Читать книгу Unbewältigte Vergangenheit - Henry Kahesch - Страница 7

Donnerstag, 31. Juli 2008

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Michel, der kein Frühaufsteher war, wachte gegen sieben Uhr auf. Und befand, dass es für die Ferienzeit einfach viel zu früh sei. Aber er war ja selbst schuld, suggerierte er sich gleich. Gestern, als er mit dem Kriminaloberrat in Raslwiek war, hätte er den Mund nicht so voll nehmen sollen. Warum schlug er nicht gleich elf Uhr vor? Gut, nun war es zu spät. Eine Korrektur im Nachhinein, wäre ihm peinlich gewesen. Um zehn Uhr musste er also in Bergen eintreffen. Doch bei aller Zuverlässigkeit wollte er das gemeinsame Frühstück mit seiner Frau in keinem Falle versäumen. Gerade war er auf dem Sprung ins Bad. Da schlug sie die Augen auf. Wie stets, bereits ein Lächeln auf den Lippen. Schnell schürzte er seine Lippen, um ihren einen zärtlichen Kuss auf ihren hübschen Mund zu drücken. Dann verschwand er im Badezimmer.


Sie befanden sich gerade auf halber Strecke, trauten ihren Augen nicht, als sie den Kellner sahen. Der Mann, der ihnen vorgestern im Restaurant der Seebrücke Sellins bereits unangenehm auffiel und den sie später noch eine Weile beobachteten. Eine Zigarette rauchend, stand er unbekümmert am Ufer und hielt sich mit der linken Hand am Geländer fest. Geradezu gelangweilt, so als würde er auf jemanden warten, schaute er drein.

„Wie heißt der nochmals?“, fragte Chantal in die Stille des Morgens.

„Noll heißt er. KHK Heller gab es gestern noch telefonisch durch. Zu der Zeit, als er die Ermittlungen mit seiner Mannschaft im Jasmunder Nationalpark aufnahm.“

Das war alles, was beide zu vermelden hatten. Still dachten sie, jeder für sich, über die aktuelle Situation nach. Ob es reiner Zufall war oder zu einem System der Verbrecher gehörte, beschäftigte sie. In jedem Falle, so machte sich Degoth die Gedanken, bleibt es ein Verwirrspiel. Hin und her wog er ab. Doch schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass es Unsinn sei. Anders bei Chantal. Die glaubte ernsthaft, dass hier etwas nicht sauber sei und artikulierte jetzt ihre Überlegungen. Doch Michel gab zu bedenken, dass der Kerl doch schließlich weder ihren Namen kennen, noch wissen konnte in welchem Hotel sie wohnten. Und er fügte hörbar hinzu: „Also ...., das finde ich zu weit hergeholt. Eher unwahrscheinlich!“

Seine Frau gab sich damit allerdings nicht zufrieden. Nach wie vor war sie fest davon überzeugt, obwohl es nicht konkret an etwas festmachen zu machen war, dass da krumme Geschäfte liefen. „Warum sonst wartet Noll auf einen Komplizen?“

„Möglich, na klar..., ist alles“, so Degoth. Und ergänzte: „Trotzdem dürfen wir uns nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Weder die Polizei noch ich wissen im Grunde Definitives. Das sähe doch anders aus. Nachweisen, dass der Noll oder sein Sparringspartner damit etwas zu tun haben, können wir rein gar nicht. Das ist zunächst mal Fakt, Funde hin oder her! Ganz zu schweigen von dem Mord, von dem Scholtysek die Tage berichtete. Alles bloß reine Vermutungen, mehr nicht! Es kann alles Zufall gewesen sein.“

Weiter vertiefen wollten sie es im Moment nicht. Es war einfach zu vage. So gingen sie zum Kai, wo die frühmorgendliche Sonne ihnen entgegen lachte. Ihre Stimmung hellte sich wieder auf. Ihrem gemütlichen Frühstück inklusive Sonnenplatz, stand nichts mehr im Weg. Der Blick über die Bucht,

hinaus auf das Meer war ungetrübt. Trotzdem war Degoth mit seinen Gedanken nicht an diesem Ort. Nein, er war bereits bei den Ermittlungen. So war er nun mal. Kaum Lunte gerochen, spurte er! Nun malte er sich aus, wie er den Fall, gemeinsam mit der Polizei voran treiben konnte. Und gleichzeitig war ihm bewusst, da konnten ihn auch die schaurigen Kopfarbeiten, die ihn immer wieder zu dem aktuellen Mord und dem Skelettfund trieben, nicht abbringen, dass er die Stippvisiten auf der Insel mit seiner Frau in keinem Falle vernachlässigen durfte. Er blickte zu ihr und bat später an die Story mit Noll zu erinnern. Später, wenn er es Scholtysek zum Besten geben wollte. Auch auf die Gefahr hin, dass sie ihn wieder auslachen würden, wollte er es unbedingt erwähnen.

