Читать книгу Die Rotenbergverschwörung - Hendrik Scheunert - Страница 4

Kapitel 1

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...„Like Frankie said: ´I did it my way! `. Langsam wachte er auf, als ein amerikanischer Rocksänger ihn aus dem Radio rief, obwohl er ja eigentlich mit vollem Namen Frank Jonas hieß, doch in diesem Moment machte das den Radiowecker auch nicht leiser.

Irgendwie schaffte er es, sich aufzurichten, doch als er seinen Kopf in die Höhe richtete, fuhr es ihm durch und durch. Frank schaute auf die Uhr: Gerade mal fünf Stunden hatte er geschlafen, nachdem er den gestrigen Abend mit ein paar Freunden die Straße runter im Biergarten verbracht hatte. Leider war es nicht nur bei dem Radler geblieben, und das obwohl er heute mit seinem Rad noch auf den Säntis, einer bei Radlern und Motorradfahrern gleichermaßen beliebte Strecke durch das Appenzeller Land, fahren wollte. Eine Tour von insgesamt fast zweihundert Kilometern.

Mühsam quälte er sich aus dem Bett, schlurfte den immer länger werdenden Weg ins Bad, und stellte sich vor den Spiegel. Sein Gesicht war zwar unrasiert, aber mit seinen dreiundvierzig Jahren hatte er sich ganz passabel gehalten, denn man sah ihm sein Alter nicht an.

Sehr lange Radtouren mit ein paar Freunden, die zum einem, wie er selbst, auch nicht mehr arbeiten mussten, oder wollten und zum anderen noch rüstige Rentner waren, hatten einen nicht zu unterschätzenden Anteil an seiner Kondition und seinem Aussehen. Und das obwohl er eigentlich als uneitel galt.

Er drehte das Wasser auf, um zu duschen. Dabei prüfte er mit der rechten Hand äußerst penibel die Temperatur. Nur nicht zu kalt. Als die für ihn annehmbare Temperatur erreicht war, stellte er sich unter den lauwarmen Strahl.

Kurz nachdem er sich unter die Dusche gestellt hatte, klingelte das Telefon. Frank drehte das Wasser ab, zog sich seinen Morgenmantel über, lief ins Wohnzimmer, um den Hörer abzunehmen, doch der Unbekannte am anderen Ende der Leitung hatte bereits aufgelegt. „Arschloch“, entfuhr es ihm.

Er zog sich an, machte sich einen Kaffee und setzte sich auf seine Terrasse, um den Blick auf den Bodensee zu genießen. Die Sonne schien, trotz der Jahreszeit schon sehr kräftig, was aber in den Gefilden rund um den See keine Seltenheit war. Das Wetter versprach für heute ideale Bedingen, sodass der ausgedehnten Radtour nichts mehr im Weg stand. Während er seinen Gedanken nachhing, hörte er hinter dem Haus die Stimme seiner Mieterin. „Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Jonas. Man sieht sie kaum noch. Na ja, bei dem schönen Wetter sind sie bestimmt auch viel unterwegs.“

Er mochte es morgens eigentlich nicht, sich mit jemanden zu unterhalten, denn ansprechbar war Frank prinzipiell erst nach dem ersten Kaffee und den war er gerade dabei zu trinken.

„Haben sie schon gehört? Gestern ist wieder jemand aus Verzweiflung von der Aichtal Brücke in der Nähe von Stuttgart gesprungen.“

Frank nahm es zur Kenntnis, doch eigentlich war es ihm egal, was derzeit in Stuttgart passierte. Man genoss den neuen Alltag hier am Bodensee, oder wie die Einheimischen ihn liebevoll nannten, Schwäbisches Meer. Er schon hatte bemerkt, ja befürchtet, dass sie nur versuchte, ihm das morgendliche Gespräch aufzuzwingen, doch irgendwie war ihm nicht danach zumute.

Das ältere Ehepaar, Herr und Frau Häberle, kümmerte sich auch um seinen Garten, wenn er mal nicht da war, was früher aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in Stuttgart, öfters der Fall war. Mit ihren 68 Jahren waren beide noch sehr rüstig. Herr Häberle fuhr ab und an mit ihm eine Runde auf dem Fahrrad. Meist dann, um dem gefürchtetem Mundwerk seiner Gattin zu entgehen, welches allseits bekannt und gefürchtet war. Besagte Frau Häberle war zwar eine nett, hatte aber eine ziemlich schrille Tonlage in der Stimme, die bei Bedarf sicher auch Glas zum Bersten bringen konnte und wusste über alles in und um Öhningen Bescheid.

Höflich, aber bestimmt sagte er: „Tut mir leid, dass ich mich heute Morgen nicht mit ihnen unterhalten kann, aber ich bin spät dran. Ich mache heute eine etwas größere Radtour und muss langsam losfahren. Also dann bis heute Abend.“

Sprachs, verschwand wieder in seiner Wohnung, um sich fertigzumachen, und saß wenig später auf seinem Carbon Rennrad. In der Regel brauchte Frank zwischen zehn und fünfzehn Kilometer auf dem Rad, um in Gang zu kommen. So dachte er zumindest.

Doch daraus wurde nichts.

Gerade als er im Begriff war loszudüsen, hörte er hinter seinem Rücken erneut eine Stimme, männlich, die ihm irgendwie bekannt vorkam. „Einen wunderschönen guten Morgen Frank. Wie ich sehe, hat sich an der Leidenschaft fürs Radfahren nichts geändert.“

Frank drehte sich um. Da stand er. Richard Bauer. Seines Zeichens Kriminalhauptkommissar bei der Kriminaldirektion eins Stuttgart. Abteilung Kapitalverbrechen.

„Schön dich zu sehen. Bist du noch nicht im Ruhestand“, grinste er ihn schelmisch an.

