Читать книгу Die Rotenbergverschwörung - Hendrik Scheunert - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеFrank kratzte sich am Hinterkopf und trank seinen mittlerweile dritten Kaffee.
„In der Tat, ziemlich merkwürdige Geschichte. Aber vom Gefühl her schwanke ich noch. Könnte schon ein Selbstmord gewesen sein.“
Richard verdrehte die Augen.
Frank sah das und beruhigte ihn.
„Ist schon ok. Lass mich laut denken. Das musst du mir schon lassen. Ich fass das Ganze zusammen: Ihr habt einen Selbstmord, von dem du aufgrund der Tatsache, dass die Frau an einem Ende der Brücke liegt, wo Selbstmörder normalerweise nicht runterspringen annimmst, dass es Mord war. Seh ich richtig?“
„Richtig. Dazu fehlen Handy und Papiere. Also alles Sachen, mit denen man jemand identifizieren könnte.“
„Na ja, das schließt ja einen Selbstmord nicht zwangsläufig aus. Hast du vielleicht Fotos vom Tatort oder eine Ermittlungsakte dabei?“
Richard zuckte mit den Schultern.
„Ist doch erst gestern passiert.“
„Erst gestern? Ist die Leiche schon obduziert worden?“
Richard schüttelte den Kopf.
„Also kommst nur aufgrund deines Bauchgefühls hierher zu mir. Damit willst du mich überzeugen, dass ich wieder mit dir nach Stuttgart komme, meine Auszeit sausen lasse und in einem Fall ermittle, von dem ich noch nicht mal weiß, ob es ein Mord war? Und was ist, wenn Walter Riegelgraf am Montag feststellt, dass es sich einwandfrei um Selbstmord handelt?“
Richard lehnte sich zurück.
„Das wird er nicht. Er findet was.“
Frank schaute ihn scharf an.
„Richard, ich mag dich. Wirklich. Wir kennen uns schon über zwanzig Jahre. Aber glaubst du nicht, dass du dich hier in etwas verrennst?“
„Nein, das glaube ich nicht. Ich bin davon überzeugt, das die Frau ermordet wurde und nicht freiwillig da unten gelandet ist.“
Frank seufzte, weil er wusste, dass es sinnlos war Richard von etwas abzubringen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Das Dumme an der ganzen Sache war, dass Richard meistens auch recht hatte, wenn etwas nicht ganz koscher roch. Frank musste nun mit sich ringen, eine Entscheidung treffen. Seine Auszeit aufgeben, wieder zurück nach Stuttgart kommen, um seinen Kollegen und Freund zu helfen, oder doch lieber hierbleiben und ihn allein lassen.
„Einen Vorschlag zur Güte“, versuchte sich Frank etwas Zeit zum Überlegen zu verschaffen. „Bleib übers Wochenende bei mir. Ich brauch Zeit, um mir die Sache zu überlegen. Platz hab ich genug und wie ich dich kenne, hast du eh nichts vor.“
Richard schien die Idee zu gefallen.
„Das heißt, du sagst ja?“
„Ich habe gesagt, dass ich es mir überlege.“ Er schaute auf seine Uhr. „Das heißt aber auch das ich mich jetzt auf mein Rad setze und meine Tour starte. Dir empfehle ich einen Ausflug nach Konstanz. An der Promenade laufen um diese Jahreszeit viele Häschen rum, wenn du weißt, was ich meine. Und wenn ich heute Abend wieder da bin, gehen wir runter in die Traube Essen.“
Richard stand auf und klopfte Frank auf die Schulter.
„Ich geh dann mal die Hasen inspizieren. Soll ich dir einen Hasen mitbringen?“
„Kannst du machen“, lachte Frank. „Ich bin gegen sechs zurück.“
Er warf ihm einen Schlüssel zu.
„Falls du früher da bist.“
Richard spürte, dass er ihn soweit hatte. Er wusste aber auch das Frank, diese ausgedehnten Touren mit seinem Rad benötigte, um seine Gedanken zu sortieren, Entscheidungen zu treffen. Sollte er das ruhig machen. Er würde früher oder später zu demselben Schluss kommen, dass es sich hier um einen Mord handeln musste.