„Mache ich, Chef“, sagte sie und grinste, wenn auch etwas ironisch, zu ihm hinüber. Die Erwiderung, auf die sie im Grunde wartete, blieb aber aus. Auf dem Weg zu ihrem Wagen, quasi im Vorbeigehen, nahmen sie plötzlich war, dass der Noll tatsächlich Gesellschaft bekam. Ein Mann hielt sich an seiner Seite am Geländer fest. Dessen Mundwinkel bewegten sich ohne Unterbrechung. Das war aus Degoth Sicht ein eindeutiges Zeichen. Jetzt konnte er sich in der Tat auf den vorliegenden Fall richtig einstimmen. Chantal hatte recht. Da läuft doch etwas! Ihre Gesichter, die Männer schauten in dem Augenblick Richtung Meer, konnten sie allerdings nicht erkennen. Degoth spann weiter, ob es der Kerl, der vorgestern mit dem Noll schon zu tun hatte, sein könnte. Sie hielten inne. Von der Ecke des Hotels, sie glaubten sich von dort unbeobachtet, observierten sie weiter. Ihre eigenen Äußerungen amüsierten sie.

„Observieren. Wie das schon klingt?“, meinten sie, sich gegenseitig lächelnd anschauend. „Ein ernstes Gespräch scheint es jedenfalls nicht zu sein.“ Resümierte Michel kurz danach. „Sonst würden die Männer sich sicher nicht so prächtig belustigten.“

Ja, sie hielten sich vor Begeisterung den Bauch und tänzelten hin und her. Just in dem Moment drehte sich der bislang Unbekannte, noch ein Lächeln auf seinen Lippen, um.

„Das ist nicht der Friedrichs“, schoss es aus dem Mund von Michel. „Den Mann kenne absolut nicht. Nein, in keinem Fall. Lass uns diese Szene noch eine Weilchen beobachten“, fügte er dann zielstrebig, wie er stets war, hinzu.

Nur zwei, drei Minuten nach dieser Szene sah der Hobbykriminologe Degoth, wie der Bekannte von Noll zu einem in der Nähe parkenden Wagen schlenderte. Gemütlich tat er es. Sonderlich eilig schien er es wirklich nicht zu haben. An einem Mercedes der E-Klasse, ein älteres Modell, öffnete er den Kofferraum und nahm, sie hielten inne vor Schreck, ein weißes Paket heraus. Der Bursche klemmte es locker unter seinen Arm. Dann trödelte er, als wäre nichts geschehen, wieder zurück zu seinem Komplizen. Denn das dies einer war, davon gingen sie endgültig aus.

„Ist da auch wieder ein Skelett drin?“ Fabulierte es in ihren Köpfen. Doch keiner sprach es aus! Sie entschieden deshalb, über einen kleinen Umweg, etwas näher ran zu gehen; wie beiläufig am Kai zu stehen und hinaus auf das Meer zu blicken. Ihre Augen ließen die Männern nicht mehr aus dem Blickfeld. Sie mussten zirka sechs Meter von ihnen entfernt gestanden haben, den Mut hatten sie Gott Lob, als sie schließlich erkannten, dass das weiße Paket an Noll übergeben wurde. Und dann sah er auf den freien Oberarmen der Kerle jeweils drei Narben. Ja, es war deutlich zu erkennen. Da gab es absolut keine Zweifel. Genauso, wie es Chantal dieser Tage bei Raimund und er selbst bei Herrmann in Ralswiek entdeckte. Er zuckte, so aufgeregt war er. Jetzt schien es für ihn offenkundig: dass musste eine besondere Bedeutung haben. „Von Zufall“, meinte er, „kann hier absolut nicht mehr die Rede sein.“ Auch Chantal, die sich mittlerweile nur noch am Rande mit der Sache beschäftigte; sozusagen notgedrungen, pflichtete unisono bei.

