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Allgemeine Grundlagen der Augmentationschirurgie

Information war nie so umfassend verfügbar wie heute. Dies gilt besonders für die zahnärztliche Implantologie, die viele Jahrzehnte nach ihrer Etablierung immer noch stark im Fluss ist. Im dynamischen Wechselspiel von Produktentwicklern und Klinikern kommen fast täglich neue Biomaterialien und Augmentationsverfahren in die Praxis. Zu allem gibt es zahllose Publikationen und verlockende Fortbildungsangebote. Die Kunst der (Zahn-)Ärztin und des (Zahn-)Arztes ist es, die Menge an Innovationen und Informationen zum Wohle der Patienten richtig einzuordnen. Was ist gut für meine/n Patienten/in und was ist schlecht, riskant und was ist vorhersagbar, was ist effektiv und was ist unnötig, was zahlt sich aus und was kostet nur, was ist Mode und was beständig? Die Basis der Urteilsfähigkeit ist Erfahrung und profundes Wissen.

Die Zahnheilkunde ist traditionell stark durch Materialwissenschaften geprägt, denn sie fand bis vor wenigen Jahren überwiegend außerhalb der Ektodermhülle des Körpers statt. Unter anderem durch die Implantologie hat sich das Behandlungsspektrum in das Innere des Körpers unserer Patienten erweitert. Das erfordert eine zusätzliche theoretische Basis für die Zahnheilkunde, die sich aus Biologie und Medizin speist. Die Leistung des Operateurs und der Operateurin bei Augmentationen ist nicht nur die handwerklich korrekte Ausführung, sondern vor allem die richtige therapeutische Empfehlung unter Abwägen zahlreicher Einflussfaktoren. Dieses Buch soll dem/der Praktiker/in dabei helfen, Selbstbewusstsein und kritische Urteilskraft für gute Entscheidungen aufzubauen und ein wenig Freude auslösen, wenn die Biologie hinter den eigenen klinischen Beobachtungen erkennbar wird und sich ein nachhaltiger Erfolg einstellt.

1.1Knochen als Erfolgsfaktor in der Implantologie

Die Chance auf eine funktionell und biologisch vollwertige Geweberegeneration ist ein Privileg der Zahnheilkunde im Vergleich zu anderen Sparten der Medizin. Die Knochenregenerationstechniken erlauben heute Zahnärztinnen und Zahnärzten, fast keine Formabweichung des Kieferknochens als gegeben hinnehmen zu müssen, sei sie erworben durch Unfall, Tumor oder durch Atrophie des Alveolarkamms nach Zahnverlust oder angeboren bei Zahnnichtanlagen. Das bezieht sich auch auf Bisslage- und Bisshöhenkorrekturen der Kiefer. Die Grundlagen zu chirurgischen Korrekturmöglichkeiten des Knochens und der bedeckenden Weichgewebe zur Vorbereitung einer Zahnersatzbehandlung wurden zum großen Teil durch die Fachvertreter der präprothetischen Chirurgie in den siebziger und achtziger Jahren gelegt1. Knochenaugmentationen sind auch ein langfristig sicheres Verfahren. Zu allen wesentlichen Techniken bestehen heute Daten aus 10-Jahres-Studien.

Das Schicksal des Implantats entscheidet sich auf dem obersten Millimeter2 (Abb. 1-1). Ein zirkulär vollständiger Ring von Knochen, der allseits alle aufgerauten Anteile des Implantats bedeckt, kann ein Tiefenwachstum des Saumepithels und damit Taschenbildung verhindern3 und ist eine Voraussetzung für die dauerhafte Implantatgesundheit4. Zirkulärer Knochen von mindestens 1 mm, besser 2 mm Dicke ist eine Voraussetzung für eine gute Langzeitprognose und die Basis für einen abdichtenden Weichgewebeanheftungsapparat. Ausreichend dicker Knochen erzeugt eine vitale Gingivafarbe, indem er ein Durchschimmern des dunklen Titans verhindert (Abb. 1-2). Der Knochen ist generell die Basis der Ästhetik, indem er die Höhe der Gingiva definiert (Abb. 1-3) und die Gesichtsweichteile verankert. Der Alveolarfortsatz muss ausreichend breit sein, um einem stabilen Implantat mit ausreichender Materialstärke Platz zu bieten, das sich unter Mastikation nicht verformt oder gar frakturiert. Außerdem muss der Knochen ausreichend hoch sein, damit keine langen Zahnkronen und interdentale Plaqueretention resultieren. Der Knochen sollte in der prothetischen und damit in der funktionellen Belastungsachse der Restauration stehen. Dadurch kann die Prothese zierlicher ausfallen (Abb. 1-4 bis 1-6).