„Tja. Du weißt, wie das so ist. Ein paar Jahre hab ich noch vor mir.“

Frank musste schmunzeln. Lange hatten die beiden zusammengearbeitet.

Doch nach dem letzten Fall, den die beiden gelöst hatten, kam es dann zum großen Knall.

Beide konnten, nach langen und schwierigen Ermittlungen, einen gesuchten Serienmörder überführen, doch auf der Pressekonferenz nahm der Chef von Richard und Frank, Kriminaldirektor Hans-Jürgen Engler, plötzlich für sich in Anspruch, den Fall im Alleingang unter seiner tatkräftigen Unterstützung gelöst zu haben und ließ die beiden wie dumme Jungs dastehen. Das nahm Frank zum Anlass, seinen Job als Kriminalhauptkommissar vorerst an den Nagel zu hängen. Auszeit halt.

Sein Chef, Hans-Jürgen Engler, war darüber mehr als verärgert. Den Hinweis mit dem Verdienstausfall konterte Frank damit, dass er sich darum keine Sorgen machen müsste.

„Es scheint dir ja an nichts zu fehlen“, meinte Richard Bauer.

„Wie du siehst, geht das ganz einfach“, erwiderte Frank mit einem Grinsen im Gesicht.

„Das sehe ich. Darf ich fragen, wie du das angestellt hast. Vielleicht kann ich mir da noch was abschauen.“

Frank schwieg eine Weile.

„Man könnte es als Glückssträhne bezeichnen, die Tatsache das ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Aber deswegen bist du doch nicht die zweihundert Kilometer von Stuttgart zu mir an den Bodensee gefahren.“

„Ich sehe, dein Verstand arbeitet immer noch mit. Hast du einen Moment Zeit, oder brennst du schon?“ Richard sah auf Franks Rennrad.

„Einem alten Kollegen wie dir leihe ich immer ein Ohr.“

Er stellte sein Rad wieder an den Rand der Terrasse und bedeutete Richard sich mit ihm an den Tisch zu setzen, während die Sonne derweil immer stärker auf den See schien.

Als Richard Platz genommen hatte, schenkte ihm Frank einen Kaffee ein.

„So, genieß den Kaffee.“

„Es stimmt also doch, was man sich so erzählt. Du hast wirklich keine Geldprobleme.“

Frank nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und schaute Richard in die Augen, ohne auf dessen Kommentar weiter einzugehen.

„Also alter Junge. Schieß los. Weiß dein Chef davon, dass du hier bist?“

Richard lächelte und antwortete süffisant: „Der ist momentan mehr auf Schulungen als im Büro. Und darüber sind die wenigsten unglücklich. Ich habe ihn das letzte Mal vor vier Wochen gesehen. Seitdem düst er von einer Schulung zur nächsten. Vielleicht will er in seinem Alter noch Karriere machen und uns verlassen. Im Osten von Deutschland suchen sie händeringend nach leitenden Angestellten.“

Frank verzog keine Miene, aber er spürte die innere Unruhe in sich aufsteigen, wenn er nur an diese Person denken musste.

„Ich hoffe, das funktioniert. Aber deswegen besteht für mich noch lange kein Grund nach Stuttgart zurückzukehren.“

Richard rührte langsam in seiner Kaffeetasse, blickte dabei etwas abwesend von der Terrasse hinunter auf das Wasser.

„Also warum bist du zu mir gekommen, Richard.“

Dieser lehnte sich zurück und ließ eine Weile in Stille verstreichen.

„Du hast recht. Mich beschäftigt etwas. Und ich brauche dazu deine Hilfe. Einfach deswegen, weil ich eine unabhängige Meinung brauche. Es geht um einen Selbstmord.“

„Einen Selbstmord? Und dafür brauchst du meine Meinung?“ Frank schaute ihn ungläubig an. „Was für einen Selbstmord?“

„Eine Frau, Anfang bis Mitte Dreißig, schätzen wir. Sie hatte keine Papiere dabei“, antwortete Richard nur.

„Aber das allein wird nicht der Grund sein. Also erzähl mir von Anfang an, was dich so zum Zweifeln bringt, dass du mich hier aufsuchst.“ Er machte eine kurze Pause und zog sich demonstrativ sein Fahrradtrikot zurecht.

Richard schaute ihn an. „Hör dir erst mal an, was ich zu sagen habe. Dann entscheidest du. Ich verstehe, dass du nichts mehr mit denen zu tun haben willst. Mir geht es genauso, doch leider habe ich nicht den Luxus mich so frei zu entscheiden wie du.“

„Gut. Ich höre.“

Rückblende: Freitag 27.04.

Richard kam um 7:30 im Büro der Kriminaldirektion eins in Stuttgart an. Nach der Begrüßung mit seinen Kollegen und dem üblichen Small Talk setzte er sich, mit einer Tasse frischen Cappuccino, die er sich aus dem Automaten rausgelassen hatte, an seinen Schreibtisch und ließ den Computer hochfahren, als das Telefon klingelte.

„Hauptkommissar Richard Bauer, Kriminaldirektion eins, Kapitalverbrechen.“

„Polizeiobermeister Konrad Rumminger, Polizeidirektion Filderstadt. Wir haben eine Tote unterhalb der Aichtal Brücke gefunden. Könntet ihr vorbeikommen und euch das ganze ansehen?“

„Wir machen uns auf den Weg. Aber das kann dauern. Sie wissen ja, was rund um Stuttgart gerade los ist.“

„Wir warten. Die Tote läuft ja nicht weg“, gab er ungerührt zurück.

Richard leitete alles in die Wege und rief dann zu seinem Kollegen: „Manfred, hast du Lust auf einen Ausflug ins Siebenmühlental?“

Manfred Gühring war ein durchtrainierter Kripobeamter, Ende vierzig, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging und sich mit Boxtraining fit hielt. Seine massige Figur wurde von seiner Glatze auf dem Kopf noch unterstützt. Richard hatte ihn den Spitznamen Schwaben Tyson verpasst.

