Читать книгу REVOLUTION AUTOMATON - Hendrik Kühn - Страница 8
Der Hausmeister
ОглавлениеDer Schlüssel rotiert im Schloss und die Spannung im Holz schiebt die Wohnungstür auf. Erschöpft, blutarm und noch vom Albtraum geschockt, fasse ich am Griff vorbei. Statt hineinzugehen, stehe ich immer noch davor und schaue in den Schatten meiner vereinsamten Wohnung, als wäre ich tagelang nicht mehr hier gewesen. Genauso benimmt sich mein Körper, mit dem Gefühl der Wiederkehr in eine fremde und unbewohnte Stätte, die lange leer stand und entstaubt und mit Leben gefüllt werden muss. Ich kenne das, aber es ist intensiver als sonst und wäre meine Energie nicht versiegt, würde ich sofort eintreten und genau das tun … die Räume beleuchten, die Heizung aufdrehen und Musik anmachen. Stattdessen schwimmt mein Geist und meine Gedanken treiben davon, assoziieren die unangenehme Leere mit einem Aderlass. Ich bin so kraftlos, als pumpe mein Herz in die Leere der offenen Adern. Gleich welchen Gedanken ich beginne, er wandelt sich in wenigen Zügen in die Sehnsucht nach meinem Bett mit der anheimelnden Daunendecke, die sich an meinen Körper schmiegt. Das Licht im Treppenhaus erlischt. Meine Hand tastet am Türrahmen vorbei in meine Wohnung und drückt den Lichtschalter. Vergebens. Kein Funke und kein Knall, um mich herum ist alles stockfinster.
Behäbig laufe ich durch die Dunkelheit bis zur Küche, halte mich an der Kommode und dem Türrahmen fest, stoße ein gerahmtes Porträt meiner Eltern um und falle beinahe über den Wäschekorb, als ich feststelle, dass dort das Licht auch nicht funktioniert. Die Glühbirnen im Flur und der Küche werden ja wohl nicht zur gleichen Zeit kaputtgegangen sein, überlege ich und spüre, dass mein Fuß in eine schmierige Pfütze getreten ist. Die Feuchtigkeit wandert binnen Sekunden durch mein löchriges Schuhwerk und sammelt sich zwischen meinen Zehen. Mit meinem Handy beleuchte ich die Lache und stelle fest, dass der Kühlschrank ausgelaufen ist. »Das kann doch nicht wahr sein …« Ich bin müde, todmüde sogar, und mein Körper schmerzt, von oben herab, bis in die Fingerspitzen und verschlingt mich. Er trennt meinen Verstand von der Welt … nur der nasse Fuß erinnert mich daran, dass es nicht so ist. Ich hebe ihn, lasse ihn abtropfen, ziehe dann Schuhe und Socken aus, und stelle alles zur Seite. Beim Herunterbeugen höre ich plötzlich ein Fiepen in beiden Ohren, sehe farbige Kreise in der Dunkelheit und spüre ein trockenes Brennen in meinem Hals. Auf der Spüle befindet sich eine zimmerwarme Wasserflasche aus papierdünnem Plastik, die ich mit einem gewissen Ekel trinke. Die fade Kohlensäure schäumt und lässt mich aufstoßen, der Nachgeschmack erinnert mich an meine Kindheit, an jene verregneten Tage, an denen ich im muffigen Keller Verstecken gespielt habe. Das sind schöne Erinnerungen, aber heute ist offensichtlich nicht mein Tag. Ich fühle mich beschissen, anders kann ich es nicht ausdrücken.
Es klopft plötzlich an der Tür. Ich taste mich zurück und orientiere mich an dem kleinen Lichtpunkt, den die Beleuchtung des Treppenhauses durch den Türspion wirft. Helmut, natürlich. Er ist unser altgedienter Hausmeister … beinahe hätte ich ausgedient gesagt … der seinen grauen Cord-Hut wie eine Arbeitsuniform trägt. Einmal habe ich ihn ohne getroffen, er war gerade mit seiner Frau auf dem Weg zu einer Beerdigung, und er sagte mir, er wäre privat unterwegs und hätte deshalb keine Zeit. Die Sprechzeiten seiner üblicherweise Rund-um-die-Uhr-Aufgabe konnte ich danach wieder an seiner Kopfbedeckung ablesen. Eines vorweg: Helmut ist nicht in Ordnung. Er ist ein aufdringlicher, suspekter Typ, dem ich nicht über den Weg traue. Er ist undeutbar, sowohl als Charakter als auch als biologisches Wesen. Ich kann nicht einmal sein Alter genau schätzen, aber so lange ich ihn kenne, sieht er nach Rente aus. Was man aber mit Gewissheit sagen kann: Er ist immer der Erste vor Ort. Der Strom fällt aus und schon steht er vor meiner Tür, mit seiner grimmigen Miene, die der Türspion wie eine Karikatur verzerrt. Am liebsten würde ich ihm gar nicht öffnen, aber spätestens morgen stünde er doch wieder vor meiner Tür, mit seinem Cord-Hut und seinen guten Absichten. Widerwillig mache ich ihm die Tür auf und der beißende Geruch von Salami und Butter macht ihn vorstellig.