Abb. 1-1 Das Schicksal des Implantats entscheidet sich auf dem ersten Millimeter. Aufgeraute Implantatanteile dürfen nicht in Kontakt mit den Bakterien des Sulkus kommen. Hier besteht Augmentationsbedarf.


Abb. 1-2 Fotomontage. Ersatz der nicht angelegten Zähne 12 und 22 durch Titanimplantate. Das graue Durchschimmern des Titans sollte durch ausreichend dicken Knochen und Weichgewebe verhindert werden.


Abb. 1-3 Die Weichgewebehöhe (biologische Breite) ergibt sich aus den Elementen Bindegewebeanheftung, Saumepithel und Sulkustiefe bzw. freie Gingiva. Sie ist bei Zahn und Implantat gleich hoch, im Mittelwert etwa 3 mm. Weil die Höhe konstant ist, kann man durch Augmentation der Knochenhöhe die Weichgewebehöhe vorplanen.


Abb. 1-4 Bei der implantatprothetischen Versorgung des Oberkiefers kann man die Implantate unter Vermeidung der Sinusbodenaugmentation im vorderen Bereich intersinusoidal setzen. Dann muss allerdings die Prothese tegumental gelagert werden (Deckprothese) oder die Prothese muss zur Vermeidung eines Bruches sehr massiv gearbeitet werden. Bei großem Unterstützungspolygon nach Augmentation unter Verwendung von 6 bis 8 Implantaten kann eine abnehmbare Arbeit viel zierlicher gestaltet werden, weil die Bruchgefahr gering ist.

Abb. 1-5 Oberkieferversorgung ohne Augmentation. a. Tegumental gelagerte Deckprothese für den Oberkiefer bei intersinusoidal gesetzten Implantaten unter Augmentationsvermeidung. b. Durch mangelnde Unterspülbarkeit der Deckprothese kommt es zu Rötung des Gaumens (Prothesenstomatitis, Candidiasis) und Gingivahyperplasie an den Implantaten mit Pseudotaschenbildung. Die kaufunktionelle Belastbarkeit ist durch die mangelnde Pfeilerspreizung relativ gering.

Abb. 1-6 Oberkieferversorgung mit Augmentation. a. Durch Sinusbodenaugmentation konnte eine Pfeilerergänzung vorgenommen werden. b. Panoramaschichtaufnahme nach Sinusbodenaugmentation beidseits. c. Prothetische Versorgung durch zierlich gearbeitete abnehmbare und unterspülbare Prothese (Prof. M. Kern, Kiel). d. Galvanoteleskope. e. Interdentale Reinigungsmöglichkeit und Unterspülbarkeit. f. Lippenbild mit natürlicher Ästhetik.

1.2Ziele der Knochenaugmentation: Funktion – Ästhetik – Prognose

Mit den genannten Vorgaben ergeben sich folgende Ziele der Knochenaugmentation:

 Funktion

 Ästhetik

 Prognose

Die Implantologie hat als oberstes medizinisches Ziel die kaufunktionelle Rehabilitation. Bei einer guten Funktion ergibt sich häufig die Ästhetik automatisch. Zudem rückt die Ästhetik als Therapieziel mehr in den Vordergrund. Die Lage der Knochenschulter bestimmt die Lage der darüber liegenden Weichgewebe und damit die gingivale (rosa) Ästhetik. Diese Zusammenhänge werden in dem englischen Merkspruch zusammengefasst:

The tissue is the issue,

but the bone sets the tone,

and the clue is the screw. (D. Garber, Atlanta)

