, weil diese die Menschenmenge panisch auf meine Straßenseite treiben. Eine Frau drückt sich in letzter Sekunde von meiner Motorhaube weg und geht — nur ein paar Meter weiter — von irgendetwas getroffen zu Boden. Zwei Männer eilen ihr zu Hilfe und ein halbes Dutzend Polizisten drischt sie nieder. Es ist ein Molotowcocktail, der im hohen Bogen angeflogen kommt, mit einem Feuerschlag an einem Polizeihelm zerspringt und alles in Brand setzt. Ich beobachte das durch die Heckscheibe, mit Vollgas fliehend vor dem Chaos, und sehe, wie der Kampf auf die anliegenden Straßen übergreift und eine Flamme spiritusbefeuert an einer Hauswand hinaufklettert. Ist eine Demonstration aus dem Ruder gelaufen oder was passiert hier gerade? Das ist ja der blanke Wahnsinn!

Auch Minuten später sitzt mir der Schock noch immer in den Knochen und es gesellt sich Bruder Nervosität dazu, als ich hinter dem Hotel eintreffe. Die anfängliche Motivation ist jetzt einem Druck auf der Brust gewichen, der die Sauerstoffversorgung meines Körpers abschneiden will. Angeschlagen von den Symptomen einer eventuellen Unterbeatmung — ich bin mir nicht sicher, aber das ist zumindest das, was ich fühle — stelle ich das Auto vor dem Lieferanteneingang ab, hebe mich bleiern aus dem Auto und taumele zur Tür. Statt anzuklopfen, übergebe ich mich in eine der nahe stehenden Mülltonnen, und der Gestank von faulen Essensresten lässt mich kaum stoppen. Ich wische mir den Mund ab, versuche es noch einmal und hämmere mit den Fingerknöcheln an das Metall. Urban, der alte Glatzkopf, eigentlich ein lustiger Geselle mit stets zu groß geratenen Anzügen, macht mir persönlich auf. Sein grau-gestreifter Anzug ist mal wieder zu groß und anstelle einer Krawatte stellt er hinter dem aufgeknöpften Hemd seine Brustbehaarung zur Schau. Wie ein mafiöser Nachtklubbesitzer steht er breitbeinig vor mir und schaut mich bitter an.

»Hey, Kumpel! Bist du allein?«, flüstere ich, und es klingt konspirativ, doch das bemerke ich erst zu spät.

»Du hast vielleicht Nerven, hier aufzutauchen!«, sagt er patzig und seine tiefe Stimme rollt dabei wie ein massiver Stein vom Berghang. »Ich hab mich für dich eingesetzt, damit du hier arbeiten kannst! Und das ist dein Dank?«

»Können wir reden?«

»Nachdem, was du getan hast?«

»Nichts habe ich getan«, versichere ich ihm. »Man hat mich wieder gehenlassen, wie du siehst. Ich bin unschuldig.«

Es ist nicht böse gemeint, aber er ist nicht gerade die hellste Kerze im Leuchter, wie wir im Team zu sagen pflegen. Wenn er nachdenkt, braucht es seine Zeit. »Ich bin unschuldig«, wiederhole ich, da rattert es noch immer in seinem Kopf.

»Ja, Mann, ich hab`s ja verstanden«, grummelt er, sieht sich kurz um und hält mir dann die Tür auf. Ich schlängle mich durch den schmalen Spalt an seiner aufgepumpten, ältlich hängenden Brust vorbei. »Du siehst beschissen aus.«

»Du bist auch keine Schönheit, Urban.«

Er schaut mir angewidert auf die rechte Wange, dann auf den Hals.