„Richtig Michel: Da muss es eine verschworene Gemeinschaft geben. Für mich zweifelsfrei!“, sagte sie dann wissend. Die möglichen Hintergründe, über die sie kurz sinnierten, blieben ihnen noch verborgen. Ob es Blutrache bedeuten könnte? Ob es Schmugglerbanden sein könnten? Ob es, ob es.... Es wollte kein Ende nehmen. Ihre Gedanken stolzierten ausschließlich und ständig um diese Begriffe. Letztendlich kam Michel die Idee mit seiner Kamera einige Fotos zu schießen. Die, so sein Einfall, könnte er später als Beweismittel verwenden. „Würde es soweit kommen?“, fügte er beflissentlich an! Er zückte seine kleine Spiegelreflexkamera und „schoss“ schnell hintereinander einige Fotos. Im Display zeigte er Chantal die gelungenen Aufnahmen. Serienfotos schießen zu können, dass hat was, dachte er.

„Die moderne Mikrotechnik ist halt manchmal doch gut zu gebrauchen.“ Dann stiegen sie in ihren Sportwagen und es ging endgültig auf nach Bergen. In der Tat war es nun höchste Zeit, denn der mit Scholtysek vereinbarte Termin stand schon kurz bevor.


Der Chefermittler stand vor dem Portal des Polizeipräsidiums und winkte ihnen zu. Auch er war gerade erst angefahren. Doch es entzog sich seiner Kenntnis, ob der Kriminaloberrat nicht vielleicht zuvor dienstlich längst im Einsatz war. Den ersten freien Parkplatz steuerte er an. Er lag direkt neben dem BMW von Scholtysek.

„Guten Tag Frau Degoth“, begrüßte Scholtysek sehr galant und freundlich Chantal. Jetzt reichte er auch Degoth die Hand. Chantal machte sich gleich auf den Weg die Stadt Bergen nochmals näher zu erkunden. Einige Stippvisiten hatte sie zwar bereits angedacht. Aber nun bot sich für sie die Gelegenheit tiefer in das Stadtleben einzusteigen.

„Also, mein Liebling, bis am Nachmittag. Wir treffen uns vor dem Polizeigebäude, OK?“

Sie trabte in die City und er folgte dem Chefermittler. Direkt ging es in den Sitzungsraum. In wenigen Minuten sollte die angesetzte Lagebesprechung beginnen. Heller, der Polizeioffizier und seine Kollegen, die gestern mit ihm im Nationalpark Jasmund waren, standen bereit. Kurze Zeit später gesellte sich noch Christmann, der als Stellvertreter von Heller weiterhin eingeschaltet bleiben sollte, hinzu. Alleine schon deshalb, weil es brisanter und umfangreicher zu werden schien, war dieser personelle Aufwand erforderlich. Anbrennen durfte da absolut nichts.

„Guten Morgen meine Herren“, begrüßte wenige Minuten später Kriminaloberrat Scholtysek die Anwesenden. „Darf ich ihnen Herrn Michel Degoth vorstellen. Sie Heller und sie Christmann haben ihn ja bereits kennen gelernt. Er begleitet die Ermittlungen nun am dritten Tag in Folge.“

Dabei beließ er es. Kurz und bündig wie er seine Ausführungen, wenn man sie denn so nennen konnte, stets waren. Ohne Umschweife ging er nach dieser kurzen Begrüßung und Einführung zur Tagesordnung über. Eile war geboten, dass wussten alle. Schließlich waren da noch einige verzwickte Tatbestände, die eine Menge Fragen aufwarfen, schleunigst zu bewältigen.