1.3Alveolarfortsatzatrophie

Der Alveolarfortsatz in Ober- und Unterkiefer ist im Gegensatz zur Kieferbasis embryologisch nicht chondral präformiert. Der Alveolarfortsatzknochen wird als desmaler Knochen von den Zähnen im Rahmen ihrer Anlage gebildet und entlang ihres Durchbruchs zur Okklusionsebene mitgenommen. Entsprechend schwindet dieser Knochen nach Verlust der Zähne auch wieder. Die Alveolarkammatrophie ist physiologisch und keine Krankheit, allerdings können die Folgen, der Verlust des Kauorgans und die Prothesenunfähigkeit, eine Krankheit bedeuten, zumal die Atrophie bei einigen Patienten sehr schnell verläuft. Die Resorption des Alveolarknochens beginnt an der bukkalen Knochenlamelle und erfasst später auch die orale Knochenlamelle. Die Resorption der oberen Alveolarfortsatzanteile wird auch durch das Prinzip des Bündelknochens erklärt (Abb. 1-7). Dieser Knochentyp des Körpers besteht aus den verkalkten Insertionen von Ligamenten. Am Alveolarfortsatz sind dies die Insertionen der Sharpey-Fasern (nach William Sharpey, Anatom in London). Nach Zahnextraktion schwindet das Parodontalligament und zwangsläufig auch der Bündelknochen, der die gesamte faziale Lamelle der Zahnfächer ausmachen kann. Der Verlust des Alveolarfortsatzes wird unter anderem beschleunigt durch die marginale Parodontitis, durch traumatische Zahnextraktion, durch instabile tegumental getragene Prothesen und durch eine generalisierte Osteoporose. Besonders starke Atrophien mit Schlotterkamm- und Lappenfibrombildung werden beim Kombinationssyndrom (Abb. 1-8) im anterioren Oberkiefer gesehen, wenn ein hartes unteres Restgebiss oder untere Zahnimplantate gegen eine nur tegumental gelagerte obere Vollprothese beißen. Im Zuge der Atrophie kommt es auch zu einer verminderten Durchblutung der Kiefer, die einen reversen Strom in der Arteria mentalis auslösen kann. Die Frakturgefahr steigt durch die Querschnittsminderung des Unterkiefers.


Abb. 1-7 Der Bündelknochen ist die Verankerung von Sehnen und Ligamenten in das Skelett. Der Alveolarfortsatz besteht vor allem im oberen Teil fast durchgehend aus Bündelknochen. Dieser wird von den zur Okklusionsebene durchbrechenden Zähnen mitgenommen. Wenn die Zähne verloren gehen, schwindet auch der Bündelknochen wieder, zunächst bukkal, später lingual beziehungsweise palatinal. Dieser Effekt erklärt den schnellen Volumenverlust von Extraktionsalveolen und die Alveolarkammatrophie als physiologisches und nicht aufzuhaltendes Phänomen, es sei denn, man kann durch Zahnimplantate den Knochen wieder physiologisch belasten (knochenprotektiver Effekt der Zahnimplantate).

Abb. 1-8 Patient mit Kombinationssyndrom. a. Die Panoramaschichtaufnahme zeigt die isolierte Alveolarkammatrophie im anterioren Oberkiefer. Der harte Aufbiss der unteren Restbezahnung trifft auf die tegumental gelagerte obere Prothese, die insbesondere unter Protrusionskontakten immer wieder nach vorne abkippt und so die physiologische Alveolarkammatrophie lokalisiert beschleunigt. b. Lappenfibrome durch schlecht sitzende obere Vollprothesen im anterioren Oberkiefer. Diese pathologischen Reizzustände der Vestibulumschleimhaut ergeben sich insbesondere, wenn Vollprothesen anterior weit über den Kamm vorgebaut sind. Wenn sie durch ein Kombinationssyndrom anterior überlastet werden und die Okklusion nicht balanciert ist, können die Prothesen bei Vorschub vermehrt nach vorn abkippen. Parallel zeigt hier der Mundwinkel eine Perlèche (Candidiasis).