Manfred lugte durch die Tür ins Büro.

„Alles ist besser, als hier Akten zu sichten. Was gibt’s denn?“

„Eine Frau ist von der Aichtal Brücke gesprungen. Keine große Sache, aber die von der Polizeidirektion Filderstadt meinten, wir solltens uns anschauen.“

„Gut. Fahren wir.“

Wie erwartet war der Verkehr Richtung Aichtal zähflüssig, sodass es fast anderthalb Stunden dauerte, bis sie endlich ankamen. Als sie aus dem Auto ausstiegen, mussten sie, sehr zum Unbill von Richard feststellen, dass es weitere zehn Minuten zu Fuß bis zum Auffindeort der Leiche waren. Begleitet wurden sie dabei von dem Polizeibeamten, der sich als Konrad Rumminger vorstellte und am Parkplatz auf sie gewartet hatte.

Endlich waren sie da, sahen, dass die Spurensicherung bereits ihre Ausrüstung auspackte.

„Wie seid ihr denn so schnell hergekommen?“, wollte Richard wissen.

„Wir sind über Degerloch und die B27 gefahren. Ging relativ flott. Ihr seid, nehme ich an, über die B10 gefahren.“

„Ja.“ Richard ärgerte sich, dass er nicht auch auf diese Idee gekommen war.

„Und wo liegt die Leiche?“, wollte Manfred wissen.

„Zwanzig Meter geradeaus. Habt ihr schon gefrühstückt? Sieht nicht schön aus. Ist auf dem Weg gelandet und nicht im Gras.“

„Egal. Tot ist tot.“ Richard ging in Richtung der Leiche und schaute dabei nach oben. Direkt vor ihm wuchsen die Pfeiler der über fünfzig Meter hohen Aichtal Brücke in die Höhe. Links vom Weg erstreckte sich der Wald bis zum Fahrbahnrand der Brücke. Als er wieder nach unten schaute, standen beide direkt vor der Leiche und waren bei deren Anblick mehr als erschüttert. Die Tote sah weit schlimmer aus, als von der Spurensicherung geschildert. Aus ihrem Kopf, oder das was davon übrig war, lief eine weiße Masse und der Körper war unnatürlich verrenkt.

Manfred ging dennoch in die Knie, um sich die Tote näher anzuschauen.

„Weiß man schon, wer die Person ist?“

Polizeiobermeister Konrad Rumminger stand hinter ihm.

„Noch nicht. Sie hatte keine Papiere und kein Handy bei sich. Das macht die Sache nicht einfacher.“

Richard seufzte und gab dem Beamten innerlich recht. Eine Tote ohne Papiere bedeutete in der Regel ein erhebliches mehr an Arbeit. Er ging einige Schritte zurück und blickte abermalig nach oben, wobei er die Arme vor seinem Brustkorb verschränkte und nachdachte. Sein Blick wechselte von der einen Kilometer langen Fahrbahn, die über das Tal führte, wieder nach unten zu der Leiche und erneut nach oben.

„Was guckst du dauernd nach oben?“, wollte Manfred von ihm wissen, nachdem er die Leiche in Augenschein genommen hatte.

„Weiß nicht. Irgendwas in meiner Bauchgegend sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Ich kann nur nicht einordnen, was es ist?“

„Liegt es vielleicht daran, dass du noch nicht gefrühstückt hast?“, hakte Manfred nach?

„Ich weiß es nicht.“

Richard ging wieder zu Rumminger, der etwas abseits stand, wahrscheinlich um den Ermittlern nicht im Weg zu sein, und vermerkte etwas in sein Notizbuch.

„Wer hat die Tote gefunden?“

Er deutete, ohne von seinem Notizbuch aufzuschauen, mit dem Kopf nach hinten.

„Die Frau, da hinten, mit dem Hund hat die Leiche gefunden. Ist aber gerade nicht vernehmungsfähig. Schock, verstehen sie?“

Richard blickte in die Richtung, wo die Frau mit ihrem Labrador auf einem Baumstamm saß und ins Leere blickte.

„Hat die Frau oder der Hund etwas angefasst, oder verändert?“

„Nein.“

Das war für Richard sehr wichtig, da die Spurensicherung am Tatort die Spuren zuordnen musste.

Manfred ging langsam zu der Frau, kniete vor dem Hund, der seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten gelegt hatte, und ebenfalls ins Leere stierte.

Sie saß auf einen Baumstamm und wirkte, wie konnte es nach diesem Ereignis auch anders sein, irgendwie abwesend.

„Einen schönen Hund haben sie da.“

„Danke.“ Die Frau hatte dunkle, braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.

„Meinen Sie, sie könnten mir ein paar Fragen beantworten? Oder ist es gerade etwas schlecht?“

Man hatte der Frau bereits einen Becher mit Kaffee gegeben, den sie nun mit ihren beiden Händen festumschlossen hielt.

„Geht schon“, sagte sie, ohne Manfred anzuschauen. „Was wollen sie wissen? Viel kann ich ihnen nicht sagen.“

Er wandte sich ihr zu, sodass beide auf Augenhöhe waren. Der Blick der Frau wanderte nun zu Manfreds braunen Augen.

„Wann haben sie die Frau gefunden?“, wollte Manfred wissen?

„Gegen halb sieben. Ich geh morgens vor der Arbeit immer noch einer Runde mit dem Hund spazieren.“

„Kannten sie die Tote?“

Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Manfred wusste, dass es jetzt keinen Sinn mehr machte, weitere Fragen zu stellen.

„Nehmen sie sich heute frei und gehen sie nach Hause. Wenn etwas sein sollte, melden wir uns.“

Er drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand.

Die Frau schien erleichtert, stand auf, wobei es der Hund ihr gleich tat, und beide entfernten sich langsam. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um, winkte ihm zu. Dann ging sie.