„Also Heller, dann berichten sie mal. Was wurde gestern alles ermittelt? Und sie Christmann kümmerten sich, bevor sie Heller im Naturpark unterstützen, um die Sache mit der Rechtsmedizin. Und wir“, er schaute zu Degoth, „werden im Anschluss erläutern was wir in Ralswiek ermitteln konnten. Also Heller, legen sie mal los, damit wir diesen Tag noch für weitere Ermittlungsarbeiten fruchtbar nutzen können.“

„Chef, liebe Kollegen, lieber Herr Degoth“, begann er heute förmlich. „Gestern haben wir den Friedrichs noch getroffen, der Mann also, der sich mit dem besagten Noll, dem Kellner des Restaurants der Seebühne Sellin, traf. Er besitzt in der Tat ein Schnellboot und ist Liegeplatzinhaber in Sellin. Fürs Erste stellte er sich unwissend, wollte einen Noll einfach nicht kennen. Dann aber konfrontierten wir ihn mit der Aussage seines Handlangers, dem Frederisken, der den Noll schon öfter bei ihm sah. Seine lapidare Aussage klang beinahe spöttisch. „Ach, den meinen sie.!“ „Ja, ist ein guter Freund von mir, schon seit Jahren.“ Überdies würden ab und an eben Fahrten nach Wissow notwendig und der Noll, wenn er Feierabend hätte, würde ihn gelegentlich unterstützen. Schilderte er weiter. Die Transporte seien immer wieder notwendig, da er diverse Güter für Bewohner im Nationalpark und natürlich sich selbst benötige. Das hatten wir ja noch gelten lassen. Als er dann aber tänzelte, als wir Fragen wegen der Stücke in dem weißen Papier stellten, wurden wir richtig hellhörig. Da antwortete doch der Kerl: Das weiß ich selbst nicht. Es sind Transportgüter für Andere. Unterschiedlichster Art heißt es immer. Mehr nicht! Ich hinterfrage, es juckte mich nicht wirklich, nie. Raum hätte er genug. Dafür gäbe es gar noch Geld“, fügte er weiter aus.

Schließlich bat er, dass wir ihn in Ruhe lassen sollten. Er sei doch kein Verbrecher. Das hat uns dann doch sehr stutzig gemacht. Aber mehr war nicht aus ihm rauszuholen Und einen Durchsuchungsbefehl hatten wir nicht dabei. Sonst, ja sonst, hätten wir alles auseinander nehmen können.“

„Darf ich hier ergänzen“, sagte Degoth an Scholtysek gewandt?

„Ja, bitte, wenn es zur Sache passt!“

„Als ich in der Frühe in Stralsund mit meiner Frau an den Kai ging, um das Frühstück einzunehmen, sahen wir den Noll dort stehen“, begann Degoth. „Er wartete auf irgend jemanden. Kurze Zeit danach, wir standen gerade auf, wollten zurück zum Wagen, entdeckten wir, dass er Besuch bekam. Ein Mann, den wir nicht kannten, kam mit ihm ins Gespräch. Sie amüsierten sich ziemlich. Dann ging der Kerl zu einem Mercedes der E – Klasse. Ein relativ altes Modell. Dort nahm er, halten sie sich fest, ein Paket mit weißem Papier aus dem Kofferraum. Wir waren sprachlos. Ich fasste mich schnell und nahm meine Kamera zur Hand um schnell einige Fotos als Beweis zu schießen.“ Er erzählte nicht, vielleicht aus Stolz, dass er in Wirklichkeit irritiert war.

„Hier, meine Herren, zeige ich ihnen die Ergebnisse.“

Er nahm die Kamera und zeigte im Display die Fotos in der Reihenfolge, wie er sie schoss! Erstaunte, aber auch bewunderte Blicke trafen ihn. Dann rief Christmann: „Verdammt, dass ist ja der Gustavson! Der ist bekannt als Strohmann und war schon in einigen Fällen verwickelt. Dem ist in der Tat eine Menge zuzutrauen.“ Und Heller zeigte sich entrüstet, dass er anlässlich der Fahndung, vorgestern in Granitz, nur hörte, der sei unbeleckt!

„Also das ist ja ein dickes Ding. Auf was können wir uns da noch verlassen? Da haben die Bürohengste doch geschlafen!“

„Nun...“, so flott kam es aus dem Mund von Scholtysek: „sofort beschatten. Über den Burschen können wir vielleicht doch einen Schritt weiter kommen. Danke Degoth, dass sie so aufmerksam waren. Schade für die Panne in Granitz, aber auch damit müssen wir immer wieder mal leben. Dem Innendienst werde ich die Leviten lesen, aber kräftig. Darauf können sie sich verlassen Frau Kirsten, meine Herren.“

Der Bericht aus Ralswiek stand jetzt an. Scholtysek und Degoth legten dar, wie Ergebnisse aufgrund der Gespräche mit dem Theaterdirektor Dissieux und den Ahnen Störtebekers aussehen.