»Ick hab jesehn, dass du jetze jekommen bist, Simon«, sagt er, als sei es ungesetzlich und schaut mich dabei unverwandt an. Sobald er bemerkt, dass ich mitbekomme, wie er mich anschaut, wendet er seinen Blick rasch ab und schaut in meine Wohnung. »Wir hamm Probleme mit de Elektrizität.«
»Das habe ich gerade festgestellt«, sage ich. »Mein Kühlschrank ist nämlich abgetaut.«
Ein süffisantes Grinsen steht in seinem Gesicht. »Dit muss ja ooch regelmäßich, wa?«
»Der hat eine automatische Abtauvorrichtung, aber frag mich nicht, wie die funktioniert.«
»Ach so. Wie ooch immer, im janzen Haus sind heute die Sicherungn rausjeflogn. Die Hauptsicherungn, inne Wohnungn, überall. De Elektrika war schon hier u nun gehts wieda. Janzen Tach hattn wa Ärga.«
»Verrückt. Wie ist denn das möglich?«
»Jute Frage. Ditt weeß ick nich jenau, aber de vonne Stadtwerke sagn, dass sonne Internethacka uffe Netze zugreifn. Aber hey, du musst de Sicherungn wieda reinmachn.« Er zeigt auf den graulackierten Blechkasten neben meiner Tür, den ich hätte suchen müssen, wenn er ihn mir nicht gezeigt hätte. Ich öffne den Kasten, drücke die Sicherungen hoch und das Licht in meinem Flur geht wie von Zauberhand wieder an. Auch den Kühlschrank höre ich summen.
»Vielen Dank, Helmut.«
»Dafür nich«, antwortet er. Dann folgt betretenes Schweigen. Ich räuspere mich, er räuspert sich. Ich schaue ihm in die Augen, er dreht sich weg.
»Hacker, sagtest du?«
»Ja, da wird eenem blümerant. De janzen Beklopptn komm’n roos, du weeßt schon, weil de Bundeskanzla tot is. Schlimm, wa?«
Dieser Satz fährt mir wie ein Schwert durch meine Brust. Ich erstarre äußerlich, da mir der Atem stockt, aber in der Brust holt mein Herz weit aus und erschüttert mich mit dem nächsten Schlag. Ich will glauben, dass ich ihn nicht richtig verstanden habe, aber da gibt es keine Zweifel. Es ist wahr, unser Bundeskanzler ist tot. Betroffenheit legt sich auf mein Gesicht und Helmut nickt mir zu, weil er glaubt, dass der Tod des Kanzlers der Grund dafür ist, aber in Wirklichkeit ist es die Einsicht, dass ich das alles nicht nur geträumt habe.
»Das kannst du laut sagen, Helmut. Sehr schlimm«, flüstere ich und sinniere still darüber nach, was die Medien gerade berichten. Ich stelle mir mein verwaschenes Bild vor, das von einer der Überwachungskameras des Hotels stammt. Alle Welt würde mich sehen, vorverurteilen und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Lynchmob dann nach Rache dürstend vor meiner Wohnungstür stünde, für etwas, das ich nicht getan habe. Ist es euch auch egal?
»De Welt wird imma schlimma«, seufzt Helmut.
Für mich ist das Gespräch beendet, denn ich will ihn so schnell wie möglich verabschieden und signalisiere ihm das auch mit einem in den Hausflur drängenden Schulterklopfen. Er versteht die Geste aber nicht und observiert stattdessen lieber meine Wohnung. Ich bemerke die Unordnung hinter mir und schiebe meinen Körper vor sein Sichtfeld. »Gute Nacht, Helmut. Ich muss jetzt! Nochmals vielen Dank.«
»Dafür nich.«
Ich drücke die Tür zu und meine den Widerstand von Cord-Hut und Nase spüren zu können, die immer an vorderster Front stehen, wenn seine Neugier Schlachten mit den Nachbarn schlägt. Mit der Hand verdecke ich den Türspion, lege meine Stirn auf das lackierte Holz, schließe meine Augen und lausche der anderen Seite. Dort ist kein Ton seiner Schuhe auf den Treppenstufen, kein Schlurfgeräusch seiner Sohlen auf dem Stein, und kein Atem seines alten Körpers zu vernehmen.