Manfred lief zurück zu Richard und Rumminger.

„Und? Hast du was rausbekommen?“, wollte Richard wissen.

„Nicht viel. Aber das war im Moment auch nicht möglich. Sie steht neben sich. Versuchen wir es später bei ihr. Sie hat nur gesagt, dass sie die Tote heute Morgen um halb sieben gefunden hat. Und gekannt oder gesehen hat sie das Mädchen auch noch nicht. Aber in dem Zustand würde ich auch niemanden erkennen.“

„Ich frag mal drüben nach, ob die schon was sagen können“, sagte Richard.

Walter Riegelgraf, Leiter der Rechtsmedizin Stuttgart hatte bereits mit der Untersuchung der Leiche begonnen, als Richard zu ihm kam. Er war Mitte vierzig und bis auf seinen Bauch recht schlank. Richard zog ihn deswegen beim Mittagessen in der Kantine immer wieder auf, was seinerseits dann meist zu verbalen Diskussionen führte, die bei den Kollegen für feuchte Augen sorgten.

Er kniete über der Leiche und begutachtete sie.

„Selbstmord würde ich auf den ersten Blick sagen. Sie war sofort tot. Aber das ist kein Wunder, bei einer Aufprallgeschwindigkeit von mindestens 150 Kilometer pro Stunde“, meinte Walter Riegelgraf, noch bevor Richard etwas sagen konnte.

„Todeszeitpunkt? Ungefähr?“

„Circa vor sechs Stunden.“ Er blickte auf seine Uhr. „Also gegen drei Uhr heute Morgen.“

„Hmm“, machte Richard.

Walter Riegelgraf drehte sich um und blickte zu ihm hoch.

„Dein `Hmm` gefällt mir nicht. Das klingt für mich nach mehr Arbeit.“

„Die Uhrzeit macht mich stutzig. Drei Uhr heute Morgen?“

„Plus minus, eine halbe Stunde. Das ist, was ich, Stand jetzt, sagen kann. Wegen der Uhrzeit willst du doch jetzt keinen Aufstand machen, oder?“

„Nein, nein. Ich versteh bloß nicht, warum sich jemand morgens um drei Uhr die Mühe macht hier runter zu springen.“

„Selbstmörder sind auch nicht zu verstehen, deswegen machen sie in der Regel so etwas. Wenn man von da oben runter springt und hier unten aufschlägt, ist es ziemlich sicher, dass du tot bist und die Uhrzeit ist dann auch egal. Ich kenne jedenfalls niemanden, der einen Sprung aus fünfzig Metern Höhe überlebt hat.“

Walter Riegelgraf hatte recht. Und doch, die Unruhe in Richard wurde immer stärker, denn er war sich sicher, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

Manfred kam dazu.

„Was hast du denn?“

„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass hier mehr dahintersteckt.“

„Leider kann man mit Bauchgefühl nicht ermitteln.“

Richard deutete Manfred an, nach oben zu schauen.

„Siehst du das? Von dort oben ist sie runtergesprungen.“

Manfred sah Richard etwas ungläubig an.

„Sicher. Flugzeug scheidet aus. Sonst wäre sie nicht hier gelandet. Was willst du mir damit sagen?“

„So wie sie hier liegt, ist sie von der Seite gesprungen, die Richtung Stuttgart führt.“

„Und?“

„Mann, bist du begriffsstutzig“, maulte Richard. „Die Frau ist vom Brückenanfang gesprungen. Das macht irgendwie keinen Sinn. Wie kommt sie dahin? In der Regel nimmt sie doch ein Auto, stellt es auf den Parkplatz am anderen Ende der Brücke und springt dort runter.“

„Und das lässt dich zweifeln?“ Manfred konnte mit der Theorie von Richard überhaupt nichts anfangen.

„Sei mir nicht bös. Aber um mich zu überzeugen, musst du schon ein bisschen mehr aufbieten.“

„Gut. Lass uns um das Mittagessen wetten. Wir werden da oben kein Auto finden, das zu der Frau passt. Nicht auf dem Parkplatz und auch sonst nicht.“

„Na das allein ist noch kein Grund zu wetten. Vielleicht ist sie ja zu Fuß da hoch.“ Manfred sah sich um. „Wahrscheinlich durch den Wald und dann oben über die Absperrung.“

Richard sah zu Walter Riegelgraf.

„Walter, kurze Frage: Hast du an den Schuhen der Toten irgendwelche Reste von Waldboden feststellen können?“

Walter Riegelgraf setzte seine Brille auf und sah sich die Sohle der Schuhe an. Nach erfolgter Überprüfung schaute er Richard und Manfred durch die Gläser nach oben und sagte: „Auf den ersten Blick, nein. Die Schuhe sind, soweit ich sehen kann, zwar abgelaufen, haben aber keine Erde an der Sohle. Und was das Mittagessen angeht, ich wette mit.“

„Den Salat, den du immer isst, verkrafte ich auch noch. Aber ich denke, das wird für euch beide teuer. Zwei Mittagessen für mich.“

Richard rieb sich in froher Erwartung die Hände und blickte zu Manfred.

„Deine Theorie scheidet schon mal aus. Ich sehe das Mittagessen.“

„Darf ich mal fragen, auf was das hier eigentlich rausläuft, nur der Form halber.“, wollte Walter Riegelgraf wissen.

„Richard hat Zweifel an der Selbstmordtheorie“, erwiderte Manfred.

„Ah so. So ganz unrecht hat er nicht. Der Auffindeort ist in der Tat etwas ungewöhnlich. Muss ich zugeben. In der Regel springen die meisten weiter drüben von der Brücke. Aber das schließt den Selbstmord nicht aus. Näheres kann ich aber erst nach der Obduktion sagen.“

Manfred verdrehte die Augen, die Antwort des Rechtsmediziners hatte ihn nicht befriedigt, und er entfernte sich von den beiden.

