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Zeitungskiosk

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Der Abend ist ungewohnt kalt. Der Herbst ist ausbewegt und liegt still vor dem Winter, der in seinem Jahresschatten lauert. Eine harzige, schweflige Note begleitet die glasklare Luft. Ich stecke meine Hände in die kühlen Jackentaschen und mache mich auf den Weg zum Zeitungskiosk, der fünf Gehminuten von meiner Wohnung entfernt liegt. Die Krater auf dem Mond kann ich mit dem bloßen Auge erkennen, aber die Straßen unter seinem Ablicht sind meinem Blick verschlossen. Ich sehe die gediegen-farbigen Häuserblöcke mit ihren kantigen Balkonen nicht, die langen Parkreihen, das von der Witterung platingraue Kopfsteinpflaster oder die kargen, herbstbraunen Baumgewächse nicht. Es herrscht Totenstille. Die Bierstuben, Elektroniklädchen und Friseursalons sind geschlossen, und die Straßenlaternen hinter mir haben ihre Funktion eingestellt, was ich erst bemerke, als das grelle Licht der Seestraße in meinen Augen sticht. Welch eine Ironie, dass die Straße fünfhundert Meter weiter nordöstlich an den Osram-Höfen vorbeiführt, dem ehemaligen Fabrikgelände, wo 1904 Deutschlands erste Glühbirnen produziert wurden. Außer dem Licht treffe ich vereinzelt Leben an. Zwei schweigende Wesen verlassen gerade den U-Bahnhof, eine Handvoll Autos pirschen über die Straßen und von irgendwoher höre ich schlierigen Husten aus der Tiefe einer sich zersetzenden Lunge.

Ich glaube, dass der Kiosk geöffnet hat, aber mehr will mir dazu nicht einfallen. Er ist Gegenstand meiner Erinnerung, nur nicht detailliert genug oder in Worte zu fassen. Ich denke, ich habe ihn bereits zwei- oder dreimal mitten in der Nacht aufgesucht und jedes Mal war er geöffnet. Nicht Qualität oder Kundenfreundlichkeit sind seine Stärken, sondern Zuverlässigkeit. Das ist es, sagt mir eine undefinierte Erinnerung … dieser Kiosk hat mich noch nie im Stich gelassen.

Ein paar Meter noch. Ich recke meinen Hals und als ich in der Ferne sein sattgelbes Licht sehe, zieht der Rhythmus meines Herzens an. Der Moment der Wahrheit steht kurz bevor, und ich spüre, wie die Härte, die sonst meine Knie zu festen Scharnieren formt, hinab in meine Füße rutscht. Je weicher meine Knie werden, desto schwerer werden die Schritte. Auf den letzten zehn Metern fixiere ich den Aushang und laufe, wie durch einen Tunnel geführt, geradewegs auf ihn zu. Einen Zeitungsständer greife ich als Stütze und überfliege die Meldungen, dann dreht sich mein Magen um. Ich wusste es, aber ich brauchte dennoch die Gewissheit, die ich nun habe. Der Bundeskanzler ist tatsächlich tot. Er ist gestern gestorben. Es steht auf dem Titelblatt jeder Tageszeitung. Ich ziehe eine nach der anderen aus dem Ständer und blättere sie eilig durch: TODESURSACHE UNBEKANNT … ungeklärter Fall … MYSTERIÖSER TOD … viele offene Fragen … lese ich, doch nirgendwo sehe ich ein Foto von mir. Ich entdecke keinen Hinweis darauf, dass ich etwas mit seinem Tod zu tun habe. Die Aufregung und die Nervosität stellen sich nicht ein, sie schwingen einfach ins Positive und plötzlich bin ich aufgeregt und nervös vor Freude, nicht mit diesem mysteriösen Tod in Verbindung gebracht zu werden. Ich meine, es ist grausam, was da passiert ist, eine Tragödie von unbekanntem Ausmaß, aber …

»Was zu trinken dazu?«, fragt mich der Händler von der anderen Seite des Tresens. Er hat einen leichten Akzent, klingt piepsig, rollt das R, schleift das Z und staucht das S fast zu einem SCH. Ich kann die Herkunft nicht genau ausmachen, Deutscher ist er aber definitiv nicht. Seine Haut ist nicht braun, eher rußig, und sein Haar ist dunkel wie die Nacht. Der schmale, unrasierte Mann packt die Zeitungen in eine Plastiktüte und starrt mich mit seinen kleinen Augen an, die tief in den Höhlen über dunklen Ringen liegen, wohl auf meine Antwort wartend.