Noch konnte er nicht wissen, dass er dabei war mit Frank die Büchse der Pandora zu öffnen.
Frank nahm Schwung und fuhr die Straße am See in Richtung Stein am Rhein entlang. Das Wetter war für diese Jahreszeit genau richtig. Es waren um die zwanzig Grad und er hatte sich wohlweislich entschieden kurzärmlig zu fahren. Diese ausgedehnten Radtouren hier in dieser Gegend liebte er, zumal die Radwege, das kam ihm mit seinem Rennrad entgegen, alle asphaltiert waren.
Während er Kilometer um Kilometer am See entlangfuhr, entspannte er sich, ließ die Geschichte von Richard vor seinem geistigen Auge Revue passieren und genoss die frische Brise, die vom See herüberwehte. Für den Fall das Richard recht hatte, stellte sich die Frage nach dem Motiv. Es musste als Allererstes die Identität geklärt werden. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass die ersten 48 Stunden entscheidend waren, 24 davon waren schon vergangen. Wenn es denn ein Mord war, dachte er sich, warum dann so ein Aufwand diesen als Selbstmord zu tarnen. Ein Beziehungsdrama konnte er für sich, angesichts dieser Tatsache ausschließen, denn die wurden im Raum Stuttgart und Umgebung meist mit Messer oder Pistole begangen. Im Rest von Deutschland wahrscheinlich auch. Das hieße im Umkehrschluss, dass jemand sehr viel Wert, über das gewöhnliche Maß hinaus, darauf gelegt hatte, nicht erkannt zu werden.
Die Schranke vor ihm schloss sich langsam und er musste anhalten. 50 Kilometer stand schon auf dem Tacho. Bei einer Zeit von 1:40h nicht schlecht. Er trank etwas und als die Schranke sich öffnete, gab er wieder Gas.
Frank hing dieser Theorie noch etwas nach. Irgendwie glaubte er Richard. Kein verlassenes Auto auf dem Parkplatz, die Möglichkeit die Brücke über den Hang, am Wald zu erreichen schied ebenfalls aus. Keine Papiere zur Identifikation. Alles schien, bei näherer Betrachtung, auf einen Mord hinauszulaufen. Blieb nur noch die Frage nach dem Warum. Und das war immer die Schwierigste.
Er hatte in der Zwischenzeit Romanshorn durchquert und näherte sich langsam, aber sicher der Grenze zu Österreich. Irgendwie fand er, dass es heute auf dem Rad gut für ihn lief. Sein Tacho zeigte bis jetzt einen Schnitt von Dreißig, obwohl er vom Gefühl her gemütlich unterwegs gewesen war. Wäre Richard nicht gekommen, so hätte er bestimmt die Strecke ins kleine Walsertal genommen, um sich dort eine Bleibe zum Übernachten zu suchen. Doch war der bestimmt schon in Konstanz aktiv und hielt, an der bei diesem Wetter gut besuchten Uferpromenade nach seinen, wie er es nannte, Häschen Ausschau.
Eigentlich wollte er den See ganz zu umrunden, was aber angesichts der Tatsache, dass er Richard versprochen hatte gegen sechs Uhr am Abend wieder da zu sein, zeitlich nicht mehr möglich war. Also entschied er sich in Friedrichshafen für die gemütlichere Variante, nahm die Fähre nach Konstanz und radelte von dort die restlichen Kilometer am Ufer entlang zurück zu seinem Domizil.
Frank kam zehn Minuten vor sechs Uhr bei sich zu Hause an. Von Richard fehlte jede Spur, was ihn aber nicht weiter störte, so konnte er in Ruhe duschen, sich frisch machen und noch ein Bierchen trinken. Er blickte auf seinen Tacho und war, angesichts der Leistung von über hundert gefahrenen Kilometern, zufrieden. Die Radtour hatte ihm geholfen einen klaren Kopf zu bekommen, er hatte eine Entscheidung getroffen, aber das würde er Richard aber erst später sagen.