»Ist es wirklich so schlimm?«

»Sieh doch selbst.«

»Kann ich kurz dein Bad benutzen?«

Mit einer Handbewegung schickt er mich den Flur entlang und ich gehe in das Mitarbeiterbad, das am Ende liegt. Unsicher stehe ich vor dem riesigen, quecksilbrigen Wandspiegel und traue mich gar nicht, hineinzusehen. Möglicherweise ist es ja halb so wild, denn Gopal hat kein Wort gesagt und Urban neigt bekanntlich gern zur Übertreibung. Ich wage einen vorsichtigen Blick. Aus diesem Winkel sehe ich nichts, aber als ich einen Schritt nähertrete, erschrecke ich mich. Ich kann mich selbst nicht wiedererkennen. Mein Gesicht ist auf der rechten Seite komplett geschwollen, blutverschmiert und die Haut ist bis zum Hals hinab rot gereizt. Mit meinem Finger fahre ich vorsichtig darüber. Sie fühlt sich rau an, wie die eines Reptils, und die offenen Stellen sind schleimig. Bei der Berührung spüre ich ein schmerzhaftes Brennen und ich erinnere mich wieder, dass mein Gesicht schon beim Verhör unablässig gebrannt hat. Ich tupfe das Blut vorsichtig mit nassem Toilettenpapier ab, aber viel kann ich nicht tun. Es sieht schlimmer aus, als es ist, denke ich, und die Medizinerin Zeit wird das schon heilen, so wie sie es mit all meinen anderen Wunden getan hat. Wie sagte Friedrich Wilhelm N. schon: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker! Ich gehe zurück zu Urban.

»Was ist das?«, frage ich ihn und zeige mit dem Finger auf mein Gesicht. Urban zuckt mit den Achseln und weist auf einen der zweckmäßigen Holzstühle vor seinem Schreibtisch, die mich immer an meine Schulzeit zurückerinnern – jeden Tag klebte ich ein benutztes Kaugummi unter die Sitzfläche, bis der werte Hausmeister sie entdeckte und alle mit einem Spachtel abkratzte. Der Verlust meiner Erinnerungen scheint mich in meine Vergangenheit zu schicken. Sie bildet einen Kontrast zur Gegenwart, der eine ungewohnte Einfachheit und Unbeschwertheit demonstriert, ein Gefühl, das ich nicht mehr habe. Ich sehe wieder den Stuhl aus meiner Schulzeit vor mir und es macht mich traurig. Wann ist mir das abhandengekommen, dieses Gefühl der Unbeschwertheit? Auch damals gab es schon Phasen von Druck und er wuchs mit jedem Jahr. Es ist, als war in mir das Ende einer Spirale verschraubt, die mich hinunterzog und irgendwann unweigerlich bis auf den Boden zwingen würde.

»Alles okay mit dir?«

Urban nutzt diesen Raum als eine Art Büro, wenn er nicht gerade im Videoraum die Überwachungskameras kontrolliert. Anders als der Publikumsbereich des edlen 5-Sterne-Hotels, gleicht dieser eher einer Abstellkammer. Dunkelblaue Aktenschränke aus Blech, alte Pappkartons, aussortierte oder auf Reparatur wartende Hotelmöbel bis unter die Decke gestapelt, ein verdreckter Schreibtisch und ein alter Pirelli-Kalender mit entblößten Frauenbrüsten an der kalkweißen Wand. Das Wertigste hier ist die komfortable Polstercouch in der Ecke, auf der ich schon einmal geschlafen habe. Es war furchtbar, aber daran trug die Couch keine Schuld, sondern eher Urbans Füße, denn wenn er sich ungestört glaubt, zieht er unter dem Schreibtisch immer seine Schuhe aus – und dieser Schweißfußgestank hat diesen Raum nie verlassen. Nach stundenlanger Inhalation in der Nacht ging das gasförmige Gift aggressiv meine Schleimhäute an. An Ruhe war nicht mehr zu denken – ich hatte Albträume!