Da die Zähne und der Alveolarfortsatz im Oberkiefer physiologisch nach bukkal geneigt stehen und eine enge apikale Basis vorliegt, ergibt sich bei Höhenreduktion des Knochens eine Verlagerung der Kieferkammmitte nach innen – die zentripetale Atrophie des Oberkiefers (Abb. 1-9). Bei breiter apikaler Basis im Unterkiefer und nach innen geneigten Zähnen tritt im Unterkiefer das Gegenteil ein. Die Kammmitte wandert mit der Höhenreduktion des Alveolarfortsatzes nach außen – die zentrifugale Atrophie des Unterkiefers. Dieser Effekt kann zu einer Veränderung der Kieferrelation führen und eine Pseudoprogenie und Kreuzbisse im Seitenzahnbereich bedingen. Die Pseudoprogenie wird noch verstärkt, weil der Biss im Laufe des Lebens unter anderem durch Zahnattrition, Abrasion, Zahnextraktionen und durch parodontale Zahnwanderung in der Regel immer weiter absinkt. Dadurch rotiert das Kinn im Kiefergelenk nach vorne.

Abb. 1-9 Effekte der Augmentation bei Alveolarkammatrophie. a. Die Alveolarkammatrophie hat aufgrund der Schrägstellung des oberen Alveolarfortsatzes und der engen apikalen Basis des Oberkiefers zu einer Rücklage des Oberkiefers geführt (linkes Bild). Die reduzierte Bisshöhe aufgrund der Alveolarkammatrophie hat zu einer Vorrotation des Unterkiefers gegen den Uhrzeigersinn im Drehpunkt des Kiefergelenks geführt. Das hat eine Pseudoprogenie verursacht. Die Augmentation (z. B. durch Le-Fort-I-Interposition im Oberkiefer und Sandwich-Interposition im Unterkiefer) führt zu einer Bewegung der Alveolarfortsätze in Richtung der roten Pfeile. Das Ziel ist, durch Zahnimplantate wieder den Zustand bei Vollbezahnung (rechts) zu erzeugen. b. Durch die Alveolarkammatrophie sind die mimischen Muskeln nicht vorgespannt. Die Lippen rollen sich ein und insbesondere der Musculus mentalis verliert seinen oberen Ansatzpunkt auf Höhe der Wurzeln der unteren Schneidezähne. Dadurch sackt das Kinn herunter, was als Tropfenkinn bezeichnet wird. Passives Unterfüttern der Lippen durch zahnprothetische Mittel verbessert die Muskelansätze und damit die Muskelzugrichtungen nicht. Durch knöcherne Regeneration der Alveolarfortsätze kann wieder ein Zustand wie vor dem Zahnverlust erzeugt werden. c. Durch implantatgestützte Zahnprothesen kann im Gegensatz zu konventionellen Vollprothesen eine bessere Vorspannung der mimischen Muskeln erreicht werden, weil diese sich bei Gegenzug der Lippen nicht so leicht lösen wie konventionelle Totalprothesen. Wenn zusätzlich die Alveolarfortsätze durch Augmentation knöchern rekonstruiert werden, bekommen die mimischen Muskeln wieder ihre korrekten Ansatzpunkte. Zusätzlich kann durch Bisshebung eine Streckung des Untergesichts und eine Rücknahme des Kinns erreicht werden, sodass sich die Nasolabial- und Supramentalfalte glättet. Das Ziel ist ein entspannter und jüngerer Gesichtsausdruck als Nebeneffekt einer kaufunktionellen Rehabilitation (modifiziert nach Cawood JI, in: Härle, Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesesis, Thieme, Stuttgart 1999).