Walter Riegelgraf ging zu Richard, nach dem er fürs Erste mit der Leiche fertig war und diese sich in einem grauen Plastiksarg auf dem Weg in die Gerichtsmedizin befand, zog seine Handschuhe aus und blickte ihn an.

„Mich würde jetzt schon ernsthaft interessieren, warum du an einem Selbstmord zweifelst. Nicht wegen dem Mittagessen.“ Er hob entschuldigend die Arme. „Aber rein der Neugierde wegen. Habt ihr gerade nichts zu tun bei der Mordkommission, oder was?“

„Darum geht es nicht. Ich bin jetzt fast vierzig Jahre hier dabei, ich denke, dass ich einen Selbstmord von einem Mord unterscheiden kann.“

Er zeigt mit dem Finger auf den Auffindeort der Leiche, wo sich jetzt nur noch ein großer Blutfleck befand. „Und das ist für mich kein Selbstmord.“ Richards Antwort kam überzeugend.

„Ich meine ja nur. Du bist hier so ziemlich der Einzige, der das glaubt. Manfred scheint ebenfalls davon auszugehen, dass es Selbstmord war. Einer, der dir immer geglaubt hat, war Frank. Aber der hat seine Auszeit. Der Glückliche.“ Walter Riegelgraf seufzte bedrückt. Frank Jonas wurde bei der Truppe um Manfred, Richard und ihm vermisst. Sein bissiger, zuweilen sarkastischer Humor und die Art, an Dinge heranzugehen, fehlte.

Richard legte die Hand auf die Schulter von Walter Riegelgraf.

„Schau bei der Obduktion bitte etwas genauer hin. Ich bin sicher, dass du was findest. Und dann ruf mich bitte direkt an.“

„Werde ich machen. Genau hingucken und dich persönlich anrufen. Aber heute wird das nichts mehr. Montag frühestens.“

„Montag?“

„Ja. Es gibt Leute wie mich, die sind Beamte und haben Samstag und Sonntag in der Regel frei. Solange kein Mord vorliegt. Das ist hier auf den ersten Blick nicht der Fall. Und da kannst du jetzt wegen mir einen Handstand machen und mit den Ohren wackeln. Montag. Keine Diskussion. Ich muss am Wochenende mit meiner Frau aufs Stückle (schwäbisch für Garten) und Rasen mähen.“

Richard wusste, das war das letzte Wort von Walter Riegelgraf, also musste er sich, wohl oder übel, bis Montag gedulden. Er ging zu Manfred.

„Lass uns oben auf dem Parkplatz mal schauen, ob wir ein Fahrzeug finden, das auf die Person passen könnte.“

„Gute Idee. Vielleicht bringt dich das von deiner Mordtheorie endlich ab“, erwiderte er und machte sich auf dem Weg zum Auto.

Sie fuhren zurück nach Aichtal, von dort über Schlaitdorf und Häslach nach Waldorf, um auf die B27 zu gelangen, die über die Aichtal Brücke führte. Nachdem sie diese überquert hatten, kam nicht allzu weit entfernt, der Parkplatz, auf den sie rausfuhren.

„So, dann wollen wir mal.“

Sie hielten, stiegen aus und schauten sich um. Es standen genau drei Autos sowie ein großer LKW mit polnischem Kennzeichen auf dem Parkplatz.

„Teilen wir uns auf, Richard. Ich übernehme den LKW-Fahrer, du machst zu den drei Autos eine Halterabfrage.“

„In Ordnung.“ Richard kam es gelegen im Moment nicht mit jemand reden zu müssen. Der einzige mit dem er sich, wie er es zu sagen pflegte, auf seinem Niveau unterhalten konnte, war Frank, doch dieser lag wahrscheinlich unten in seinem Haus am Bodensee noch im Bett, machte um diese Uhrzeit Frühstück, oder, und das war am Naheliegendsten, fuhr mit dem Fahrrad in den Bergen.

Manfred klopfte an die Fahrertür des LKW. Nichts rührte sich. Nach einer Weile probierte er es noch einmal und klopfte etwas stärker, als sich im Inneren des LKW etwas zu bewegen schien. Der Vorhang, der die Scheiben verdunkelte, wurde beiseitegeschoben und ein Mann, unrasiert, um die fünfzig Jahren lugte, mit müdem Blick aus der Fahrerkabine.

„Was du wolle? Ist früh. Muss schlafen und dann fahren.“

„Ich habe nur ein paar kurze Fragen“, erwiderte Manfred. „Geht schnell.“

„Keine Zeit.“

Manfred wurde langsam ungehalten, unter anderem auch weil ihm der Nacken vom Hochschauen wehtat.

„Doch, sie haben jetzt Zeit“, sagte er mit Nachdruck. „Je eher sie meine Fragen beantworten, desto früher können sie weiterschlafen.“

„Bist du Polizei, oder was?“ Der LKW-Fahrer schaute Manfred neugierig an. Dieser hielt ihm seinen Ausweis entgegen, womit die Frage des LKW Fahrers hinlänglich beantwortet schien.

„Also gut. Aber schnell machen. Muss wieder schlafen.“

Er kletterte aus seiner Fahrerkabine, was Manfred dankend zur Kenntnis nahm, da er seinen Nacken nun wieder entspannen konnte.

„Wie lange stehen sie schon hier?“

„Seit gestern Nacht. War schon zwölf Uhr nachts vorbei. Lenkzeit, verstehst du?“

„Haben sie heute Nacht etwas gesehen, oder gehört?“

Der LKW-Fahrer überlegte eine Weile, kratzte sich dabei an seinem unrasierten Kinn.

„Eigentlich nicht“, begann er, hielt dann aber kurz inne. „Nur heute Nacht kurzer Schrei von einer Frau. Bin aber nicht sicher. Vielleicht geträumt.“

Er lachte kurz.