Ich halte inne und versuche mich auf das zu konzentrieren, was mir so surreal, albtraumhaft und unmöglich erschienen ist: Die Wahrheit.
Bin ich nun ein Verdächtiger auf der Flucht oder hat man mich gehenlassen? Ich bin geflohen, genauso wie mein Vernehmer, aber erst nach ihm. Hätte er mich zurückgelassen, wenn er geglaubt hätte, dass ich der Mörder des Bundeskanzlers wäre? Ausgeschlossen. Es kann keine Beweise geben, die mich belasten, nichts, was fälschlicherweise auf eine Tat hindeutet, die ich nicht begangen habe. Ich wurde festgehalten, weil sie keinen blassen Schimmer hatten und es besser ist, irgendeinen Sündenbock als niemanden zu haben. Außerdem: Warum erinnere ich mich an nichts? Sie müssen mich bewusstlos geschlagen haben und infolgedessen habe ich eine posttraumatische Amnesie oder Ähnliches erlitten. Ich werde sie anzeigen und vor Gericht zerren, wenn das wahr ist. Doch die Zweifel bleiben bestehen, ohne die vollständige Erinnerung. Es sind nur die jüngsten da, die mitten im Verhör begonnen haben. Ich zeichne sie in meinem Kopf nach und mit ihnen kehrt automatisch der Schmerz zurück und er pocht nun von der rechten Schläfe hinab bis zum Hals. Ich nehme meine Hand vom Türspion und schaue hindurch. Der Hausflur ist nun dunkel.
Ich kehre zur Küche zurück, reiße ein paar Papiertücher von der Rolle und knie mich dann vor den wiederbelebten Kühlschrank, um das abgestandene Wasser aufzuwischen. Es ist nicht viel, denke ich zuerst, aber als ich das Papier unter die Tür schiebe, laufen mir dunkelrote Tropfen auf die Finger. Mein Blick folgt den langen Bahnen, die sich über die Dichtungen des Eisfachs bis zum Boden ziehen und unter dem Kühlschrank eine widerliche Pfütze nähren. Ich öffne die Tür und in mir steigt Ekel auf. Es ist Tomatensoße mit Hackbällchen aus einer vergessenen Gefrierpackung ausgelaufen und sie klebt nun überall, in jedem Fach und an allen Essensresten. Ich brauche mehr Papier, viel mehr. Doch beim Aufstehen packt mich erneut der Schwindel und er schickt mich zurück auf meine Knie. Ich stütze mich am Küchenstuhl ab und es dauert einen Moment, bevor ich der Bodenfestigkeit vertraue. Einmal tief durchatmen. Ich schaue nach oben und dann zu Boden. Irgendetwas stimmt mit dem Deckenlicht nicht, so dunkel war es noch nie und ich habe Mühe, zu erkennen, wo ich genau wischen muss. Es gibt Brüche in den Fliesen, die ich sinnlos bearbeitet habe, und da sind Flecke, die viel älter und unbestimmbar in Farbe und Form sind. Ich beuge mich flach über die Fliesen und je dichter ich komme, desto schlechter kann ich sehen. Die Soße breitet sich aus, scheint zu hüpfen und zu flüchten, als kämpfe ihre innere Tomate ums Überleben.