»Alles okay mit dir, Simon? Was willst du überhaupt hier?«

Ich räuspere mich, denn von dem Gestank bekomme ich sofort wieder einen Frosch im Hals. »Ja, ähm, ich habe vorhin in den Zeitungen gelesen, dass unser Bundeskanzler an einer mysteriösen Krankheit gestorben ist. Weißt du etwas darüber?«

Er lächelt mich schmierig an und scheint emotional vollkommen teilnahmslos, aber das wundert mich nicht, der Typ hat immerhin dreißig Jahre tagaus, tagein verrückte Hotelszenen am Monitor beobachtet. Den überrascht wahrscheinlich nichts mehr.

»Hast du mich jemals Zeitung lesen sehen? Das ist doch totaler Quatsch und du weißt es am besten.«

»Nein, nein, ich kann mich an überhaupt nichts erinnern«, beschwöre ich ihn.

»Ach komm schon!«

»Totaler Blackout, kannst du mir glauben. Die Bullen haben so getan, als hätte ich Bertolt Engel persönlich umgebracht. Ich meine anfangs, aber dann haben sie mich gehenlassen.«

»Du erinnerst dich echt an gar nichts mehr?«

»An gar nichts, wirklich.«

Er erhebt sich vom Stuhl und läuft an mir vorbei.

»Was ist los?«

»Komm mal mit.«

Ich folge ihm durch die Gänge, die vom Dämmerlicht der müden Leuchtstoffröhren so dunkel sind, dass ich ihre weiße Wandfarbe und die zerschlissenen Böden aus meiner lädierten Erinnerung abrufen muss. Keine Menschenseele ist zugegen und niemand zu hören, nur pfeifende Geräusche, die, glaube ich, von der Heizung im Keller stammen. Meine Augen schwelen und lodern in innerer Hitze, lassen mich vage sehen, und als die Lampen zu flimmern beginnen, verschwindet Urbans Silhouette für einen Bruchteil einer Sekunde. Er geht schnell für sein Alter und es ist mühsam, ihm zu folgen, aber er wartet an der Tür auf mich, der liebenswürdige Glatzkopf. Ich nicke ihm zu, er nickt zurück, dann klirrt es über uns und es wird stockfinster. Einige Lampen schalten sich sofort wieder ein, doch die über uns bleibt ohne Funktion.

»Verdammt!«, ruft Urban wütend. »Jetzt muss Gerd die Glühbirnen schon wieder wechseln!«

»Ist das heute schon mal passiert?«

»Ja, ein paarmal schon. Gerd sagt, da stecken Hacker hinter, Jungs an Computern, die seit der Geschichte mit dem Bundeskanzler die ganze Stadt verrückt machen.«

Wir nehmen eine Treppe in den Keller und folgen dann einem langen, deprimierenden Gang, der in der Mitte einen 90-Grad-Knick nach rechts macht. Ich war hier oft, das weiß ich, es ist eine Abkürzung für Mitarbeiter, die das ganze Hotel unterführt. In der Mitte, genau im Knick, bleibt er stehen und sagt: »Hier.«

»Was ist hier?«

»Hier ist er gestorben.«

Bei diesem Gedanken fühle ich mich plötzlich unwohl. Gibt es nützliche Hinweise hier? Ich sehe mich um, suche nach Dingen, die den Ermittlern entgangen sein könnten. Urban beobachtet mich dabei achtsam. Vielleicht glaubt er, es bestehe die Gefahr, dass ich die Spuren verwischen könnte. Ich suche am Boden, ich gehe auf Zehenspitzen und schaue mir jede Ecke und jede Kante ganz genau an, aber alles ist sauber und nichts scheint auf einen Mord hinzudeuten. Der rutschhemmende Bodenanstrich glänzt, als wäre er frisch aufgetragen und die Wände haben keine Schramme.

»Hier ist nichts«, stelle ich fest, »sieht aus wie neu.«

»Der Tatortreiniger war schon hier. Handwerker haben alles renoviert, das ging ganz schnell.«

Ich fasse mir ungläubig an die Stirn. »Warum hast du mich denn dann überhaupt hergebracht?«

»Ich dachte, du würdest dich dann wieder erinnern. Das macht man doch mit Leuten, die unter Gedächtnisverlust leiden. Funktioniert es?«

Zugegeben, das war eine gute Idee, aber ich erinnere mich an nichts, an nichts Aktuelles zumindest. An nichts, was mit dem Tod des Bundeskanzlers zu tun hat. Ich habe meine Zweifel, ihn überhaupt getroffen zu haben. Ich würde mich doch schließlich an so etwas erinnern, oder etwa nicht?