Das warme Wasser seiner Duschbrause rieselte auf seinen verschwitzten Körper, während er in Gedanken versunken unter seiner Dusche stand. Erneut klingelte es. Wieder als er unter der Dusche stand. Jedes Mal dasselbe. Doch diesmal konnte es eigentlich nur Richard sein. Er band sich das Handtuch um die Hüfte und schlüpfte in seine Badelatschen. Als er die Tür aufmachte, staunte er nicht schlecht.
Davor stand, wie vermutet, Richard.
„Ich hab uns Unterstützung mitgebracht“, lachte er.
In der Tat, das musste man ihm lassen, er hatte Wort gehalten. Bei ihm standen zwei gut aussehende dunkelblonde Schönheiten die Frank, der nur mit Handtuch und Badelatschen bekleidet, von oben bis unten begehrlich anschauten. Sie mochten Anfang bis Mitte Dreißig sein. Also genau Richards Beuteschema. Auf jeden Fall machten sie auf ihn einen sympathischen Eindruck.
„Da hast du uns nicht zu viel versprochen“, lachte die eine, als sie Frank musterte.
„Radfahrer, nehme ich an“, sagte die andere, die etwas größer als Richard war und einen kurzen schwarzen Minirock trug. Sie hatte schulterlange Haare und blaue strahlende Augen, die Frank von oben bis unten scannten.
„Radfahrer. Richtig. Sorry, ich komme gerade von einer Tour und mein Freund hier hat die Angewohnheit, immer dann zu kommen, wenn ich gerade unter der Dusche stehe.“, sagte Frank, als er Richard einen gespielten bösen Blick zuwarf, entschuldigend.
„Also mir macht das nichts aus. Sieht auf jeden Fall nicht schlecht aus.“ Sie grinste frech.
„So junger Mann, jetzt zieh dich mal an, ich habe Hunger“, erwiderte Richard und klatschte in die Hände.
„Kommt kurz rein, macht euch was zu Trinken. Ich zieh mich kurz an.“
Frank spürte hinter seinem Rücken den Blick der Brünetten an sich entlang wandern. Er ließ sich nichts anmerken, sondern verschwand kurz, um sich anzuziehen.
„Ich heiße übrigens Sabine“, sagte die Brünette, als Frank angezogen im Wohnzimmer erschien. Richard hatte sich bei ihm in der Küche anscheinend schnell zurechtgefunden, denn es standen vier Espressotassen auf dem Couchtisch.
„Ich heiße Vanessa“, stellte sich die andere vor.
„Frank.“ Er reichte beiden zur Begrüßung noch mal die Hand. „Aber das wisst ihr bestimmt schon. Und glaubt nicht alles, was er euch über mich erzählt hat.“
Richard hob entschuldigend die Arme.
„Ich hab nur deine Radtouren erwähnt, da hat Sabine gesagt, dass sie auch gern solche ausgedehnten Ausfahrten macht und dich gern kennenlernen möchte. Vanessa liebt es, wie ich eher ruhig und gemütlich.“
Frank blickte zu Richard, dann zu Vanessa, die beide nebeneinander auf der Couch saßen, während Sabine im Stehen ihren Espresso trank.
„Ruhig und gemütlich. Du? Das lass ich so stehen. Wer morgens um sieben, unter seniler Bettflucht leidend, mehr als zehn Kilometer durch den Wald läuft, der ist für mich nicht ruhig und gemütlich,“ feixte er.
„Mal im Ernst, Frank. Machst du wirklich so große Touren?“ Sabines Blick war neugierig.
„Ja, ab und zu brauch ich das. Aber ich kann auch ruhig und gemütlich“, antwortete er lakonisch.