„Also der Direktor verhielt sich durchaus kooperativ, aber gleichzeitig machte er sich verdächtig. Ständig behielt er uns im Auge. Wurde gar nervös. Unsere Auffassung: Der ist unsicher, hat etwas zu verbergen. In dem Fall spielt der aus unserem ersten Eindruck bereits ne` Rolle. Nun zu dem Herrmann, der sich als Nachfahre von Klaus Störtebekers ausgab und dem Herbert Störtebeker der ebenfalls ein Nachfahre sein soll. Die trafen wir, während unserer Begehung des Geländes. Da haben wir so unsere Zweifel! Insbesondere der Herrmann verhielt sich dubios. Den müssen wir unbedingt erneut in Augenschein nehmen. Also meine Herren, da kommt in der Tat eine Menge Arbeit auf uns zu. Und anfangs dachte ich noch, das wird ein Spaziergang.“ Er wandte sich zu Christmann.

„Nun, was sagt uns die Rechtsmedizin. Gibt es konkrete Hilfen oder dauert es noch?“ Süffisant klang er, obwohl er es gar nicht wollte. Dabei runzelte er seine Stirn und wartete gespannt auf Christmanns Bericht. Der schaute verdutzt zu seinem Chef. Dann erzählte er, dass das gefundene Skelett, zumindest nach den ersten Untersuchungen sei dies deutlich ersichtlich, so der Rechtsmediziner, Schläge aufweist. Richtige Löcher seien zu erkennen. Trotzdem herrscht noch Unklarheit, was als Todesursache in Frage komme. Bei der gefunden Leiche wiederum haben sie Hämatome analysiert. Der Mann muss gewaltige Prügel erhalten haben, sagten sie. Nach Lage der bisherigen Obduktion, sei dies allerdings nicht alleine Ursache des gewaltigen Todes gewesen. Verdächtiger seien allerdings Flecken über den Körper zerstreut. Über die Todeszeitpunkte bleibt per heute, dass der Mann, so die erste Einschätzung, vermutlich vor drei Tagen ermordet worden war. Das Skelett bedarf vor der Nennung eines ungefähren Todeszeitpunktes zunächst weitergehender Untersuchungen. Es könnte aber auch weiter zurück liegen. Gab er zu bedenken. Die Herren der Rechtsmedizin werden es akribisch noch eingehender unter die Lupe nehmen. Erst dann, das erhoffen sie sich selbst, könne es umfangreiche Hinweise auf Todesart und möglichen Todeszeitpunkt geben. Der Leiter der Rechtsmedizin, Dr. Matthias Müller, berichtete mir danach über modernste Forensikmethoden, die er erstmals einsetzen wird. Er denkt z.B. über eine virtuelle Autopsie und den Einsatz neuester Gerätegenerationen nach. Unter anderem eines Computertopografen. Das könnte helfen, näher an den oder die Täter heranzukommen. Zumindest aber für die Profiler weitere Anhaltspunkte bieten. An dieser Stelle bedankte er sich für die hervorragende Arbeit der Spurensicherung. Dabei schaute er Carsten Meyer an, der mit einem verlegenen Gesicht in die Runde guckte. Er erzählte weiter, dass voraussichtlich erst am Montag den 02. August, die kompletten Berichte einzusehen seien. „Dr. Müller meldet sich bei Ihnen Chef. Soweit für heute Kollegen.“

Scholtysek hatte keine Bedenken. Er wusste, dass sein Kollege aus der Rechtsmedizin Wort halten würde. Seit Jahren kannte er ihn als einen verlässlicher Partner an seiner Seite. „Der schafft das“, betonte er schließlich nochmals, „wenn es auch diesmal keine Lappalie zu sei scheint und es uns, eigentlich wie meistens, auf den Nägeln brennt.“

Einen Atemzug später, die momentane Stille nutzend, wollte der Kriminaloberrat erneut das Wort ergreifen. Aber Degoth kam ihm flugs zuvor.

„Wenn wir das ganze Thema geografisch einordnen, haben wir eine Achse von Stralsund nach Sellin über Wissow hinüber nach Ralswiek. Wie sehen sie das Kollegen?“ Dabei schaute er erwartungsvoll in die Runde und erhoffte sich Zustimmung.