»Leider nein. Wie ist er eigentlich gestorben?« Urban sieht mich mit einem leeren Ausdruck an. »Was denn? Wie ist er gestorben?«, frage ich noch einmal.

»Ich dachte, ich weiß es, aber jetzt wo du wieder auf freiem Fuß bist, bin ich mir nicht mehr sicher.« Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf, wo ein paar seiner spärlichen Haare nach oben zeigen.

»Sieht man denn nichts auf den Überwachungskameras?«

»Doch, schon, in gewisser Weise zumindest. Ich kann es dir zeigen.«

Ich gehe drei Meter weiter, mühe mich auf die Knie und schaue mir die Wand knapp über der Bodenkante an. Dort ist ein blauer Fleck, ein länglicher Spritzer – ich reibe meinen Daumen darüber – er ist trocken, fast pulvrig. Ich erinnere mich nun wieder an die blaue Flüssigkeit, die ich auf dem Flur nach der Vernehmung gesehen habe, informiere Urban aber nicht darüber.

»Wovon könnte der blaue Fleck stammen?«, frage ich ihn stattdessen.

Er beugt sich herunter, fährt mit dem Zeigefinger darüber und riecht daran. Ich traue meinen Augen kaum, als er seinen Finger in den Mund steckt, um die unbekannte Flüssigkeit zu testen.

»Igitt!«, ruft er aus und verzieht vor Ekel sein Gesicht. »Ich muss dich enttäuschen, das ist kein Blue Curaçao. Es schmeckt sehr bitter.«

»Das ist nicht witzig. Überhaupt nicht. Das Zeug könnte lebensgefährlich sein.«

»Jetzt mach mal kein Drama draus, so ein bisschen bringt schon niemanden um. Das haben wir immer so gemacht.«

»In den Hotelzimmern habt ihr das immer so getan, wirklich? Das ist widerlich, weißt du das?«

»So habe ich das nicht gemeint. Es gibt nun mal Dinge, die man nicht mit dem bloßen Auge erkennen kann. Wie das hier«, er zeigt auf den blauen Fleck an der Wand.

»Na gut, und was ist blau, bitter und nicht zum Verzehr geeignet?«

»Keine Ahnung. Vielleicht eine Chemikalie von der Spurensicherung.«

»Sehr hilfreich, vielen Dank, Urban. Zeig mir lieber mal die Aufnahmen der Überwachungskameras, bevor noch andere Flecken dein amouröses Verlangen wecken.«

»Quatsch nicht immer so geschwollen und versuch mich mal lieber zu verstehen«, grummelt er beleidigt und zieht los.

Ich lache. »Was meinst du damit?«

Der Videoraum ist im Erdgeschoss und er trägt zurecht seinen Namen, denn in dem schmalen Areal ist eine der Wände komplett mit Monitoren gespickt und es hat ansonsten nur noch ein Pult, zwei Stühle und den typischen, beißenden Geruch von Technik, von den geätzten Platinen und den Leitern aus Metall. Wir nehmen unsere Plätze ein und Urban spult das Video bis an die Stelle, an der wir sehen können, wie der Bundeskanzler mit zwei Personenschützern in jenen Flur kommt, den wir gerade inspiziert haben. Das Bild ist krisselig und unscharf, aber bei genauerem Hinsehen kann ich ihn erkennen. Er paradiert wie ein stolzer Gockel knapp vor den Personenschützern durch den Gang in einem schwarzen Anzug und einem weißen Hemd. Andere Farben zeigt der Monitor nicht.

»Warum benutzt ihr eigentlich immer noch Schwarz-Weiß-Kameras?«, frage ich.