Durch den Schwund ihrer knöchernen Ansatzstellen am zahntragenden Alveolarfortsatz verlieren die perioralen mimischen Muskeln ihre Vorspannung. Die Lippen rollen sich ein und verschmälern sich. Wegen des Wegfalls der Stütze der Zähne und Alveolarfortsätze fallen Wangen und Lippe ein. Infolge der Bissabsenkung entwickelt sich eine negative Mundspaltenrundung (umgekehrter Smiley) und es kann zur Lippeninkontinenz an den Mundwinkeln mit Speicheltröpfeln und Candidabefall kommen. Der Musculus mentalis verliert zunehmend seinen Ansatz am vorderen Alveolarfortsatz und das Kinn kann tropfenartig herunterhängen, das sogenannte Tropfenkinn bildet sich. Insgesamt entsteht so das stigmatisierende typische Untergesicht des zahnlosen Greises. Die nachlassende Kaufähigkeit bedingt häufig eine Nahrungsumstellung auf diabetogene Kost und ist mit dem verfrühten Eintritt von Demenz statistisch korreliert5, ohne dass ein ursächlicher Zusammenhang bewiesen ist. Die schwere Alveolarkammatrophie ist also keine simple Alterserscheinung, sondern ein pathologischer Zustand mit Folgen für den Gesamtorganismus. Die kaufunktionelle Rehabilitation durch Zahnimplantate verfolgt ein allgemeinmedizinisches Ziel.

1.4Klassifikationen der Alveolarkammatrophie

Die Atrophie der zahnlosen Kiefer insgesamt wird am besten durch die internationale Klassifikation nach Cawood und Howell (1991) beschrieben6(Abb. 1-10).


Abb. 1-10 Die Klassifikation der Alveolarfortsatzatrophie des zahnlosen Gesamtkiefers nach Cawood und Howell6 (modifiziert nach Cawood JI, in: Härle F. Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesesis, Thieme, Stuttgart 1999).

Das Resorptionsstadium des einzelnen Implantatsitus kann durch die Viertelregel nach Terheyden 20107,8 (Abb. 1-11) klassifiziert werden. Diese Klassifikation basiert auf dem typischen Muster der Resorption des Alveolarfortsatzes nach Zahnextraktion und hat den Vorteil, dass den Stadien jeweils passende Behandlungsmethoden zugeordnet werden können (Kapitel 12).


Abb. 1-11 Klassifikation der Resorptionsstadien des Kiefers im Implantatsitus nach Terheyden7 in Viertelstadien.

Zunächst atrophiert im Regelfall die faziale Alveolenwand. Wenn deren obere Hälfte geschwunden ist, kann noch ein Implantat primär stabil gesetzt werden, aber es liegt ein vestibulärer Dehiszenzdefekt vor (erstes Viertel). Bei weiterer Atrophie wird die gesamte bukkale Wand resorbiert und es ergibt sich ein Spitzkamm (zweites Viertel) bei noch stehender oraler Wand (entspricht Cawood-Klasse IV). In diesem Stadium reicht der Knochen in der Regel nicht mehr, um ein Implantat zu stabilisieren, sodass man zweizeitig augmentieren muss. Als nächstes Stadium entsteht eine Höhenreduktion des Kamms insgesamt, aber die orale Wand steht noch teilweise (drittes Viertel), bis am Ende der Alveolarfortsatz vollständig resorbiert ist (viertes Viertel) (entspricht Cawood-Klasse V).

Diese Betrachtung im Querschnitt des einzelnen Implantatsitus sollte noch durch die Längsbetrachtung des zahnlosen Abschnitts in Form des sogenannten Envelopes (Abb. 1-12) ergänzt werden. Der Begriff des „Alveolar bone envelope“ ist ein feststehender Sprachgebrauch ursprünglich aus der kieferorthopädischen und parodontologischen Literatur9 und beschreibt die bukkale Konturverbindungslinie des Alveolarknochens im Zahnbogen. Wenn in einer Einzelzahnlücke intakte Nachbarparodontien vorliegen spricht man von einem umschlossenen Defekt innerhalb des Envelopes (Einzel- oder Doppelzahnlücke mit intakten Nachbarparodontien). Die Situation wird schwieriger bei längeren Lücken oder Lücken ohne Nachbarparodontien mit schlecht definiertem Envelope oder im zahnlosen Kiefer mit undefiniertem Envelope.

