Читать книгу Wenn du denkst, dass ich alles gutheiße … - Henning Schroedter-Albers - Страница 8

Dresden 1934

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Es klingelte Sturm an der Wohnungstür. Die drei schauten sich erstaunt an, dann zum Fenster hinaus auf die Straße. Alles war an diesem Samstagmittag ruhig, die Junisonne spiegelte sich in den Blättern der Linden am Straßenrand in Dresden.

Beatrice sprang als Jüngste vom Mittagstisch auf: «Ich werd mal schauen. Christel ist schon früher gegangen.« Sie ließ die Tür zum Flur offen stehen, so dass ihre Mutter und Jochen die Stimmen hören konnten. »Ja, bitte?« – »Wir sollen Dr. Schroedter zum Innenministerium abholen«, sagte eine männliche Stimme. »Mein Mann ist gerade erst zur Mittagspause aus dem Büro gekommen«. »Ja, entschuldigen Sie, aber wir haben die Anweisung. Es ist dringend. Bitte rufen Sie Ihren Mann.«

Jochen hatte sich schon bei den ersten Worten mit entschuldigendem, fragenden Gesichtsausdruck seiner Schwiegermutter zugewandt langsam vom Stuhl erhoben. Er legte seine Serviette bedächtig neben seinen Suppenteller, meinte verwundert »Da muss etwas passiert sein, dass man mich nicht im Büro aufsucht, sondern hier zu Hause« und schritt den Stimmen entgegen. Vor der Tür standen zwei Männer in SS-Uniform: »Heil Hitler, Dr. Schroedter. Wir haben den Auftrag, Sie unverzüglich zum Innenministerium zu bringen.« »Und wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?« Jochen war befremdet, in seiner, auch bei der SS, stadtbekannten hohen Position bei der SA einen derartigen Bescheid in entschieden kurzer Form, ja, eigentlich in einem Befehlston zu erhalten. Beatrice beobachtete, wie die Männer sich zunächst zögernd auf Jochens Frage anschauten, dann erklärte der offensichtlich Diensthöhere: »Regierungsrat Freiherr von Eberstein«.

Jochen ergänzte: »Aha, SS-Gruppenführer von Eberstein«. Er wandte sich Beatrice zu und erklärte: «Das muss wirklich dringend sein, wenn er selbst um eine Besprechung zu dieser Uhrzeit bittet.« Und zu den Männern: »Einen Moment. Ich ziehe meine Jacke an«.

»Entschuldige mich bei Mutter, bitte. Ich werde schnell zurück sein.« Er nahm seine Uniformjacke von der Garderobe, zog die Augenbrauen mit einem überraschten, fragenden Ausdruck grüßend zu Beatrice hoch, ging zur Tür und zog sie hinter sich zu. Beatrice hörte die drei Männer die wenigen Stufen hinuntergehen.

»So«, erzählte mir meine Tante Beatrice »das war der Beginn der schrecklichsten Stunden meines Lebens«

Einfach lässt sich das Geschehen dieser Zeit und das Verhalten meines Onkels in den entscheidenden Jahren im Umkreis der Familie und in seinem ureigensten Wirkungskreis nicht schildern. Das musste ich sehr früh erkennen. Ich kann seiner Person nur gerecht werden, indem ich den engeren wie auch den weiteren Personenkreise um ihn in meine Darstellung mit einbeziehe: das heißt, dass ich im Grunde gefordert bin, ein breiteres Zeitbild insbesondere der Jahre 1931 bis 1934 und der Folgephase über die Geschichte meiner Familie in der Nazizeit hinaus aufzuzeichnen.

Als mir meine Tante Beatrice, Cousine meiner Mutter, nach wiederholten Anläufen erstmals die Umstände von der Ermordung Jochens, ihres Mannes, vom 30. Juni 1934 ausführlich schilderte und mir wiederholt versicherte, dass er als SA-Brigadeführer in Sachsen nach ihrem Wissen und ihrer Kenntnis seines Charakters ganz und gar unberechtigt der Verschwörung gegen Hitler verdächtigt worden war und dass sie sich nur eine parteiinterne Intrige als Grund der Ermordung erklären konnte, versprach ich ihr spontan, in Archiven nach den damaligen Ereignissen und Aktenniederschriften nachzuforschen. Ich war damals in den Siebziger Jahren sowieso öfters in Berliner Archiven in Familiengeschichtsforschung tätig und – ich war naiv genug zu glauben, dass nach so vielen Jahren seit der Naziherrschaft der Zugang zu allen Akten der NS-Zeit doch sicher endlich möglich sein müsste und dass ich da leicht fündig würde, um die Hintergründe der von ihr vermuteten Intrigen innerhalb der Partei gegen Onkel Jochen klären zu können.

Heute stelle ich notgedrungen fest: Den größten Teil meiner heutigen Kenntnisse über Onkel Jochen und sein Leben verdanke ich nur einer Zeitzeugin: seiner Witwe, der Cousine meiner Mutter. Was immer sie mir berichtet hat, habe ich versucht, so wahrheitsgetreu ihren Aussagen entsprechend wiederzugeben. Nur ein sehr geringer Anteil meines Berichts beruht auf Aktenkenntnis aus Archiven.

Einen wesentlichen Einblick aus erster Hand gaben mir einige wenige erhaltene, von Onkel Jochen an Tante Beatrice gerichtete Briefe. Briefe, ab 1931 geschrieben an sie als seine Verlobte und ab Januar 1934 als seine Frau. Diese Briefe konnte ich allerdings erst nach dem Tod von Tante Beatrice vollständig einsehen. Zu ihren Lebzeiten hütete sie sie als letztes von ihm verbliebenes Kleinod und gab mir nur zeitweilig einzelne Seiten als Beleg für ihre Berichte.

Ihre eigenen an Onkel Jochen gerichteten Briefe hatte sie – oder er selbst als Empfänger – leider nicht aufgehoben, höchstwahrscheinlich da sie von ihr selbst als nicht für aufhebenswert gehalten wurden, indem sie sich bescheiden als keine stilistisch ausdrucksstarke Briefschreiberin einschätzte.

Nur an einen – für mich in der Beurteilung der Personen entscheidend – eigenhändig geschriebenen Brief glaubte sie sich wörtlich erinnern zu können, da sie in den Formulierungen unschlüssig hin und her geschwankt sei und schließlich ihre sprachlich gewandtere Mutter zur Hilfe gebeten hätte: Einen Monat vor der geplanten Hochzeit im Januar 1934 wollte sie sich nochmals Klarheit über seine soziale, seine religiöse und seine politische Einstellung verschaffen. Er hatte ihr einen ausführlichen Bericht über eine Weihnachtsfeier am 4. Dezember 1933 mit »meinen Jungens« (seiner SA-Brigade) geschrieben. Und dieser Bericht hatte sie in den Einzelheiten über die Umstände dieser Feier stark beunruhigt.

Der Wortlaut dieses Briefes, den sie mir im Alter von 77 Jahren mit wachem Gedächtnis in allen Details stockend, bald sich öfters verbessernd, bald neu ansetzend zur Niederschrift diktierte, entspricht so eindeutig ihrer Ausdrucksweise, dass ich ihn hier gleichsam wie ein Original wiedergebe, als Einleitung zu den Fragen, die sich für jeden Nachgeborenen zu diesem Schicksalsjahr 1933 stellen.

Wenn du denkst, dass ich alles gutheiße …

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