Читать книгу Die Rotenbergverschwörung - Hendrik Scheunert - Страница 3
Prolog
Оглавление„Hallo Hr. Meinhardt. Darf ich kurz stören?“
Bianca Stein war Anfang dreißig, schlank mit langen, dunkelblonden Haaren. Dazu passend trug sie ein kurzes, ärmelloses, mintgrünes Kleid. Seit einigen Jahren arbeitete sie als Rechtsanwaltsgehilfin für den Anwalt Hans Meinhardt, welcher im Strafrecht als einer der Besten seines Faches bezeichnet wurde.
Durch seine Lesebrille schaute er sie, mürrisch dreinblickend, an.
„Was gibt es denn so Dringendes?“ Hans Meinhardt war ein kauziger älterer Herr Mitte siebzig und wenig darüber erfreut, dass man ihn ausgerechnet jetzt, beim intensiven Prüfen und Suchen von Akten stören musste. Obwohl er eigentlich schon längst hätte seinen Ruhestand genießen können, wollte oder konnte er irgendwie nicht loslassen.
Der Anwalt stand gerade an seinem Tresor, der in einem Schrank eingebaut war und legte besagte Akten beiseite.
Für sein Alter, man sah ihm selbiges nicht an, war Hans Meinhardt ziemlich fit und wirkte sehr drahtig.
„Es ist gerade ein Kurier hier, der hat einen Brief für sie abgegeben und meinte, es wäre dringend. Sie sollten den Erhalt bitte quittieren. Er wartet draußen.“
Meinhardt drehte sich um, verschloss den Tresor, der mit einem Zahlenschloss gesichert war und ging in den Vorraum, wo Bianca Stein die Mandanten für ihn in Empfang nahm.
Der Kurier, sichtlich mit dem Fahrrad gekommen, trug einen Helm, eine Radlerhose und Radschuhe.
Er hielt ihm ein Schriftstück entgegen.
„Hier bitte unterschreiben.“
Was konnte bloß so wichtig sein, dass man ihn so abrupt stören musste, wo man doch in Zeiten von Internet und Smartphone die Nachrichten viel schneller übermitteln konnte, als mit dem schnellsten Radfahrer. Er musterte die sportliche Figur des Radfahrers, der gelangweilt in der Türe stand durch seine Lesebrille, die leicht schräg auf seiner Nase hing.
Nachdem er unterschrieben hatte, gab der Kurier ihm den Brief und verabschiedete sich. Ein Obolus war in diesen Räumen nicht vorgesehen. Beim Rausgehen zwinkerte der Kurier Bianca zu, die schüchtern in sich hineinlächelnd, den Blick erwiderte. Hans Meinhardt bemerkte das nicht. Er nahm den Brief, drehte sich um, und ging wieder in sein Büro, wo er die Türe hinter sich schloss.
Nachdem er sich gesetzt hatte, öffnete er ihn.
Eilt!
Wenn möglich heute Mittag Treffen am See im Wald.
Es gibt Probleme. Ich erwarte dich.
Gruß W.R.
Hans Meinhardt lehnte sich zurück, drehte seinen Stuhl und blickte aus dem Fenster in den Hedelfinger Hafen und die vor ihm verlaufende, stark befahrene Bundesstraße. Er überlegte kurz.
„Frau Stein? Habe ich heute Mittag dringende Termine?“
„Erst um halb drei. Da kommt ein Mandant, der wegen Körperverletzung angeklagt ist. Nichts Weltbewegendes.“
„Gut“, antwortete er knapp, ging aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich zu.
„Ich bin kurz weg. Falls jemand anruft, dann bin ich um zwei wieder da.
„Kein Problem. Ich weiß Bescheid.“
Er setzte sich in seinen weißen Audi, der vor dem Bürokomplex in der Kesselstraße auf seinem Parkplatz stand, startete, und fuhr los. An der Kreuzung in Hedelfingen bog er rechts, die Straße Richtung Rohracker fahrend, ab. Diese endete als solche etwa drei Kilometer weiter oben, in Form einer Wendeschleife für den Bus.
