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Montag, 28. Juli 2008

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In der Polizeidienststelle Bergen saß noch spät am Abend Kriminaloberrat Stefan Scholtysek und brütete über seinen Akten. Von einigen Informanten drang dieser Tage mal wieder an seine Ohren, dass auf Rügen inspirative Sitzungen abgehalten würden. Von ungefähr kam dies nicht, denn er selbst war es, der schon vor Monaten, nachdem er die „Altakten“ seines Vorgängers durchstöberte, Order gab, diesbezüglich wieder Nachforschungen anzustellen. Doch seine Überlegungen zu dem Thema führten auch an diesem Abend zu keinem Ergebnis. Jetzt hörte er zwar da könnte was laufen, aber das war es auch. Einen wirklich konkreten Ansatz fanden sie jedenfalls bislang nicht. Da half auch das Grübeln nicht weiter. Immer wieder stellte er sich die Frage, ob dies mit dem am Morgen gemeldeten Mord in Verbindung stehen könnte. Und da war schließlich noch, wenn auch viele Jahre zurück, lange vor dem Beginn seiner Dienstzeit auf Rügen, die Geschichte mit den spurlos verschwundenen Menschen. Glaubte man der Aktenlage seines Vorgängers, wurden diese Bürger nie als vermisst gemeldet. Eine dubiose Vorstellung durchdrang ihn. Er konnte einfach nicht begreifen, dass dies der Tatsache entsprechen sollte. Eine Aufklärung gab es bis heute nicht. Sein bisheriger Wissensstand basierte einzig auf Grundlage der Akten aus dem Archiv. Natürlich, fiel ihm dann ein, auch aus der regionalen und überregionalen Presse; damals. Schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass mehr als zehn Menschen, eine genaue Zahl wurden nie beziffert, verschwanden, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Dass war ihm bereits seinerzeit ziemlich suspekt. Er verwarf diese Gedanken unverzüglich und sagte sich: das war schließlich lange vor meinem hiesigen Dienstbeginn. Sozusagen Altlasten meines Vorgängers, verinnerlichte er sich. Seine leitenden Offiziere, Heller und Christmann, hatten sich schon vor einer Stunde aus dem Präsidium verabschiedet. Nun war er der Letzte im Hause, konnte sich nicht mehr austauschen und beraten. Doch genau dies hätte er in der Situation gebraucht.

Für einen Moment hob er gedankenlos seinen Kopf. In dem Augenblick öffnete sich seine Bürotür einen Spalt. Verschwommen, beinahe wie in Trance, bemerkte er, dass seine Sekretärin ihren Kopf hereinstreckte und einen noch guten Abend wünschte. „Das wünsche ich ihnen auch“, sagte er etwas geistesabwesend zu Ruth Ofenloch. Dabei schaute er auf seine Schreibtischuhr und bemerkte, dass der Zeiger bereits auf neunzehn Uhr stand. Wieder mal, sagte er lakonisch. Die Spekulationen brachten ihn wirklich nicht weiter. Jetzt reichte es ihm leibhaftig. Er räumte deshalb, seiner Gewohnheit folgend, den Schreibtisch auf und beschloss für heute Schluss zu machen. Oft genug

saß er über die Jahre, gar bis spät in der Nacht, im Präsidium. Ganz zu schweigen von den unzähligen Außendiensten, die häufig erst nach Mitternacht endeten. Aber was da an seine Ohren drang ließ ihn einfach nicht mehr ruhen. Auf dem Nachhauseweg stellte er sich mehrmals dieselben Fragen: „Welchen Sinn ergibt das alles? Was kann dahinter stecken?“ Einen Lösungsansatz, geschweige denn Motive, fand er an diesem Abend nicht mehr.

Zur selben Zeit quartierte sich Michel Degoth mit seiner Frau in der Nähe des Hafens ein. Ein kleines Hotel unweit des der Halbinsel Dänholm verzauberte sie. Hier waren sie Urlaubsgäste, wie viele andere jedes Jahr. Nur wenige Meter vom Hotel entdeckten sie kurz danach ein nettes Restaurant. Die Sitzplätze am Kai, mit dem bezaubernden Blick aufs Meer, inspirierte sie, dort ab morgen ihr Frühstück einzunehmen. Das war notwendig, da ihr Hotel nur Übernachtungen anbot. Was allerdings ziemlich praktisch war , da sie eh den ganzen Tag unterwegs sein wollten. „Was wird das erst morgen, wenn wir das herrliche Rügen erkunden“, philosophierte Michel laut lächelnd. Er spannte sie auf die Folter; war selbst voller Freude, dass er an diesem Ort, den er erstmals vor vielen Jahren alleine besuchte, nun mit ihr, seiner Frau Chantal, verbringen durfte. Während er so träumerisch abschweifte fiel ihm ein, dass er seinen Bekannten anrufen wollte. Sie verabredeten schon vor Wochen, während ihres Aufenthaltes an einem Tag einen gemeinsamen Bummel zu unternehmen. Sein Freund Rudi Fischer, der Rügen bestens kannte, hatte damals schon spontan einige Ideen parat. Vor vielen Jahren kam er in die Region und fasste in seinem Beruf schnell Fuß. Jetzt rief Michel, bevor er es verschwitzte, gleich an. Der stille Platz am Kai gab dafür eine gute Gelegenheit. Sein Mobilfunkgerät am Ohr hörte er nach wenigen Sekunden das Verbindungszeichen. Besetzt war er schon mal nicht. Ein gutes Zeichen!,sagte er sich beruhigend. Dann, nach häufigem Durchklingeln, er wollte gerade die rote Taste drücken, las er: „Verbindung!“