„Wann war das ungefähr?“, hakte Manfred nach.

„Drei Uhr so ungefähr. Glaube ich.“

Das würde sich mit dem Todeszeitpunkt, den Walter Riegelgraf vermutet hatte, decken, dachte Manfred.

„Später jemand auf dem Parkplatz geredet. Nix verstanden. Deutsch nicht so gut. Aber dann fünf Minuten war Ruhe. Bis jetzt.“

„Alles klar, das war es erst einmal. Ich brauche noch ihre Daten, falls wir noch Fragen haben.“

Der Mann gab ihm seinen Ausweis. Er hieß Jaroslaw Grochol und kam aus Warschau.

Manfred verabschiedete sich und ging zu Richard zurück.

„Und?“

„Keiner der Halter kommt in Frage.“

„Kann es sein, dass sie sich das Auto von jemanden geliehen hat?“

Richard überlegte.

„Möglich wäre das schon. Wir müssten halt jemanden hinschicken, der die Halter befragt und vielleicht lässt sich dadurch auch die Identität der Frau feststellen. Kam bei dir was Brauchbares raus?“

Manfred erzählte ihm von der Aussage des LKW-Fahrers.

„Glaubst du mir jetzt wenigstens?“

„Ich muss zugeben, dass die Ereignisse in der Tat etwas merkwürdig sind. Aber es weist noch nichts auf einen Mord hin.“

„Also nachdem was der Fahrer erzählt hat, könnte ich mir schon vorstellen, dass ein Mord in Frage kommt“, widersprach Richard.

Sie gingen beide zurück zum Auto. An der viel befahrenen Bundesstraße rauschten die Fahrzeuge im Sekundentakt vorbei. Richard nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schnallte sich pflichtgemäß an.

„Frank fehlt.“

Manfred drehte sich zu ihm um.

„Stimmt. Irgendwie schon. Aber wenn er jetzt da wäre, würden wir nicht hier sein.“

„Wieso?“

„Es ist Zeit zum Mittagessen.“

„Lass mich nur noch schnell die Sache mit den Haltern klären. Das können die von der Streife übernehmen.“

Richard nahm sein Smartphone und tippte umständlich darauf rum. Trotz der vielen Vorteile, die dieses Gerät ihm bot, konnte er sich nicht damit anfreunden. Er und sein Smartphone würden in absehbarer Zeit keine Freunde werden.

Manfred sah dem Treiben belustigt zu, hatte ein Einsehen und wählte dann über das Autotelefon die Nummer der Polizeidirektion Filderstadt. Da alle Fahrzeuge ein Esslinger Kennzeichen hatten, war dies die einfachste Methode.

Nach dem Manfred die Sache mit der Halterabfrage geklärt und Richard bei seinem Smartphone aufgegeben hatte, fuhren sie wieder auf die Bundesstraße 27 in Richtung Stuttgart. Der Verkehr lief flüssig, was um die Zeit aber normal war, da die beiden wahrscheinlich nicht die Einzigen waren, die Mittagessen im Kopf hatten.

„Sollen wir in die Polizeikantine gehen?“

„Was gibt´s denn heute?“

„Keine Ahnung.“

„Frank hätte es dir sagen können.“ Richard saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz.

„Was ist los mit dir? Entspann dich. Warum bist du so scharf drauf, diese Sache als Mord zu bewerten?“

„Weil es ein Mord war. Und dazu noch ein ziemlich durchdachter. Da steckt mehr dahinter. Davon bin ich überzeugt.“

„Du schon. Aber was sagt der Staatsanwalt denn zu deiner Theorie? Mit dem was wir haben, wird der niemals ein Ermittlungsverfahren einleiten. Schon gar nicht wegen Mord. Da musst du schon schwere Geschütze auffahren und Beweise bringen.“

Richard sah Manfred an.

„Die bekommt er. Da kannst du einen drauf lassen. Und jetzt gib Gas. Ich habe Hunger.“

Manfred spielte mit der Option, Blaulicht auf das Dach zu setzen, doch da sie sich schon der Abfahrt zur neuen Weinsteige näherten und es sowieso nicht mehr weit war, sah er von dieser Idee ab. Auch der Tatsache wegen, dass ein Kollege der Bereitschaftspolizei mit dieser Aktion Ärger bekommen hatte, da er nur unterwegs war, um für sich und seine Kollegen im Präsidium eine Pizza zu holen. Ein Autofahrer fand diese Aktion aber gar nicht lustig, zumal der Kollege auf der Theodor-Heuss-Straße ihn mit ca. 100 km/h überholte und dann zusammen mit dem Polizeiauto auf einem schwarz-weiß Foto verewigt wurde. Der Kollege musste nun ein paar Wochen Innendienst schieben und bekam ein Gespräch mit dem zuständigen Dezernatsleiter, der ihm erklärte, das Blaulicht nur in Notfällen einzusetzen ist. Der Argumentation, die Pizza wäre sonst kalt geworden, konnte dieser nicht folgen.

Als sie in der Kantine eintrafen, stieg Richard der Duft von gegrilltem Fleisch in die Nase. Und siehe da, es gab seinen heiß geliebten Zwiebelrostbraten mit Spätzle und Trollinger Soße. Vielleicht würde der Tag sich doch noch zum Guten wenden.

Sie fanden recht schnell einen Platz am Fenster, von wo sie einen guten Blick auf die Hauptstätter Straße hatten. Gerade hatten beide mit dem Essen begonnen, als Richard hinter sich eine Stimme hörte.

„Ist neben ihnen beiden noch Platz?“

Richard schaute sich um.

„Aber sicher. Für den Staatsanwalt ist immer Platz. Nicht dass wir sonst Ärger bekommen.“

Richard lachte, der Staatsanwalt, Peter Henssler, ein hochgewachsener Mann mit schwarzen Haaren, um die vierzig, nahm Platz und wünschte einen guten Appetit.