„Vielleicht können wir ja mal zusammen eine Tour machen. Ich habe auch ein Rennrad.“
„Ich wäre dabei“, sagte Frank. „Aber jetzt laufen wir erst einmal runter und gehen was Essen. Mein Bauch meldet sich.“
Sie saßen alle zusammen im Garten des Restaurants unter Kastanienbäumen, die reichlich Schatten vor der Sonne spendeten, und hatten viel zu lachen, als die beiden Kommissare Anekdoten aus ihrer gemeinsamen Dienstzeit erzählten. Es stellte sich im Laufe des Abends heraus, dass Vanessa und Sabine auch bei der Polizei arbeiteten, wobei Vanessa bei der Wasserschutzpolizei in Meersburg arbeitete und Sabine war Kommissaranwärterin bei der Polizei in Konstanz.
Frank hatte Richard auf dem Weg zur Traube gesagt, dass sie nicht über den Fall reden sollten. Als er dann wissen wollte, wie Frank sich entschieden hätte, verwies dieser auf den späteren Abend.
Es war bereits nach zehn Uhr, als sie wieder in Richtung Haus unterwegs waren. Die beiden Mädels schienen sich gut amüsiert zu haben, denn sie liefen beide Arm in Arm und kicherten dabei.
„Wie sieht´s aus? Hast du dich entschieden?“
„Ja. Die Entscheidung habe ich eigentlich schon heute Morgen getroffen, aber ich wollte sichergehen, dass sich nach dem Radfahren nichts mehr ändert.“
„Und?“
„Montag fangen wir an. Aber wenn der Fall gelöst ist, bin ich wieder weg. Und die Zeit häng ich hinten ran. Haben wir uns verstanden?“
Richard knuffte Frank am Oberarm.
„Du weißt nicht, was mir das bedeutet. Manfred und Walter werden sich bestimmt auch ein Loch in den Bauch freuen.“
„Wir wissen ja noch gar nicht mit Bestimmtheit, ob es Mord war. Wenn nicht, bin ich schneller wieder hier unten als ihr bis drei zählen könnt. Und du weißt, mit meiner Karre geht das.“
„Glaub mir. Spätestens am Montag weiß der Kollege aus der Rechtsmedizin, dass es Mord war.“
„Was machen eigentlich die Mädels?“
„Die haben ihr Auto hier geparkt. Ich denke, sie werden jetzt nach Hause fahren. Und ich wird es mir bei dir bequem machen.“ Er lachte.
Sabine gab Frank zum Abschied ihre Telefonnummer. Sie verabschiedeten sich, setzten sich beide in ihren VW Golf, und bedankten sich für den netten Abend.
„Die Sabine hat ein Auge auf dich geworfen“, konstatierte Richard fest, als die beiden winkend von Franks Hofeinfahrt in Richtung Konstanz davonfuhren.
„Ja, war ganz nett“, stellte er lässig fest. „Jetzt will ich aber erst mal ins Bett. Du solltest das ebenfalls tun.“
„Ich höre mich nicht Nein sagen.“
„Im Gästezimmer ist, glaube ich, alles da. Wo das Bad und die Küche sind, weißt du ja. Ich zieh mich jetzt zurück. Gute Nacht.“
„Ebenfalls gute Nacht. Und Danke, dass du mir helfen willst.“
„Wenn es was zum Helfen gibt“, sagte Frank, als er in sein Zimmer ging.
„Übrigens, ich hole morgen früh Brötchen. Willst du auch welche, oder isst du morgens immer noch nichts?“
„Ausnahmsweise kannst du für mich auch welche holen.“
Frank ging in sein Schlafzimmer, das im hinteren Teil des Hauses lag. Müde war er eigentlich schon, doch dann entschied er sich anders und holte sich in der Küche ein alkoholfreies Weizenbier, von dem er immer einen gewissen Vorrat im Kühlschrank hatte. Seiner Meinung nach war es das Beste, was es nach am Abend einer langen Radtour geben konnte.
Er verwarf seinen ursprünglichen Plan gleich, ins Bett zu gehen wieder, setzte sich auf seine Terrasse, schob den Stuhl unter seine Füße und blickte auf den See.