»Nein.« Doch ich spüre meine trockene Kehle. »Oder ja, lieber doch!«

Er greift eine Flasche billigen Fusel und stellt sie neben die Tüte. Verwechselt er mich etwa mit seiner üblichen Klientel oder haben wir ein Kommunikationsproblem?

»Ein Wasser!«, rufe ich so laut, als stünde er zehn Meter von mir entfernt. »Ohne Kohlensäure …«

Er nickt, tauscht den Fusel mit Wasser und ich bemerke, wie er beiläufig auf meine Hände schaut. Ich habe ganz vergessen, sie nach dem Vorfall mit dem Kühlschrank zu waschen.

»Ja, ich weiß, aber das ist kein Blut, nur Soße«, versuche ich ihm zu erklären und lasse es mit dem Überreichen des Geldscheins. »Nur etwas rote … ach, hier, stimmt so.«

Er schiebt mir die Zeitungen in der offenen Tüte zu, wir beide schauen auf eines der Titelblätter und die Tragödie erhebt sich zwischen uns … mahnt zu Anstand, Trauer und Reflexion.

»Ist grausam, was mit Dr. Engel passiert ist«, sage ich sofort.

»Ja, die Welt wird immer schlimmer.«

Wieder dieser Satz und Helmuts Stimme klingt dabei in meinen Ohren.

»Na ja, viele mochten seine Politik, aber er war …«, ich mache eine bedeutungsschwangere Pause, »nicht immer ein Engel.«

Wie oft wollte ich diesen Spruch schon bringen, doch in keiner Situation wäre er witzig gewesen, immer nur ein platter Seitenhieb in der politischen Arena. Dieses Mal aber saß er perfekt, war pointiert und amüsiert mich selbst. Auch der eben noch betroffene Händler lächelt nun und als er mein Schmunzeln bemerkt, fängt er an, lauthals zu lachen. Er wirft seine Arme in die Luft und seine Nüstern blähen sich weit auf. Timing ist eben alles. Nun geht der schmale Mann ins Hohlkreuz und hält sich seinen Bauch, als könnte er nicht mehr. Er übertreibt ein bisschen.

»Den habe ich noch nie gehört«, pfeift er mit gepresster Stimme.

»Wirklich nicht?«

»Das wäre eine großartige Zeile für einen Nachruf!«

»Pass auf«, sage ich, »ich kenne noch einen. Zwei Pinguine stehen auf einer Eisscholle. Sagt der eine: Sieht aus, als würdest du einen Anzug tragen. Daraufhin der andere: Wer sagt denn, dass ich keinen trage?«

Jetzt sehe ich, dass er wirklich lacht, und zwar aus vollem Herzen. Seine Lache ist ansteckend, sie packt mich und wir gackern im Gleichklang wie Hühner im Stall. Er wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und versucht mir etwas zu sagen. »Das erinnert mich an, ähm«, aber die Lache macht es ihm schwer, »an dieses, ähm, erinnert mich an dieses Foto von Dr. Engel im Zoo, wie er …«

»Genau! Wie er neben dem Pinguin steht und er trägt einen Anzug. Engel meine ich, nicht den Pinguin.«

»Sie haben dasselbe Grinsen im Gesicht und beide schauen so auf dem Foto, als würden sie was beobachten. Ich weiß noch, das war auf dem Titelblatt einer Lokalen und ich lachte den ganzen Tag darüber.«

»Und der Pinguin meint zu Engel: Wer sagt, dass ich keinen Anzug trage?« Mime ich mit einer quarkigen Stimme, habe aber keine Idee, welche Geräusche Pinguine machen.

»Sie haben aber wirklich gute Laune«, meint der Händler. Nicht vorwurfsvoll, sondern komplimentierend. Und es stimmt, vor einer Minute stand meine Laune noch vor dem Abgrund und nun spüre ich eine positive Bewegung, die mich zumindest für ein Späßchen mitnimmt. »Ich habe heute nicht einen Kunden lachen sehen. Die Welt ist grausam, aber ohne Humor ist das doch nicht auszuhalten.«

»Humor ist nicht alles, aber ohne Humor ist alles nichts.«

»Das ist wahr. Ist der Satz von Goethe?«

Ich zucke mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.«

Zur Verabschiedung haue ich einmal mit der flachen Hand auf den Tresen und rufe: »Adiós, Amigo!« Was für ein netter Kerl. »Wie heißt du eigentlich?«

»Gopal.«

»Das ist … pakis…?«

»Indisch. Hatten wir uns nicht erst letztens noch darüber unterhalten?«

»Ach ja, klar!« Ich habe keinen blassen Schimmer und schleiche mich schnell aus dem Kiosk.

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