Manfred nahm ein Bissen von dem Rostbraten und blickte Richard verschwörerisch an, doch dieser, abgelenkt von der Tatsache, dass er ein falsches Messer hatte, reagierte nicht wie gewünscht.

„So ein Mist mit dem Messer. Ich glaub, ich hol mir ein Neues. Jedes Mal bekomm ich entweder die stumpfen oder die krummen oder beides.“

Er stand auf, um sich ein neues Messer zu besorgen.

„Ist nicht gut drauf ihr Kollege?“, resümierte der Staatsanwalt.

„Doch, doch. War heute nur etwas stressig“, erwiderte Manfred und nutzte die Gunst der Stunde.

„Sagen sie mal Herr Staatsanwalt…“

„Nennen sie mich bitte Henssler. Herr Staatsanwalt klingt so förmlich. Und außerdem sind wir ja beim Mittagessen.“

„Also gut. Herr Henssler. Mein Name ist Gühring. Kriminalhauptkommissar und der Kollege mit dem verbogenen Messer ist Herr Bauer. Oberkriminalhauptkommissar.“

„Zu welchem Dezernat gehören sie?“ Interessiert schaute er zu Manfred rüber, während er sich genüsslich ein Stück Zwiebelrostbraten in seinen Mund schob.

„Kriminaldirektion eins. Kapitalverbrechen.“

„Dann haben sie ja ab und an was zu tun“, lachte er. „Obwohl Mord bei uns im Ländle ja eher selten vorkommt. Wir sind ja nicht Hamburg oder Frankfurt.“

„Täuschen sie sich da nicht, Herr Henssler. Wir müssen auch bei Selbstmord erst mal die Ermittlungen aufnehmen. Gerade heute Morgen hatten wir wieder so einen Fall. Sprung von der Aichtal Brücke.“

Richard war inzwischen wieder, mit passendem Besteck, am Platz angekommen. Manfred sah ihn an und bedeutete ihm, ruhig zu sein.

Er verstand zwar noch nicht warum, aber beim Essen war er sowieso kein Freund der vielen Worte.

„Selbstmord?“ Der Staatsanwalt klang interessiert. Anscheinend hatte ihn die Art und Weise, wie Manfred erzählte neugierig gemacht.

„Na ja. Da gibt es schon ein paar Ungereimtheiten, die uns beide stutzig machen.“

Richard hörte aufmerksam zu, hielt sich aber zurück, während Manfred begann zu erzählen.

„Heute Morgen wurden wir zur Aichtal Brücke gerufen. Sturz aus über fünfzig Metern. Ich erspare ihn die Einzelheiten lieber.“

Manfred schaute auf den Teller des Staatsanwaltes.

„Aber es gibt da ein paar Sachen, die nicht so recht ins Bild passen.“

„Und welche wären das? Rein der Neugierde halber. Sie haben so eine nette Art die Dinge spannend zu machen.“ Er lachte.

„Zum einen“, fuhr Manfred fort. „Der Auffindeort. Dann hatte die Tote keine Papiere bei sich und ein Auto, mit dem sie ja auf die Brücke gekommen sein müsste, haben wir bis jetzt auch noch nicht gefunden.“

Das die Suche nach den Haltern noch lief, ließ Manfred erst einmal unter den Tisch fallen.

„Was ist mit dem Auffindeort?“

„Er liegt an dem gegenüberliegenden Ende der Brücke.“

Manfred erklärte dem Staatsanwalt die geografische Lage vor Ort.

„In der Tat. Klingt schon etwas merkwürdig.“ Er war inzwischen fertig, lehnte sich, mit vor der Brust verschränkten Armen zurück und konzentrierte sich auf Manfreds Ausführungen.

Richard saß Manfred gegenüber und lächelte in sich hinein.

„Und wieso argumentieren sie auf Mord? Ich meine, was macht das für einen Unterschied, ob ich von dem einen Ende der Brücke oder vom anderen Ende der Brücke runter springe. Ist doch eigentlich egal. Genauso gut kann sie ja durch den Wald hochgelaufen sein und ist von dort auf die Brücke gelangt.“

„Könnte. Ist sie aber nicht“, sagte Richard mit Nachdruck.

„Und was macht sie da so sicher, Herr Bauer?“

„Wir haben an den Schuhen der Leiche keine Spuren feststellen können, die darauf hindeuten, dass sie im Wald oder auch nur in der Nähe des Waldes war. Oder würden sie mit Pumps im Wald spazieren gehen?“, fragte Richard provokant.

„Sie haben viele Vermutungen. Aber was ich brauche, sind Tatsachen, Beweise. Bringen sie mir die und ich leite ein Ermittlungsverfahren ein. Stand jetzt, ist das für mich ein Selbstmord.“

Er stand auf, nahm sein Tablett und verabschiedete sich.

Richard lehnte sich zurück und ließ die Hände sinken.

„Er braucht Beweise? Er bekommt Beweise“, sagte Richard trotzig.

„Und wie? Er hat recht. Wie willst du feststellen, dass es Mord war. Und wie willst du das beweisen. Wir wissen ja noch nicht einmal, wer die Tote ist. Das allein raus zu finden wird schwer.“

Manfred wischte sich mit seiner Hand über die wenigen verbliebenen Stoppeln, die seinen Kopf zierten. Es war manchmal nicht leicht mit Richard. Altersstarrsinn nannte das Walter Riegelgraf von der Gerichtsmedizin. Er meinte, er freue sich schon auf den Tag, an dem er Richard auf dem Seziertisch vor sich liegen hätte, dann wäre er der erste Rechtsmediziner der dies im Gehirn nachweisen könnte.

Sie blieben noch eine Weile und wollten gerade aufstehen, als sich Walter Riegelgraf, zu ihnen setzte.