Es war eine milde Frühlingsnacht und, so schien es, der Sommer stand vor der Tür. Hatte er sich richtig entschieden? Beide waren Bauchmenschen, die auf jahrelange Polizeiarbeit zurückblicken konnten. Er fast zwanzig und Richard mittlerweile über dreißig Jahre. Frank ließ sich alles, was dieser ihm erzählt hatte, nochmals durch den Kopf gehen, doch auch jetzt kam zu demselben Schluss: Es musste Mord gewesen sein.
Das Bier ging langsam zur Neige, die nötige Bettschwere hatte nun eingesetzt, also ging er noch kurz duschen und schlief dann friedlich ein.
Am nächsten Morgen wachte Frank bereits gegen sieben Uhr morgens auf. Er setzte sich auf die Bettkante, schlurfte kurz danach direkt ins Bad. Er zog sich an und bereitete, während Richard noch den Schlaf der Gerechten schlief, auf der Terrasse alles für das Frühstück vor. Frank gehörte zu den Menschen, die morgens nicht sehr gesprächig waren. Früher im Büro konnte er außer guten Morgen keinen vollständigen Satz vor dem ersten Kaffee bilden.
Als er fertig war, grübelte er ob er denn nun mit Rad oder zu Fuß die Brötchen vom Bäcker holen sollte. Aus dem Gästezimmer war ein zufriedenes Grunzen zu hören, was bedeutete, das Richard noch schlief. Auch recht dachte er und entschied sich für die Laufvariante. Zu seinem Lieblingsbäcker waren es hin und zurück knapp zwei Kilometer was er bei guten Training, und Frank war fast immer bei gutem Training, in weniger als sechs Minuten schaffte. Natürlich musste man hier im Ort auch die Wartezeit, die aufgrund der hohen Rentnerdichte manchmal sehr lang werden konnte, mit einkalkulieren. Die Erbsenzählerinnen, wie er die Damen mit dem Kleingeld liebevoll nannte, waren aber um diese Zeit noch nicht da. Dafür ein jüngerer Herr, der ungefähr in Franks Alter war. Anscheinend ein Tourist.
„Guten Morgen Herr Jonas. Schon so früh auf den Beinen“, wurde Frank von der Bäckereiverkäuferin begrüßt. Cordula, so hieß die beleibte Dame Anfang fünfzig, war die gute Seele der Bäckerei. Ihre Stimme war zwar auf der Frequenz einer Verona Feldbusch, aber ansonsten war sie ihm gegenüber sehr freundlich und zuvorkommend.
Der Tourist vor Frank konnte sich nicht recht entscheiden, ob er nun Dinkel- oder Roggenbrötchen nehmen sollte. Als die Wahl dann auf die Roggenbrötchen fiel, war aber die gewünschte Anzahl, nämlich acht Stück, nicht vorhanden. Daher nahm er seine Bestellung zurück und entschied sich für die Dinkelbrötchen.
Fünf Minuten später kam dann auch Frank endlich an der Reihe. Er wusste, dass Richard gern Brezeln aß, daher bestellte er drei Stück, sowie zwei Dinkelbrötchen und zwei Roggenbrötchen.
„Haben Sie heute ganz schön Hunger, Herr Jonas.“
„Ich habe Besuch aus der Landeshauptstadt. Deswegen. Der Herr steht auf Brezeln. Und wir aus der Provinz wollen doch, dass es den Städtern an nichts fehlt.“
Cordula lachte, gab Frank die Brötchen und Brezeln und verabschiedete sich.
Drei Minuten später stand Frank wieder auf seiner Terrasse vor dem Haus und blickte auf den Untersee, wo bereits die ersten Sonnenstrahlen Sonne auf das Wasser schienen und die ersten Segelboote ihre Linien zogen.
Richard grunzte immer noch zufrieden vor sich hin. Frank, der die Kaffeemaschine angeschaltet hatte, bevor er losgelaufen war, nahm sich eine große Kaffeetasse mit der Aufschrift Cheftasse und goss sich den ersten Kaffee des Tages ein. Man konnte die Stille förmlich greifen, als er auf den See blickte, während seine Lebensgeister langsam erwachten. Die erste Tasse war immer die schönste, dachte er.