„Eben Degoth, das ist der wesentliche Ansatz. Sie haben recht! Nur das Warum an unterschiedlicher Stelle ist noch unklar. Und nicht zuletzt bleibt die Frage, welche Motive und Ursachen führten zu Morden oder besser, noch immer zu den Morden? Das Seltsame, kein Mensch wurde bislang als vermisst gemeldet. Irgendwie schon suspekt“, ergänzte Scholtysek. Und an Christmann gewandt fügte er hinzu: „Jetzt heißt es zu warten bis Mordzeitpunkt und Todesursache geklärt sind. Die vor Tagen gefundene Leiche ist aus dem Nichts aufgetaucht und das muss Gründe haben. Es geht jetzt nicht nur um ein Skelett, sondern um mindestens ein weiteres aus Stralsund und womöglich viele aus dem Erdloch im Nationalpark. Wir müssen die Berichte abwarten. Erst die, zumindest meine Auffassung, könnten uns weiterhelfen.“

„Genau das ist der Punkt“, sagte Degoth. „Und wenn ich recht verstehe, will die Forensik exakt das ausloten.“

Degoth, der die positive Seite wieder beleuchten wollte, stellte damit lapidar fest: „Immerhin hören sich doch die ersten Ansätze gut an oder? Lassen sie uns parallel weiter ermitteln, dann haben wir ab Montag ein rundes Bild.“

Gemeinsam fassten sie das Besprochene zusammen und legten die Marschroute fest. Der Chefermittler tippte alles in sein Tablet. Gleichzeitig las er, für alle hörbar, diese Zeilen vor. Mit seiner sonoren Stimme legte er los: „Zum Mitschreiben, auch für Sie meine Dame, meine Herren.“


Inzwischen saß die Polizeipsychologin Rita Kirsten am Tisch. Als Fallanalytikerin sollte sie die Kollegen der Kripo bei diesem besonders schwierigen Fall ständig unterstützen. Und da sie Psychologin ist, war ihr gerade diese Rolle wie auf den Laib geschnitten. Schon die Tage hatte der KOR alle Profiler, die dem Kommissariat direkt unterstehen, auf diese Ermittlungssache eingestimmt. Das geschah nicht ohne Grund! Für ihn war es der Test, geeignete Mitarbeiter aus der Stabsstelle “Fallanalytik“ zu rekrutieren. Schließlich stand in etwa einem Jahr die Pension des Stabsleiter Dr. Martin Felsen zur Debatte. Deshalb benötigte er wieder eine hochqualifizierte und engagierte Nachfolge. Rita hatte sich die Tage besonders profiliert eingebracht. Das sah und hörte der Kriminaloberrat mit großem Interesse. Sie sollte ihre Chance bekommen, sagte er sich. Die Gedanken die er sich gerade machte, tippte er auch in sein Tablet. Dann wurden ohne Umschweife die Aufgaben verteilt. „Erstens: Der Gustavson muss sofort beschattet werden. Wer übernimmt?“ „Ich Chef“, rief Christmann. „Zweitens: Zumindest der Herrmann muss in Ralswiek näher beleuchtet werden. Wer übernimmt ihn?“ „Kann ich machen“, so Degoth, „oder spricht etwas dagegen?“„Aber nein! Wir freuen uns. Dann machen sie mal. Schließlich wissen sie ja wie er aussieht“, meinte Scholtysek in dem Nachsatz. „Jetzt bleiben noch der Friedrichs und der Noll. Wer nimmt die ins Visier?“ „Mache ich mit den beiden Kollegen“, meldete sich Heller. „Habe ja schon die Tage darin gestochert.“ „Gut, das haben wir also auf den Weg gebracht.“

Er nahm erneut sein Tablet unter den Arm, schloss die Akte und wollte sich gerade erheben. Da hakte Degoth nochmals nach: „Halt, da ist noch der Lewitzki, Raimund. Wer nimmt hier die Recherchen auf?“