„Rudi Fischer. Ja bitte“, tönte es wie aus einem großen Resonanzkörper, gegen seine sonstige Gewohnheit, schaute er diesmal nicht auf die Nummer des Anrufers. „Hallo Rudi. Überraschung!“, flötete Michel Degoth in den Hörer. Das einzige was er hörte war: „Ja bitte...! Ja wer spricht denn? Wollen sie mich verg.....?“

Das Knacken war aus der Leitung verschwunden und gerade sagte Degoth: „Na ich, Michel.“Jetzt funktionierte es, sie kamen ins Gespräch.

„Hallo Michel. Sorry“, sagte er dann etwas geistesabwesend. „Vor lauter Terminen am heutigen Tag, ..... wirklich ..., ist keine Ausrede!“

„Wirklich keine ....?“, meinte Degoth. „Gib es zu, du hattest keine Lust mit mir zu sprechen.“ „Ach Unsinn Michel. Ich war einfach in Gedanken, sozusagen überall, nur nicht bei dir“, antwortete er tierisch ernst.

„War doch' n Scherz ...., mein Lieber. Kein Problem. Wer kennt das nicht aus seinem Berufsalltag?“ Dann berlinerte er so, wie Michel ihn vor Jahren kennen lernte. Voller Begeisterung und ohne Pause. Chantal ließ während des Telefonats ihre Blicke schweifen. Mal über den Ziegelgraben, mal hinüber auf die Insel Dänholm. Mit einem Ohr hörte sie allerdings, wollte am Ball bleiben, was ihr Mann so zu sagen hatte: „Also Mittwoch der kommenden Woche. Schön, dass deine Frau auch mitkommt. Wir freuen uns. Hast du auf Rügen alles klar gemacht?“

Er lachte dabei laut und schaute Chantal an. Das war erledigt, gerade wollte Michel ansetzen den Inhalt des Telefonats zu erzählen, als diese grinsend meinte: „die Luft kannst du dir sparen, habe es schon vernommen.“

„Und?“

„Einverstanden?“, erwiderte sie, noch bevor er weiter reden konnte. Für sie war es keine Frage, sie freute sich auf das Treffen.


Kriminalhauptkommissar Heller war auf dem Weg nach Granitz. Dieser Einsatz musste leider wieder mal sein, obwohl der wohlverdiente Feierabend längst bevorstand. Er war betrübt, dass seine Familie heute, wie so häufig, mal wieder auf ihn warten musste. Seine Mitarbeiter in Granitz hatten bereits alle Hände voll zu tun. Ein ausufernder Streit, angeblich mit harten Bandagen ausgefochten, wurde ihm vor einer halben Stunde fernmündlich durchgegeben. Zwei Banden würden sich prügeln. Hieß es lapidar. Nun galt, es schleunigst zu schlichten, bevor es eskalierte. Schwerverletzte und gar einen Toten hätten es bislang gegeben. So drang es an sein Ohr. Im Fokus der Behörde würden die Streithähne jedoch nicht stehen. Berichtete ihm der Vorort verantwortliche Polizist. Immerhin war ihm zwischenzeitlich der Name eines Mitglieds übermittelt worden: Es handele sich um einen gewissen Erich Gustavson. Sagte man ihm in einem Nebensatz. Er traute der ganzen Geschichte allerdings nicht so recht, und rief deshalb kurzerhand seinen Mitarbeiter im Innendienst des K III an. Peter hatte Spätschicht. Gott sei Dank, sagte er sich. Er war ein absolut zuverlässiger Mitarbeiter. Eher zu pingelig, sagte er sich schon des Öfteren. Heller kam dies durchaus entgegen. Denn jetzt wusste er, dass die Recherchen lückenlos erfolgen würden. Der Mann wäre bislang nicht auffällig gewesen, nirgends registriert, hatte mit der Staatsmacht also noch keine Berührung. Das hörte er, nach nicht mal einer Minute, aus dem Mund des Kollegen. Ein Glück, dass wir bei der Kripo auf dem neuesten technischen Stand stehen, sagte er sich. Schon nach Sekunden Ergebnisse! Das hat was. Parallel, letztendlich aus Vorsichtgründen, veranlasste er einen Bereitschaftswagen an die besagte Stelle zu fahren. Sein Befehl lautete: „Die Männer müssen ausnahmslos mit Maschinenpistolen ausgestattet sein.“

Bei so vielen Leuten konnte das kleine Granitzer Polizeiaufgebot schließlich schnell überfordert

sein, überlegte er.