Ein paar Minuten später kam Richard angeschlurft und gähnte noch mal, als Ausdruck das er gut geschlafen hatte, genüsslich vor sich hin.
„So gut habe ich lange nicht geschlafen. Langsam versteh ich, warum es dir hier so gefällt.“
Frank, der seine erste Tasse bereits getrunken hatte, war nun mittlerweile in der Lage eine Konversation auf niedrigem Niveau zu führen.
„Freut mich. Du weißt, dass mein Haus für dich immer offen steht. Bedien dich.“
Er deutete auf den gedeckten Tisch auf dem neben Schinken, Salami und anderen Wurstsorten auch verschiedene Marmeladensorten standen.
„Frühstückst du immer so opulent?“
„Ja. Ich kann mich morgens nicht entscheiden, ob ich süß oder herzhaft essen will. Also stell ich immer beides raus.“
Richard griff wie erwartet zur Brezel und belegte sie mit einem herzhaften Stück Schwarzwälder Schinken.
„Der schmeckt gut“, sagte er mit vollem Mund.
„Ist direkt aus Blumberg. Von meiner letzten Radtour“, erwiderte Frank.
Er goss sich seine zweite Tasse Kaffee ein und schmierte sich ein Dinkelbrötchen mit Marmelade.
„Wie machen wir das eigentlich mit der Unterkunft, wenn ich in Stuttgart bin? Das wollte ich eigentlich schon gestern fragen, habe ich aber vergessen.“
„Du wohnst selbstverständlich bei mir. Ich habe noch meine drei Zimmer Wohnung in Stuttgart-Ost. Da kannst du schlafen. Die Couch ist eine bequeme Schlafcouch. Jedenfalls hat sich von den Mädels noch keine beschwert“, lachte er.
„Dann bin ich ja beruhigt. Am Wochenende fahr ich sowieso hierher. Den Abstand brauch ich.“
„Nichts dagegen“, erwiderte Richard. „Wenn du mich mitnimmst.“
„Weißt ja, du bist jederzeit willkommen. Die Frage ist nur ob dein Opel das überlebt. Scheint nicht mehr der Jüngste zu sein.“
Er blickte hinüber zur Garage, vor der Opel Astra Kombi in blaumetallic stand.
„Das funktioniert schon. Bis jetzt hat er mich überall hingebracht.“
„Und zurück?“, entgegnete Frank und lachte.
Nach dem sie ausgiebig gefrühstückt hatten, entschlossen sie sich den Weg Richtung Stuttgart anzutreten. Frank gab Herrn und Frau Häberle Bescheid, dass er die kommende Woche nicht da sein würde. Sie versprach geflissentlich sich um alles zu kümmern. Einzig Herr Häberle machte ein trauriges Gesicht, da er nun niemand hatte, zu dem er sich flüchten konnte, wenn mal wieder dicke Luft war oder unangenehme Arbeiten zu verrichten waren.
„So ich habe alles für die Woche. Du musst jetzt bloß noch deinen blauen Bock von meiner Garageneinfahrt wegfahren, damit ich raus kann“, frotzelte Frank.
„Ja, ja. Lach du nur.“
Richard stieg in seinen Kombi und startete den Motor. Doch es blieb zunächst nur beim Versuch. Auch der nächste und übernächste Versuch misslangen.
„So, so. Zuverlässig. Scheint nicht zu wollen, wie es aussieht“, stellte Frank lakonisch fest. „Nehmen wir meinen. Der ist bequemer und schneller.“
Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen und dem obligatorischen Blick unter die Kühlerhaube sah Richard endlich ein, dass er es heute nicht mehr zum Laufen brachte.
„Scheiß Karre“, fluchte er, trat selbigen gegen den linken Vorderreifen, was dem Auto nichts ausmachte und ihm eine blaue Zehe einbrachte.
Sie schoben das Auto beiseite. Frank öffnete seine Garage und startete seinen V8 Motor. Ein sonores Blubbern erklang.