Und mit Nachdruck verwies er auf die Merkmale bei vier Männern: dem Raimund, dem Herrmann, dem Noll und Gustavson. Degoth zögerte zunächst einen Moment. Dann betonte er aber doch, dass er den Eindruck hätte, die könnten Blutsbrüder sein. Was auch immer es bedeuten mag. Sagte er sich dabei. Er hielt inne, wartete auf Reaktionen bevor er weiter redete. Aber weder der KOR noch sonst jemand aus dem Kreis der Offiziere äußerten sich. Auch Carsten Meyer, der Leiter der Spurensicherung hielt sich in dem Moment zurück. Von dem hätte er eigentlich am ehesten erwartet, dass der sich zu solch einem Thema herausgefordert fühlte. Aber nichts! Und Degoth ging blitzartig durch den Kopf, ob er sich vielleicht doch etwas zu weit vorgewagt hatte. Doch dieser Gedanke hielt nicht lange vor. Dann setzte er wieder nach: „Verrückt ist, dass bei allen stets am rechten Oberarm die seltsamen Narben zu sehen sind. Also von einem Zufall kann ich da nicht mehr sprechen“, unterstrich er wieder. „Sie?“

„Nochmals zum Mitschreiben: Ich meine die jeweils drei seltsamen Narben am rechten Oberarm, die wie Schnitte aussehen! Bereits gestern berichtete ich davon.“

Sie erinnerten sich, aber gestern maßen sie dem Ganzen keine besondere Bedeutung zu. Erst jetzt wurde den Kripoleuten deutlich, dass dies eine gewisse Relevanz haben könnte.

„Stimmt ..., Kollegen, haben wir irgendwie vernachlässigt. Dem müssen wir unbedingt auf den Grund gehen. Überprüfen meine Dame, meine Herren. Das ist es wert Nachforschungen anzustellen“, räumte der Chefermittler umgehend ein. „Und sie Frau Kirsten, sollten versuchen weiter an dem Profil zu arbeiten. Was für ein Typ Mensch könnte da rein passen? Sie wissen schon, Alter, Größe, Bildung, soziales Umfeld usw. Und aufgrund der seltsamen Narben, sollten wir uns auch die Frage stellen, ob eine Verschwörung im Spiel sein kann. Erwarte ihren Bericht, gnädige Frau“, sagte er trotz des Ernstes der Lage, mit einem Lächeln auf den Lippen.


In Ralswiek, dass hatten Scholtysek und Degoth inzwischen beschlossen, wollten sie wieder gemeinsam aktiv werden. Da waren sich beide nicht zu fein, auch im Detail zu ermitteln. Aber für heute sollten zunächst mal die verteilten Aufgaben bearbeitet werden. Und da wartete schon jede Menge Ermittlungsarbeit auf sie. Zum Abschluss mahnte der Kriminaloberrat, dass, sollten im Zuge der jeweiligen Recherchen wichtige Erkenntnisse zu Tage treten, sie sich unbedingt gegenseitig unterrichten müssten.

„Am besten mittels eines Codes!“, gab er mit ernster Miene zu verstehen. In dem Moment konnte sich Degoth das Lachen wirklich nicht mehr verbeißen und die Kollegen der Polizei stimmten mit ein. Als sie jedoch die Ernsthaftigkeit des Chefs erkannten, drehte sich die Stimmung. Degoth räusperte sich plötzlich und sagte: „Sie haben ja recht Scholtysek, ein vernünftiger Gedanke ist das schon. Nur so verdeckt vorgegangen sind wir sicher, dass das Netzwerk den Ermittlern nicht auf die Schliche kommen kann. Ich bin nun auch davon überzeugt. Mit allem Wasser scheinen die gewaschen zu sein. Wir sollten auch, wie sie gestern bereits sagten, die Presse außen vor lassen. Zumindest derzeit. Im Klartext gesprochen, wenn ich recht begreife, meinen sie also, wir sollten erst zuschlagen, wenn die Spurenermittlungen vollends abgeschlossen sind, die kriminaltechnischen Ergebnisse auf dem Tisch liegen, die Rechtsmedizin Klarheit hat und unsere weiteren Recherchen ein Gesamtbild ergeben. Habe ich das richtig eingeschätzt?“, wiederholte er erneut.

„Korrekt erkannt Degoth, sie sind lernfähig“, schmunzelte Scholtysek. „Genau dies ist mein Gedanke. Alle Fäden spinnen und dann in einer konzertierten Aktion zuschlagen!“

Die Ermittlergruppen verließen die Polizeidirektion Rügens. Zurück blieb nur der Chef! Christmann fuhr nach Sellin um in der Nähe des Bootsanlegeplatzes nach dem Gustavson zu ermitteln. Der war ja schließlich dieser Tage laut Degoth in Stralsund mit dem Noll unterwegs. Machte also Sinn, verdeutlichte er sich. Degoth nahm den Weg nach Ralswiek um den Herrmann zu beschatten und Heller schnappte seine Kollegen und fuhr mit dem Wagen in die Nähe von Wissow. Sie wollten dort wieder anknüpfen, wo gestern ihre Untersuchungen über den Friedrich und Noll endeten.