Ich brauche lange, bestimmt zwanzig Minuten, bis ich alles im und um den Kühlschrank herum entfernt habe, und bleibe schließlich erschöpft auf meinem Hintern sitzen. Der Schmerz ist schlimmer geworden, er tobt und strahlt über meinen ganzen Körper. Vorsichtig fasse ich an die Stelle in meinem Gesicht, wo er sich lokalisiert. Wie ätzend stößt die Hautoberfläche meine Finger ab. Ich wollte sie im Spiegel inspizieren, aber mir fehlt die Kraft. Mit meinen Beinen schiebe ich mich zurück an die Spüle und schließe meine Augen. »Allein fehlt mir die Kraft …«
Ich weiß noch, wie ich als Achtjähriger einen toten Mann auf der Straße liegen gesehen hatte, der Minuten zuvor bei einem Frontalunfall aus seinem Auto geschleudert worden war. Ich sah nicht viel, denn die Sanitäter hatten ihn abgedeckt, aber die Vorstellung, dass dort ein Körper ohne Leben lag, war für mich ein wochenlanger Horror. Der erste Tag war der schrecklichste, alles fühlte sich plötzlich grau und sinnlos an, selbst die neuen Spielzeuge, die ich zu Ostern bekommen hatte, und das satte Sonnenlicht, mit dem ich die schönen Dinge des Lebens verband. Mir schmeckte das Abendessen nicht mehr, mit meinen Eltern wollte ich nicht reden und die Nacht bestrafte mich mit einer pausenlosen Vorstellung des neuen Horrorfilms in meinem Kopfkino. Über die Jahre hinweg gewöhnte ich mich an den Anblick, sah ihn regelmäßig auf Autobahnen oder in den Nachrichten. Er hob mich nicht mehr an. Aber was ich heute erlebt habe – den Tod des Bundeskanzlers, das verrückte Verhör und meine Flucht – versetzt mich unwillkürlich in den erschütterten Achtjährigen zurück, der ich einmal gewesen war. Das gleiche Gefühl kommt wieder in mir auf, jedoch gepaart mit dem Mysterium des Umstands und dem absurden Verdacht, ich wäre für diese Tat verantwortlich. Es macht mich verrückt. Die Situation nimmt mich gefangen und steigert sich mit jedem Gedanken, bis sie selbst die Sehnsucht nach meinem Bett bezwingt. Fünf Minuten mit mir allein auf dem Küchenboden und ich bin davon überzeugt, keinen Moment mehr länger ausruhen zu können. Das war immer so … in Einsamkeit komme ich stets auf unheilvolle Gedanken. Dumme Gedanken nannte sie mein Vater. Ich könnte lachen.
Meine Kraftreserven mobilisieren sich erneut, sie öffnen meine Augen und stellen mich auf die Beine. Sie bringen mich zum Flur, geben mir mein Handy von der Kommode in die Hand und lassen mich nach den Nachrichten suchen. Es ist ein neues Gerät, ein richtiges Arbeitstier und eine Entertainment-Maschine. Das sage ich mit einem gewissen Stolz und fahre mit dem Daumen über die polierte Plastikkante, die das Display abschließt. Ein Kratzer, nicht tief, aber ich kann ihn spüren. Das ist ärgerlich. Mein Blick geht zurück auf das Symbol des Browsers, das sich nur endlos dreht, bis eine Fehlermeldung erscheint: Seite kann nicht gefunden werden. »Ach, komm schon!« Dann sehe ich, dass das Gerät kein Netz hat. Der Netzanbieter ist das Problem. Egal. In meinem Arbeitszimmer habe ich meinen Laptop, den ich – ich schaue auf dem Schreibtisch und in der Tasche nach – wohl in meinem Büro gelassen habe. Der Fernseher funktioniert auch nicht, er zeigt nur ein Bildrauschen an.
Obwohl es lediglich ein paar Autominuten sind, will ich nicht für die Nachrichten von Berlin-Wedding, wo ich wohne – in der Kameruner Straße, wohlgelegen zwischen Mitte und dem Flughafen Tegel – bis zu meinem Büro am Alexanderplatz fahren. Das mache ich aus Prinzip nicht, denn der Zeitungsladen ist direkt um die Ecke. Hier ist meine Jacke, dort die Wohnungstür. Damals sind wir noch alle rausgegangen, wenn wir etwas brauchten, und es hat uns nicht umgebracht. Meistens zumindest.
Leise ziehe ich die Tür in das Schloss und schleiche mich durch das dunkle Treppenhaus. Ich will nicht, dass Helmut sieht, wie ich das Gebäude verlasse. Allein bei dem Gedanken daran, dass er meine Ausgehzeiten dokumentiert und darüber Vermutungen anstellt, könnte ich ausflippen. Seine Wohnung liegt unseligerweise in der ersten Etage und jeder Hausbewohner muss daran vorbei. Selbst die junge Frau, die ihm gegenüber wohnt, ist häufig ein Opfer seiner Arbeit. Ich bilde mir ein, dass es ihr nahegeht, diesem zarten Geschöpf mit dem dünnen, roten Haar und dem leichten Strabismus, der ihr linkes Auge nach innen wandern lässt. Ich habe erlebt, wie sie beim Ausgehen unweigerlich in die Richtung seiner geschlossenen Wohnungstür grüßt, weil sie weiß, dass er auf der anderen Seite des Türspions steht. Damals wie heute bebte sein Herzschlag geradezu durch das Holz der Tür und auch sein Ohr scheint an jede Wand gepresst zu sein. Die Paranoia ist unvermeidbar.