„Einsteigen, anschnallen, los geht´s“, sagte er. Richard stieg ein und befand sich wie in einer anderen Welt. Die Sitze und der Dachhimmel waren mit Alcantara veredelt. Im Armaturenbrett war feinstes dunkles Wurzelholz verarbeitet und überall blitzten verchromte Applikation, die das ganze Auto in einem edlen Licht erscheinen ließen.
„Nicht von schlechten Eltern“, staunte Richard. „Sehr bequem die Sitze. Wie schnell fährt der?“
„Bis dreihundert auf jeden Fall“, betonte Frank. „Der letzte Neunelfer kam jedenfalls nicht vorbei.“
Sie bogen rechts auf die Straße nach Konstanz ab und er ließ den V8 aufdrehen. Zwanzig Minuten später erreichten sie die B33 und fuhren von dort auf die A81 Richtung Stuttgart. Aufgrund der Tatsache, dass es Sonntagvormittag war, hielt sich das Verkehrsaufkommen in erträglichen Grenzen. Richard sah die Landschaft an sich vorbeifliegen.
„Wie schnell fährst du gerade?“, wollte er wissen.
„Angenehme zweihundertzweiundvierzig.“
„Kommt mir vor wie hundertzwanzig.“
„Ja, das ist das Problem bei dem Wagen“, seufzte Frank. „Man sollte immer den Tacho im Auge behalten.“
Von hinten näherte sich mit hoher Geschwindigkeit ein BMW, der anscheinend nicht wusste, dass es sich bei seinem Kombi um einen Mercedes AMG E63S handelte. Im Rückspiegel erkannte er zwei junge Burschen mit Migrationshintergrund. Frank blickte auf seinen Tacho, der nun aufgrund der Verkehrslage nur noch hundertachtzig anzeigte.
Als die Straße vor ihm wieder frei wurde, drückte er augenblicklich das Gaspedal voll durch. Richard wurde von einer brachialen Gewalt in den Sitz gedrückt und der AMG zeigte nun sein wahres Gesicht. Auf den ersten zweihundert Metern konnte der BMW noch mithalten, doch als Frank die Marke von zweihundertfünfzig erreichte, mussten die beiden hinter ihm einsehen, dass es keinen Sinn hatte sich mit ihm anzulegen. Frank verlangsamte daraufhin seine Fahrt wieder und wechselte auf die rechte Spur.
„Mein lieber Scholli. Das ist ja eine Waffe. Sieht man dem Auto gar nicht an, das der so schnell ist. Und bequem ist der auch noch“, staunte Richard.
„Deswegen habe ich ihn ja. Es ist immer gut, bei Verfolgungsjagden ein schnelles Auto zu haben“, lachte er.
Sie erreichten Stuttgart nach knapp einer Stunde und fünfundvierzig Minuten. Ab da war es trotz des Wochenendes, oder vielleicht gerade deswegen, mit dem hohen Tempo vorbei. Richard hatte Frank gewarnt, ab Stuttgart–Vaihingen etwas vorsichtiger zu fahren, da überall an der Strecke teure Passbilder gemacht würden.
Richard wohnte im Stuttgarter Osten, genauer gesagt, im Buchwald, einer kleinen Anhöhe am Rand des Talkessels. Von seiner Terrasse konnte er freien Blick Richtung Stuttgart sehen. Im Rücken des Hauses befand sich in ungefähr zweihundert Metern Entfernung besagter Wald, dem der kleine Stadtteil seinen Namen zu verdanken hatte.
„Schön hast du es hier getroffen“, meinte Frank. „Und ruhig scheint es auch zu sein.“
„Ja. Ich kann nicht klagen. Du weißt, ich mag diesen Trubel da unten in der Stadt nicht.“ Er deutete mit seinem Kopf in Richtung Tal.