Abb. 1-12 a. Für die Erfolgsaussichten einer lokalisierten Augmentation ist die Lage im Envelope wichtig (Konturverbindungslinie des Zahnbogens). Zweitens ist es für den Erfolg günstig, wenn ein Defekt von knöchernen Wänden umschlossen ist (contained defect). b. Die Erfolgsaussichten einer lokalisierten Augmentation steigen, wenn das Augmentationsvolumen innerhalb des Envelopes liegt. Daher sollte das Implantat im Regelfall an die palatinale/linguale Wand gesetzt werden und nicht zu groß im Durchmesser gewählt werden.

1.5Alternativen zur Alveolarkammaugmentation

Augmentationschirurgie hat immer einen Preis, auch in Form von Operationsbelastung, Beschwerden und Kosten für den Patienten, operativer Komplexität für Zahnärzte und ihre Teams sowie durch erhöhte Komplikationsmöglichkeiten. Risiko und Nutzen der Augmentationschirurgie sollten immer gut kommuniziert und abgewogen werden. Es gibt daher viele Bemühungen, die operative Belastung der Knochenaugmentation durch Alternativen und minimalinvasive Techniken zu reduzieren.

Insgesamt zeigt sich in der Implantologie die Entwicklung, gestützt durch neue Materialien, auch ohne augmentative Maßnahmen eine gute Kaufunktion zu erreichen. Besondere Relevanz hat dies für Patienten unter antiresorptiven Therapien, die gar keine Knochenaugmentationschirurgie erlauben. Des Weiteren wird der Therapieerfolg weniger abhängig vom individuellen Können eines Arztes gemacht, was ein genereller Trend in der Medizin ist. Beispiele für die augmentationsfreie Implantatchirurgie sind Zygomaimplantate oder die Renaissance der Subperiostalimplantate bei schwerer Alveolarkammatrophie (siehe Kapitel 14).

1.6Defektprothetischer versus regenerativer Therapieansatz

Jede Bewegung erzeugt nach Newton eine Gegenbewegung (actio = reactio). Viele Patienten und Zahnärzte sind heute nicht mehr nur mit der Osseointegration eines Implantates an beliebiger Stelle zur reinen Fixierung einer Deckprothese zufrieden, sondern das Implantat wird an der funktionellen und ästhetischen Idealposition erwartet. Ein defektprothetischer Ansatz in der Implantologie kann von einem regenerativen Therapieansatz differenziert werden, wodurch zwei Polarisierungen eines Kontinuums der Optionen beschrieben sind (Abb. 1-13).


Abb. 1-13 Defektprothetik versus Regeneration.

Beim defektprothetischen Ansatz wird fehlendes Gewebe und fehlende Funktion durch Fremdmaterial, eine Prothese aus Kunststoff, Keramik und Metall ersetzt, ähnlich wie eine Prothese bei fehlenden Gliedmaßen. Das Zahnimplantat ist bei diesem Therapieansatz ein Halteanker gegen das Herausfallen der Prothese. Weil das Implantat durch die Gefahr biologischer Komplikationen auch ein Risikofaktor für die Gesamtprothese ist, werden konsequenterweise so wenig wie möglich Implantate als potenzielle Störstellen geplant, bis hin zu nur einem einzigen. Der Patient kann sich in dieser Logik in seinen Hygienebemühungen auf einige wenige Pfosten konzentrieren und weniger Implantate werfen weniger Kosten auf.

Der Ersatz fehlender Körperteile durch eine Prothese ist in vielen medizinischen Feldern das herkömmliche Verfahren; im regenerativen Ansatz der Augmentation wird die Zukunft gesehen10. Dieser Ansatz verfolgt weitergehende Ziele als den reinen Prothesenhalt, unter anderem eine funktionell und biologisch vollwertige Regeneration des fehlenden Gewebes durch körpereigenes Material und eine langfristige, wenn nicht lebenslange Prognose von Implantaten. Im regenerativen Ersatz hat das Implantat mehr die Funktion einer Zahnwurzel zur Einleitung der Kaukräfte in den Kiefer. Erst die eingeleiteten Kaukräfte setzen den funktionellen Umbau der Gewebe in Gang, der ihren lebenslangen Erhalt sichert. Im Körper wird nur das erhalten, was funktionell definiert ist. Daher besteht bei diesem Ansatz auch eher die Tendenz zu einer höheren Zahl von Zahnimplantaten bis hin zum Einzelzahnersatz. In diesem Konzept geht es um einen zierlichen reduzierten Zahnersatz bis hin zu Einzelkronen mit wenig Metall und anderen Fremdmaterialien, fast ein Ansatz wie in der konservierenden Zahnheilkunde.