Er parkte sein Auto in der Nähe und stieg aus. Hans Meinhardt ging Richtung Wald und spazierte so unauffällig wie möglich den Weg entlang, wo sich Linkerhand einige Obstgärten erstreckten. Nachdem er die Schranke, die nach schwäbischen Verständnis den Eingang zum Naherholungsgebiet bildete und Autofahrer an der Weiterfahrt hindern sollte, passiert hatte, tauchte der kleine See vor ihm auf.
Dieser lag inmitten von hohen Bäumen, wo im Sommer ab und an Karpfen ausgesetzt wurden, doch jetzt Mitte März, konnte er noch nichts sehen. Er setzte sich auf die Bank, die am See stand. Niemand war da.
Während des Wartens verlor er sich in Gedanken an Siebzigerjahre zurück, eine für ihn und seine Freunde spannende, aufregende Zeit. In den letzten Jahren jedoch war sein Leben eher ruhig verlaufen, was im Alter vielleicht so sein sollte, dachte er und lächelte. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte etwas anders zu machen, hätte er es getan? Nachdem er einen gedanklichen Bogen gespannt hatte, was in der Zwischenzeit alles passiert war, kam er zu dem Schluss, das er soweit alles richtig gemacht hatte. Nur die Nachricht von vorhin beunruhigte ihn. Was gab es für ein Problem? Er überlegte, doch ihm wollte nichts einfallen, bis ihn schließlich eine Stimme aus seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit holte.
„Hans, ich grüße dich.“
Meinhardt zuckte kurz zusammen, doch beim Anblick seines alten Freundes entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Bestimmt fünf Jahre.
„Walter. Du hast dich nicht verändert.“
Er fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern und drückte ihn etwas von sich weg, um ihn besser betrachten zu können. Walter Rudolph hatte sich in der Tat nicht viel verändert, obwohl er ebenfalls Anfang siebzig war, aber im Gegensatz zu Hans groß und schlank geraten. Seine angegrauten Haare hatte er akkurat nach hinten gekämmt.
Nach der Begrüßung mit den obligaten schwäbischen Gemeinheiten über das Aussehen, setzten sich beide wieder auf die Bank.
„Wie ich sehe, hast du schnell reagiert. Schön, dass du gekommen bist.“
„Ich nehme an, du hast deine Gründe. Ehrlich gesagt habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass du dich noch mal meldest. Was ist passiert? Wo ist Gottfried?“
„Du kennst ihn. Er hat wie immer keine Zeit und hält doch alles irgendwie am Laufen. Bewundernswert der alte Haudegen.“
Walter Rudolph lehnte sich entspannt zurück, blickte auf den See. Die Sonne warf bereits ein paar Strahlen auf das Wasser und er meinte, eben einen kleinen Karpfen erblickt zu haben, der mit seinem Maul durch die Wasseroberfläche stieß.
„Um auf deine Frage zurückzukommen: Passiert ist noch nichts. Aber das wird sich ändern. Wir haben ein Problem.“ Er streckte ihm einen Artikel der Stuttgarter Nachrichten hin, den er mitgebracht hatte. Meinhardt nahm die Zeitung, setzte sich auf die Bank und las.
„Was bezweckt der Kerl mit diesem Artikel?“, wollte der Jurist von Walter wissen und gab ihm die Zeitung zurück, nach dem er den Artikel gelesen hatte. „Warum muss diese alte Geschichte jetzt wieder aufgewärmt werden. Das ist vierzig Jahre her. Weiß Gottfried davon?“
„Da kannst du dir sicher sein. Und genau deswegen bin ich hier. Gottfried meinte, wir sollen uns darum kümmern.“
Hans Meinhardt sah Walter Rudolph ernsten Blickes an.
„Meint ihr mit darum kümmern, das darum kümmern?“
Hans machte eine eindeutige Geste in der Halsgegend.