»Die sind in Farbe, das kann man nur nicht gut sehen. Das sind quasi impotente Farbkameras!« Er lacht schmutzig und haut mir auf die Schulter. »Impotente Farbkameras, verstehste?«

Ich grinse, weil ich weiß, wie sehr er Witze mit sexuellen Referenzen mag. Er ist ein humoriger Typ, der gern lacht, nur nicht auf eigene Kosten.

»Pass auf«, er zeigt mit dem Finger auf den Monitor, »hier kommt der Herr Kanzler den Flur entlang. In der Mitte ist die Biegung, da geht er gleich rum.« Sein Finger geht zu einem Monitor daneben. »Da bist du. Du kommst ihm entgegen, von der anderen Seite.«

Er hält das Video an und ich schiebe meinen Kopf dicht vor das Bild. Da ist Dr. Engel. Mein Blick wandert auf den anderen Monitor. Da bin ich. Wir haben uns also doch getroffen, es stimmt wirklich. Ich habe keine Erinnerung daran. Ich wische meine schweißnassen Hände an der Hose ab und atme tief aus.

»Alles okay?«, fragt Urban.

»Geht so.« Mich lähmt die Furcht, gleich etwas Schreckliches mitansehen zu müssen … etwas, das meine Erinnerungen weckt und in dem ich mich nicht wiedererkennen kann. »Wir können uns noch nicht sehen, der Bundeskanzler und ich, oder?«

»An dieser Stelle noch nicht, aber gleich.«

»Was halte ich da in meiner rechten Hand?«

»Das ist ein Kaffeebecher«, erwidert er und zieht einen großen Thermobecher aus dem Schrank unter dem Pult hervor. »So einen haben wir doch alle bekommen. Ist ein Weihnachtsgeschenk von UBERVISE gewesen, hat uns Jan Kaufmann letzte Woche mitgebracht. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Nein. Wo ist meiner denn?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ein Weihnachtsgeschenk? Ist es normal, so was schon Ende November zu verteilen?«

»Keine Ahnung. Was sind das denn für Fragen? Guck dir das Video an, vielleicht hilft es dir ja auf die Sprünge.«

Urban spielt es weiter ab und wir sehen, wie der Bundeskanzler mit seinen Personenschützern um die Ecke geht und ich ihnen von der anderen Seite entgegenkomme. In diesem Moment müssten wir uns eigentlich begegnen, aber dann zittern die Bilder auf mehreren Monitoren und plötzlich sind sie für Sekunden schwarz. Ich gucke ihn fragend an. Das Bild kommt wie nach einer kurzen Störung zurückgezittert, allerdings ist es da schon geschehen. Der Bundeskanzler und die zwei Männer liegen reglos auf dem Boden. Wo bin ich? Ich bin verschwunden! Mein Herz springt mir förmlich hoch in den Hals. »Wo bin ich?«, rufe ich nervös. Urban deutet mit seinem Finger auf einen anderen Monitor darüber und der zeigt, wie ich in einen Nebenraum torkele. Es sieht so aus, als würde ich mich schmerzverzerrt nach vorne beugen und mein Gesicht halten. Irgendetwas hat mich offenbar getroffen. Im nächsten Moment überwältigen mich auch schon zwei Männer.

»Da fehlt doch was, Urban. Das ist auf jeden Fall nachbearbeitet.«

»Nein, das ist das Original.«

»Aber die entscheidenden Sekunden fehlen! Siehst du das denn nicht?«

»Ich weiß, aber mehr habe ich leider nicht.«

»Unmöglich. Da steckt doch die Regierung hinter«, flüstere ich. »Die wollen nicht, dass wir mehr sehen. Die wollen mich zum Täter machen …«

»Du hast gesagt, die haben dich gehen lassen.«

»Das stimmt.«

»Außerdem haben die auch nur eine Kopie von diesem Video.«

Mein Magen verkrampft sich, ich bin ruhelos. Ich lege meine Füße auf das Pult und Urbans Blick sagt mir, dass ich das besser lassen soll.