In der Praxis relativiert sich diese Diskussion zwischen beiden Therapieansätzen meistens schon durch das Alter der Patienten, indem Jüngere und Gesunde sich eher für den regenerativen und Ältere und Kranke eher für den defektprothetischen Ansatz qualifizieren. Das hängt mit der körperlichen Belastbarkeit, der Nutzungsdauer, der Ausgangslage der Defekte, der Hygienefähigkeit und der gewünschten Kaufunktion zusammen.

1.7Weichgewebeaugmentation und Weichgewebemanagement

Aus didaktischen Gründen werden die Knochenaugmentation und die Weichgewebeaugmentation häufig in getrennten Vorträgen und Lehrbüchern behandelt. In der klinischen Praxis ist diese Trennung schwer möglich. Dieses Buch möchte einen gemeinsamen Weg gehen, denn für eine gute Implantatprognose wird eine Dicke der befestigten Gingiva von 3 mm11 und Breite der Keratinisierung von 2 mm12 benötigt, die den Dimensionen der biologischen Breite entspricht. Auch heilen Knochentransplantate unter dicken Weichgeweben besser als unter dünnen und werden weniger resorbiert. Einen Teil der Ziele der Knochenaugmentation, wie z. B. das Verhindern des grauen Durchschimmerns des Titans (Abb. 1-14), kann man zwar auch durch Weichgewebetransplantate erreichen, aber deren Langzeitstabilität13 ist mit 1- bis 3-Jahres-Daten nicht so gut wissenschaftlich dokumentiert wie beim Knochen, für den in der gleichen Indikation 10-Jahres-Daten vorliegen14. Die Weichgewebe dürfen aber auch nicht zu hoch sein oder überaugmentiert werden, um eine Bildung von Pseudotaschen als Raum für eine pathogene Taschenflora zu vermeiden. Schließlich wird eine Knochenaugmentation nur dann verlustfrei heilen, wenn die Weichgewebewunde darüber zuverlässig abheilt. Ein gutes Weichgewebemanagement ist daher ein untrennbarer Teil und Grundvoraussetzung der Augmentationschirurgie (siehe Kapitel 7).


Abb. 1-14 Durchschimmern des Titans.

1.8Risikomanagement SAC-Klassifikation

Augmentationsoperationen haben im Regelfall einen erhöhten Schwierigkeitsgrad gegenüber der einfachen Implantation und gehören in die Gruppen A und C der SAC-Klassifikation15 (Abb. 1-15). Augmentationsoperationen stellen erhöhte Anforderungen an die Ausbildung und Ausstattung des Operateurs als Implantatoperationen des S-Levels.


Abb. 1-15 Die SAC-Klassifikation des International Team for Implantology15 (ITI) für den chirurgischen und prothetischen Teil einer Implantatbehandlung.

 Straightforward: Keine Augmentation. Dies entspricht einer Standardbehandlung ohne erhöhte anatomische Risiken operationstechnische und/oder prothetische Probleme.

 Advanced: Einzeitige Augmentation. Noch genug Restknochen für eine simultane Implantatinsertion.Hier ist eine anspruchsvolle Behandlung mit erhöhtem chirurgischen und/oder prothetischen Risikopotential und entsprechender Ausstattungs- und Ausbildungsanforderung an das Team gemeint.

 Complex: Zweizeitige Augmentation. Nicht genug Knochen für eine gleichzeitige Implantation. Eine komplexe implantologische Behandlung auf Spezialistenniveau mit damit verbundenen Risiken ist erforderlich.