„Genau das meinte er damit. Das Risiko ist zu groß, dass hier tiefer gegraben wird, als es gut wäre. Und Gottfried kann es in seiner momentanen Situation nicht gebrauchen, wenn die Sache wieder hochkocht.“
„Kann der Schreiberling denn mehr finden, als er sollte?“
„Es gibt immer ein Restrisiko. Daher ist Eile geboten.“
„Verständlich“ seufzte er und wusste, was nun auf ihn zukam.
Hans galt als der pragmatische Typ in ihrem Kreis. Walter hingegen war jemand, der immer mit dem Kopf durch die Wand wollte, selbst wenn die Tür daneben offenstand. Alle drei verband sie eine innige Freundschaft und ein brisantes Geheimnis, dass die Republik in ihren Grundfesten erschüttern könnte, falls es ans Tageslicht käme, schmiedete sie zusammen.
„Ich kümmere mich darum. Aber ich sage euch, das wirbelt Staub auf“.
Hans drehte sich zu Walter und sah in mit einem ernsten Blick an. „Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist.“
„Na lass das Mal meine Sorge sein. Du kümmerst dich wie immer um die Ausführung.“ Walter schien allerbester Laune zu sein. Hans hingegen war am Zweifeln.
„Und Gottfried ist sich da sicher?“
„Er meint, das wäre die einzige Möglichkeit. Lieber kurzzeitig etwas Staub aufwirbeln, als das die Sache an die Öffentlichkeit kommt, denn dann ist hier die Hölle los. Wie hat der Alte damals immer gesagt: Probleme löst man, solange sie noch klein sind.“
Hans seufzte. Er ging die Alternativen durch und kam zu dem Schluss, dass seine Freunde recht hatten.
„Also gut.“ Er drehte sich um. Niemand war weit und breit zu sehen.
„Sie sind uns damals nicht auf die Schliche gekommen, sie werden es auch dieses Mal nicht.“.
Walter steckte seine Hände in die Taschen und streckte seine Beine von sich.
„Fürs Erste würde ich sagen, sollte das genügen. In diesem Zusammenhang wäre da nur noch eine Sache, um die du dich kümmern solltest.“
„Und die wäre?“
„Bei dir gibt es eine undichte Stelle.“
Hans lachte laut auf.
„Wo soll ich eine undichte Stelle haben. Höchstens bei mir zu Hause, wenn der Wasserhahn tropft.
Walter sah ihn mit einer ernsten Miene an und Hans hörte sofort auf zu lachen. Er zog ein zusammengerolltes Foto aus seinem Jackett heraus und gab es kommentarlos an ihn weiter.
„Das ist die undichte Stelle. In deinem und in unserem Interesse solltest du das Leck abdichten.“
Hans sah sich das Bild an. Walter hatte zweifellos recht. Die undichte Stelle musste abgedichtet werden.
„Und noch was: Ich habe gehört, dass es eine Kopie der Rotenbergakten geben soll.“
Hans widersprach. „Die letzte Kopie der Rotenbergakten haben wir damals 1993 an uns genommen, was ziemlich viel Staub aufgewirbelt, und einigen Leuten in Berlin den Job gekostet hat.“
Walter lachte, wurde jedoch gleich wieder ernst.
„Wie gesagt ich habe etwas gehört. Und Gerüchte sind bekanntlich die Rauchschwaden der Wahrheit. Ich gehe mal davon aus, dass es etwas mit deiner undichten Stelle zu tun hat.“
„Ich überprüfe das. Um die undichte Stelle kümmert sich dann der Sanitär.“
Beide wussten was, beziehungsweise wer, damit gemeint war.
Sie standen von der Bank auf, liefen gemeinsam schweigend den Weg zurück zur Wendeschleife, wo sie ihre Autos geparkt hatten, und verabschiedeten sich mit einer freundschaftlichen Umarmung.
Dann rief Hans Meinhardt besagten Sanitär an.
Zwei Tage später kam ein Journalist der Stuttgarter Nachrichten bei einem Autounfall auf der B27 Richtung Filderstadt aus ungeklärter Ursache, wie es im Polizeibericht hieß, von der Fahrbahn ab und starb in den Trümmern seines Wagens.