»Hast ja recht. Was denkst du?«, frage ich ihn und nehme meine Füße vom Pult. »Das sind zwei Personenschützer und der Bundeskanzler. Wie soll ich die denn bitteschön allein überwältigt haben?«

Urban spult das Video zurück und guckt sich die Szene noch einmal an. Dann geht er mit dem Kopf ganz nah an den Monitor heran.

»Drei Leute hättest du nicht schaffen können.«

»Genau. Einen vielleicht, aber drei?«

»Vielleicht den Kanzler, aber nicht die Personenschützer. Das sind Profis, Simon, da hast du keine Chance.«

»Ich würde nicht sagen, dass ich keine Chance hätte. Ich bin immerhin auch Sicherheitsprofi. Einen hätte ich vielleicht überwältigen können.«

»Das bezweifele ich«, insistiert er und schaut mich vielsagend von oben nach unten an.

Ich ziehe meinen Bauch ein, straffe meine Schultern und zeige mit angespanntem Arm auf den Monitor, um seinen verächtlichen Blick von mir abzuwenden. »Wie dem auch sei, das sieht mir nicht nach einer mysteriösen Krankheit aus, sondern nach einem Anschlag. Ich meine nicht von mir, ich bin nur zufälligerweise da. Denkst du nicht auch? Was den Bundeskanzler getroffen hat, hat auch mich getroffen. Ich bin genauso ein Opfer wie er. Sieh dir doch mein Gesicht an, das brennt immer noch.«

Er neigt seinen Kopf zur Seite und schaut auf meinen Hals. Seine Stirn ist genau vor meinen Augen und ich beobachte, wie sich darauf innerhalb weniger Sekunden Schweiß sammelt. Plötzlich verblasst seine Gesichtsfarbe und seine ovalen, von buschigen Brauen umwachsene Augen fahren zusammen wie aus dem Nichts. Mit einem Ruck beugt er sich nach unten, hält sich seinen Bauch und beginnt zu stöhnen.

»Was ist denn los? Geht`s dir nicht gut, Kumpel?«

Seine flache Hand signalisiert, dass er gerade mit sich beschäftigt ist und ich warten soll. Es dauert einen Moment, bis er tief durchatmet und sich schüttelt. »Geht schon wieder.«

Ich schaue in das ehemals helle Weiß seiner Augen, das nun rot ist und die glasig wirken. Das und der blutarme Kopf sagen mir das Gegenteil, aber er winkt genervt ab. »Betüddele mich nicht wie meine Mama. Ist alles gut.«

»Sag mal, kann ich zur Sicherheit eine Kopie von dem Video haben?«

»Ich kann dir eine machen«, raunt er und schiebt meinen Oberkörper zur Seite, da ich mich in Sorge um ihn aus Versehen vor die Bildschirme gelehnt habe. »Hast du das gesehen?« Er spult das Video ein Stück zurück und geht abermals dicht an das Gerät heran. Dabei steigt ein penetranter Duft vom Boden auf. Ich sehe seine blanken Füße auf den Schuhen thronen und lehne mich unauffällig zurück, um dem Gestank zu entfliehen.

»Nein. Was soll ich denn gesehen haben?«, frage ich mit nasenverriegelter Stimme.

»Guck doch mal.« Er deutet auf einen Punkt im Bild und spielt das Video erneut ab. Ein gräuliches Rauschen wechselt ins Dunkle und blinkt auf der anderen Seite des Monitors wieder auf. Ich konnte es allerdings nicht genau erkennen, weil es zu schnell ging.

»Was war das?«

Er wiederholt den Sekundenschnipsel und auch ich beuge mich ganz nah zu dem Monitor. Die Farbveränderung ist kaum sichtbar, aber sie deutet etwas Obskures an, das wie ein dunkler Blitz über den Flur jagt.

»Ein Schatten.«

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