1.9Teamwork

Wegen der Belastung und der Risiken eines operativen Eingriffs entscheiden sich viele Patienten und Kollegen bei Knochenmangel gegen eine implantologische Behandlung, obwohl vielleicht beide Seiten von einem osseointegrierten Zahnersatz profitieren würden. Durch Zusammenarbeit mit chirurgisch spezialisierten Kollegen mit entsprechender Expertise kann diese Schwelle gesenkt werden. Die mit der Wundheilung verbundenen Unannehmlichkeiten können von einem überweisenden Zahnarzt zeitweise zum Chirurgen ausgegliedert werden. Die anschließende prothetische Behandlung wird wieder in der Heimatpraxis durchgeführt. In so einem Team funktioniert der Hauszahnarzt als Architekt der Gesamtbehandlung, der die einzelnen Gewerke koordiniert und den Patienten danach in seiner Betreuung weiterführt.

1.10Literatur

1Härle F. Atlas der präprothetischen Operationen. Hanser: München, 1989.

2Schwarz F, Sahm N, Becker J. Impact of the outcome of guided bone regeneration in dehiscence-type defects on the long-term stability of peri-implant health: clinical observations at 4 years. Clin Oral Implants Res 2012;23:191–196.

3Iglhaut G, Schwarz F, Winter RR, Mihatovic I, Stimmelmayr M, Schliephake H. Epithelial attachment and downgrowth on dental implant abutments – a comprehensive review. J Esthet Restor Dent 2014;26:324–331.

4Schwarz F, Giannobile WV, Jung RE. Groups of the 2nd Osteology Foundation Consensus Meeting. Evidence-based knowledge on the aesthetics and maintenance of peri-implant soft tissues: Osteology Foundation Consensus Report Part 2-Effects of hard tissue augmentation procedures on the maintenance of peri-implant tissues. Clin Oral Implants Res 2018;29 Suppl 15:11–13.

5Cardoso MG, Diniz-Freitas M, Vázquez P, Cerqueiro S, Diz P, Limeres J. Relationship between functional masticatory units and cognitive impairment in elderly persons. J Oral Rehabil 2019;46:417–423.

6Cawood JI, Howell RA. Reconstructive preprosthetic surgery. I. Anatomical considerations. Int J Oral Maxillofac Surg 1991;20:75–82.

7Terheyden H. Knochenaugmentationen in der Implantologie. Dtsch Zahnärztl Z 2010;65:320.

8Cordaro L, Terheyden H. ITI Treatment Guide 7. Ridge augmentation procedures in implant patients. Berlin: Quintessenz, 2014.

9Wennström JL, Lindhe J, Sinclair F, Thilander B. Some periodontal tissue reactions to orthodontic tooth movement in monkeys. J Clin Periodontol 1987;14:121–129.

10Eckert SE. Time to bid adieu to removable dental prostheses. Int J Oral Maxillofac Implants 2014;29:535.

11Linkevicius T, Puisys A, Steigmann M, Vindasiute E, Linkeviciene L. Influence of Vertical Soft Tissue Thickness on Crestal Bone Changes Around Implants with Platform Switching: A Comparative Clinical Study. Clin Implant Dent Relat Res 2015;17:1228–1236.

12Giannobile WV, Jung RE, Schwarz F. Groups of the 2nd Osteology Foundation Consensus Meeting. Evidence-based knowledge on the aesthetics and maintenance of peri-implant soft tissues: Osteology Foundation Consensus Report Part 1-Effects of soft tissue augmentation procedures on the maintenance of peri-implant soft tissue health. Clin Oral Implants Res 2018;29 Suppl 15:7–10.

13Rotundo R, Pagliaro U, Bendinelli E, Esposito M, Buti J. Long-term outcomes of soft tissue augmentation around dental implants on soft and hard tissue stability: a systematic review. Clin Oral Implants Res 2015;26 Suppl 11:123–138.

14Chappuis V, Rahman L, Buser R, Janner SFM, Belser UC, Buser D. Effectiveness of Contour Augmentation with Guided Bone Regeneration: 10-Year Results. J Dent Res 2018;97:266–274.

15Dawson A, Chen S, Buser D, Cordaro L, Martin W, Belser U. Die SAC-Klassifikation in der zahnärztlichen Implantologie. Berlin: Quintessenz, 2011: 19 ff.

Augmentationschirurgie

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