„Du kannst dich frisch machen, dann zeig ich dir dein Zimmer und danach gehen wir was Essen.“
„Sehr vernünftig.“
Nach dem Frank geduscht hatte, zeigte ihm Richard seine vorübergehende Bleibe. Diese befand sich am Ende des Flurs auf der rechten Seite und hatte ebenfalls einen Terrassenzugang, von dem aus er in dem nahe gelegenen Wald sehen konnte.
Die Couch empfand Frank als bequem, zumal er davon ausging, dass er nicht lange bleiben würde.
„So jetzt laufen wir ein paar Meter. Hier in der Nähe gibt es einen schönen Biergarten mit Blick auf das Neckartal“, sagte Richard und fügte hinzu: „Schließlich müssen wir ja auch was für das Essen tun.“
Frank war es recht. Die Autofahrt durch Stuttgart und die ihm endlos lange scheinenden Ampelphasen hatte ihr Übriges getan, sodass ein spät nachmittäglicher Spaziergang ihm guttat. Auf dem Weg zum Biergarten redeten beide nicht viel, sondern sinnierten vor sich hin.
Bald darauf, nachdem sie durch die angrenzenden Gärten und ein Stück Wald gelaufen waren, erreichten sie den Biergarten. Es war noch nicht viel los, also hatten sie freie Platzwahl und suchten sich ein schattiges Plätzchen unter dem Sonnenschirm aus. Sie gaben der Bedienung ihre kulinarischen Wünsche mit auf den Weg, danach lehnte Frank sich zurück und streckte seine Glieder von sich.
„So lässt es sich aushalten.“
„Stimmt. Ich bin ab und zu hier, wenn ich abends zu faul zum Kochen bin. Früher war ich oft mit meiner Frau hier.“
Es schwang etwas Traurigkeit in seiner Stimme mit und obwohl Frank neugierig war, stellte er keine Fragen.
„Heute Abend können wir uns den Tatort reinziehen“, meinte er, um vom Thema abzulenken.
„Das klingt gut. Etwas Berieselung kann nicht schaden. Mal sehen welche Ermittlungsfehler die beiden Kommissare heute wieder machen. Morgen bin ich gespannt, was unser Walter wegen der Toten sagt. Er ist ja wie Manfred immer noch der Meinung, dass es ein Selbstmord war.“
„Jetzt denk nicht so viel nach. Das wird sich schon klären. Ich bin deiner Meinung, zumindest was die erste Einschätzung betrifft. Der Fundort ist schon merkwürdig. Das ist zumindest ein Indiz in Richtung Mord. Nicht mehr und nicht weniger. Schau jetzt kommt das leckere Essen.“
Die Bedienung servierte für Richard einen großen Teller mit Maultaschen und Kartoffelsalat. Frank hatte sich ein Cordon bleu bestellt und war wegen der Größe angenehm überrascht.
„Die scheinen zu wissen, das wir Hunger haben“, freute er sich.
Nach dem Essen trank Frank, um die zugegebenermaßen üppige Portion, die er mit Müh und Not geschafft hatte, noch einen Kaffee zum Verdauen. Richard lehnte mit der Begründung auf seinen empfindlichen Magen und die fortgeschrittene Stunde, es war kurz nach zwei Uhr am Nachmittag, ab.
Nach einem Waldspaziergang saßen beide später am Abend im Wohnzimmer. Richard hatte zwei Liegesessel und einen großen Flachbildschirm an der Wand. Die Sonne ging bereits hinter den Weinbergen unter, als die bekannte Tatortmelodie erklang. Es wurde ein gemütlicher Fernsehabend mit mehreren Flaschen Weißbier und einer halben Flasche Rotwein, die nach Richards Meinung noch geleert werden musste. Dazu diskutierte man über die diversen Ermittlungsmethoden der beiden Kommissare aus dem Tatort, die zufälligerweise am Bodensee ermittelten.
„Ich geh jetzt ins Bett. War anstrengend heute“, sagte Frank. Er war tatsächlich müde. Viel hatte er zwar heute nicht gemacht, aber es zog ihm beim Tatort immer die Augen zu. Kurz darauf verschwand jeder in seinem Zimmer und bald darauf kehrte Ruhe ein.