„Mahlzeit die Herren. Da sieht man es wieder. Die Kommissare sind schon fertig. Konnte wohl mal wieder nicht schnell genug gehen?“

Es sei erwähnt, dass derartige Konversation zwischen den Kollegen hier im Präsidium an der Tagesordnung war, da dies immer wieder zur allgemeinen Erheiterung beitrug, und so hatte der Tisch mit ihnen immer die meisten Lacher in der Kantine.

„Und jetzt nach dem Essen, Herr Bauer? Immer noch auf dem Mord gepolt?“

Walter Riegelgraf lächelte süffisant, schob sich ein großes Stück seines Rostbratens in den Mund und lehnte sich, sichtlich zufrieden, zurück.

„Pass lieber auf das du dich nicht verschluckst. Immer ordentlich kauen“, warnte ihn Manfred.

„Normalerweise“, lachte Richard. „Würde ich ja sagen, dass dir der Bissen im Hals stecken bleiben soll, aber dann würdest du hier vom Stuhl fallen und könntest keine Obduktion an unserem Mordopfer mehr machen.“

„Wohl war“, grinste Walter Riegelgraf. „Ich nehm mal an, du bist immer noch davon überzeugt, dass es Mord war.“

„Mehr denn je. Und den Staatsanwalt, der gerade mit uns gegessen hat, den haben wir auch fast überzeugt.“

Walter Riegelgrafs Miene verzog sich, ähnlich einem aufziehenden Gewitter, als er die mit einem breiten Grinsen von Richard getätigte Aussage vernahm.

„Schmeckt es dir nicht mehr?“, fragte Manfred mit einem ironischen Lächeln.

Walter Riegelgraf bruddelte etwas Unverständliches, ließ sich aber nicht weiter beim Essen stören.

„Ich könnte mir vorstellen, dass er nachher einen Anruf aus dem Büro des Staatsanwaltes bekommt,“ lachte Richard. Manfred wusste zwar, dass er wieder flunkerte, was er gelegentlich nutzte, um seinen Willen durchzusetzen, beschloss aber, mitzumachen.

„Da bin ich mir sicher. Wird wohl nichts mit der Gartenarbeit am Wochenende. Die hätte eh bloß aus Hängematte und Trollinger bestanden.“

„Banausen, ihr zwei. Wozu hat man denn Kinder. Die arbeiten und ich trag die Verantwortung.“

Richard schaute auf die Rundungen von Walter Riegelgrafs Bauch.

„Und da trägst du sicherlich schwer“, lachte er.

„Und wenn der Polizeipräsident persönlich bei mir anruft. In zwei Stunden ist Feierabend. Heute wird nicht mehr obduziert.“

„Ist die Leiche eigentlich schon da?“, wollte Manfred wissen.

„Ja.“ Walter Riegelgraf antwortete bewusst kurz angebunden, denn ihm war klar, was jetzt kommen würde, doch bevor Richard ansetzen konnte, fuhr er ihm dazwischen.

„Und nein, ihr könnt die Leiche heute nicht mehr anschauen.“

Richard und Manfred wussten, dass diese Aussage endgültig war. Obwohl Walter Riegelgraf selten bis gar nicht aus der Ruhe zu bringen war, Richard hatte es in seinen zwanzig Jahren, in denen er hier arbeitete, zumindest noch nicht erlebt, so strahlte er doch eine Autorität aus, die seinen Aussagen das gewisse Etwas verlieh.

„Habt ihr beiden eigentlich kein Wochenende? Familie, Freunde, oder dergleichen? Geht heute auch mal früher heim. Die da unten bei mir im Keller laufen nicht weg. Euer Kollege, der Frank, der hat´s richtig gemacht. Mal ein Jahr raus aus dem Mief hier.“

Sie sahen sich an, Richard und Manfred, wohlwissend, was der jeweils andere in diesem Moment dachte. Frank Jonas hatte damals tatsächlich Ernst gemacht und sich für ein Jahr ausgeklinkt. Ihr Chef, Kriminaldirektor Hans-Jürgen Engler war fast vom Stuhl gefallen, nach dem ihm Frank ins Gesicht gesagt hatte, er hätte keine Ahnung vom Ermitteln und wäre selbst zum Verteilen von Strafzetteln nicht zu gebrauchen.

Einige Zeit später sahen das dann auch die Vorgesetzten von ihm so und schickten diesen vermehrt auf Schulungen, um ihn aus dem Tagesgeschäft rauszuhalten. Leider befand sich Frank Jonas da schon in seinem Haus am Bodensee und strampelte irgendwo zwischen Stein am Rhein, Konstanz oder Bregenz durch die Gegend.

Richard hatte plötzlich eine Idee.

„Ich denke, das Walter recht hat. Wir sollten heute einfach mal etwas früher gehen und das Wochenende genießen. Und am Montag starten wir alle gemeinsam wieder durch.“

Er sah ihn, ob der spontanen Aussage, ungläubig an.

„Bei jedem anderen hätte ich das jetzt so geglaubt, aber bei dir mach ich mir Sorgen.“

„Kannst du machen. Ich lieg auf jedem Fall nicht in der Hängematte, so wie du. Ich tu was für meine Figur.“

Manfred musste lachen.

Nachdem die beiden ihr verbales Pulver verschossen hatten, ging jeder von ihnen wieder an seinen Arbeitsplatz.

„Das hast du vorhin nicht ernst gemeint, oder?“

„Doch. Ich gehe heute früher. Ich muss mich auch mal ausruhen.“

„Walter Riegelgraf hat recht. Jedem glaubt man das, wenn er so was sagt, nur bei dir hat man Zweifel.“

Richard setzte wie gewohnt seine Unschuldsmiene auf. Doch beide waren auf der richtigen Fährte. Er hatte einen Plan. Und den würde er morgen früh umsetzen.

Die Rotenbergverschwörung

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