„Heller. Meurer, sie! Was gibt' s?“, sagte er freundlich in das Mikro des Mobilfunkgerätes. Der Meurer Fritz war schon lange Jahre sein Mitarbeiter und für das Umfeld Granitz zuständig. Auf dem zweiten Bildungsweg hatte er sich das Rüstzeug für diese Laufbahn erworben. Alle zollten ihm damals großen Respekt. Auch Heller war seinerzeit von seinen außergewöhnlichen Leistungen und seinem Ehrgeiz sehr beeindruckt. Als leitender Offizier, schon damals im Range eines Kriminalhauptkommissar, setzte er deshalb alle Hebel in Bewegung, dass Meurer schleunigst befördert wurde. Solche Leute, war seine Auffassung, muss man im Team halten! Nun war er immerhin Polizeihauptwachtmeister oder, wie es in der formalen Polizeisprache heißt, PHW geworden. Dabei hätte der durchaus die Fähigkeit besessen, noch den Offizier anzugehen. Aber damals spielte seine junge Frau, mit der er heute nicht mehr verheiratet ist, einfach nicht mehr mit. Sie wollte gleich ein angenehmes Leben führen und keine nutzlose Zeit mit Sparen, wie sie es ausdrückte, verschwenden. Materielles stand für sie im Vordergrund. Gott sei Dank blieb die Ehe kinderlos. Fritz Meurer hatte einige Jahre danach wieder geheiratet. Eine nette Frau übrigens, die ihn voll unterstützt, mit der auch zwei Kinder hat. Glücklich wurde er, brauchte der Ersten keine Träne nachzuweinen. „Also, wie sieht es mittlerweile bei euch aus?“, räusperte sich Heller erwartungsvoll.

„Wir haben alles im Griff. Sechs Männer wurden festgenommen. Da haben wir nicht lange

gefackelt. Habe sofort die Personalien überprüfen lassen“, drückte er stolz nach. Erst vor Ort sah

KHK Heller, dass die Handlungen in der Nähe des Schlosses stattfanden. Das hatte man ihm zuvor

nicht gemeldet.

„Was war die Ursache?“, murmelte er, wie es oft seine Art war, in sich hinein. Während der Kollege

auf ihn zu stolzierte, fing es gerade an zu regnen. Das war schon gar nicht sein Ding!

„Ausgerechnet jetzt muss es sein ....“, fluchte er. Und Meurer plapperte auch gleich noch los. Er

erklärte, was er im Grund zuvor am Mobilfunk sagte, nämlich die Festnahmen.

„Aber Fritz, das haben sie mir alles bereits berichtet“, mahnte er.

„Was ist mit weiteren Namen?“, das interessiert augenblicklich mehr.

Betroffen schaute er seinen Chef an und führte aus: „Außer dem Gustavon, der sich plötzlich auffallend zurückhielt, tauchte tatsächlich noch ein Name auf.“

„Immerhin! Aber warum lassen sie sich Würmer aus der Nase ziehen? Wie lautet der?“

Heller war aufgrund der fortgeschrittenen Zeit ziemlich genervt. Schon wieder würde er an auch an diesem Abend für seine Kinder keine Zeit haben. Kurz danach entschuldigte er sich bei Fritz, der dafür schließlich absolut nichts konnte. Es war eben der harte Polizeialltag, der insbesondere im K III oft alles von den Kriminalen forderte. Da musste die Familie zurückstehen, zumindest des Öfteren. Das war allerdings nicht immer einfach, wie er aus eigener, leidvoller Erfahrung wusste. Seine Frau Inge war nicht nur häufig über die lange Abwesenheit enttäuscht, was er ja noch nachvollziehen konnte; viel schlimmer war für ihn, dass sie ihm nicht zu glauben schien.

„Noll, mehr wissen wir noch nicht.“, setzte Meurer schließlich nach.

„Ohne Vornamen?“

„Leider ja!“

„Zumindest bis jetzt unbekannt!“

„Und ohne Papiere?“, mutmaßte er.

„Ja!“, sagte Meurer knapp.

„Nun gut, dann müssen wir eben dran bleiben.“

Die Polizei in Granitz war seit dem frühen Abend ziemlich eingespannt und nun brach bereits die Nacht herein. Auch ein Teil dieser Polizisten hatte im Grunde längst Feierabend. Aber wie es nun mal im Außendienst läuft, ging der Fall mal wieder vor. Heller verabschiedete sich, nicht ohne den Bericht für Morgen zu erbitten. Danach rief er seine Frau an und teilte mit, dass er in etwa fünfundzwanzig Minuten zu Hause sei.

Gerade ihm Gehen, drehte er sich erneut um und rief Meurer zu: „Also, wenn da nichts Konkretes ermittelt werden kann, haben wir schlechte Karten. Dann müssen wir die Kerle laufen lassen.“

„Wäre schade“, hörte er nur noch aus der Ferne.

Unbewältigte Vergangenheit

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