„Und wir“, sagte Scholtysek noch im Gehen zu Degoth, „sollten uns gegen vierzehn Uhr hier wieder treffen. Mit dem Raimund machen sie sich mal keine Sorgen. Da habe ich Christmann gebeten einen Mann freizustellen, der die Ermittlung übernimmt. Danach folgt die gründliche Befragung.“

Sie waren sich einig, dass derzeit die Befragung Raimunds nicht unbedingt im Vordergrund stand, noch etwas Zeit hätte. Obwohl Degoth schon eher der Auffassung war, der könnte ein Schlüssel zum Tresor sein! Das allerdings hatte er nur in sich hinein genuschelt. Was KOR Scholtysek veranlasste zu sagen: „Was meinen Sie?“

„Schon gut!“, murmelte er zurück.

Gerade wollte der Kriminaloberrat in sein Büro stiefeln, drehte er sich wieder um.

„Nun, schaffen sie es überhaupt bis dahin?“

„Warum nicht?, müsste klappen. Es ist jetzt, machen wir einen Uhrenvergleich; exakt zehn Uhr dreißig. Gegen elf Uhr bin ich in Ralswiek und habe etwa zwei Stunden Zeit den Herrmann unter die Lupe zu nehmen. Also wäre ich, wenn nichts außergewöhnliches passiert, gegen vierzehn Uhr dreißig wieder hier. Müsste also funktionieren Scholtysek!“


Heller kam mit seinem Kollegen im Nationalpark Jasmund an. Den neutralen PKW parkten sie in der Nähe von Wissow. So war es verabredet. Und für die gesamten Recherchen bei diesem heiklen Fall, so ordnete der Kriminaloberrat kürzlich an, war ausschließlich zivile Kleidung angesagt. Alleine schon zur eigenen Sicherheit. Ergänzte er mehrmals. Ausgestattet mit Feldstechern und ihren Pistolen bewaffnet, marschierten sie los. Eine hochauflösende Spezialkamera wurde von einem der Mitarbeiter von KHK Heller in einem Koffer verstaut mitgetragen. Als sie am Ufer ankamen, in dessen unmittelbarer Nähe das Holzhaus stand, reflektierte Heller mit seinen Kollegen das gestern Geschehene. Sozusagen zur Einstimmung.

„Das ist also angeblich das Häuschen von Friederichs. Schauen wir uns dort zuerst wieder um, damit wir den Einstieg für heute wieder finden. Achtsam bitte!“, setzte er nach.

Auch heute war er noch unsicher, ob die gestrige Begegnung, als sie zunächst den Frederiksen, später den Friedrichs und Noll trafen, wahrheitsgemäß ablief. Damit meinte er, ob die Aussagen der Kerle den Tatsachen entsprachen. Insofern war für die heutige Observierung besonders wichtig, dass sie unentdeckt blieben. Eine direkte Konfrontation würde alle Vorbereitungen womöglich zunichte machen. Und ein Kollege fügte hinzu: „Dann schau ich zunächst nach unten, ob ein Boot anlegte, OK?“

„Einverstanden“, signalisierte Heller, der in dem Moment seinen Feldstecher bereits im Ansatz hielt um die Gegend nach verdächtigen Personen abzusuchen. Er wollte sicher gehen, dass sie nicht in einen Hinterhalt gelangten. Dabei war ihm aus seiner langjährigen Kripo – Erfahrung bewusst, dass angeschlagene Verbrecher zu allem fähig waren. Kollege Rafael Schneider, seines Zeichens Kriminaloberwachtmeister, kam soeben zurück.

„Die Luft scheint rein zu sein. Kein Boot am Ufer der Wissower Klinke. Das Gelände am Hang lupenrein!“

Heller ermittelte parallel mit seinem Kollegen in der näheren Umgebung des Hauses. Doch auch heute stießen sie auf keine verwertbaren Spuren. Im Augenblick waren sie bloß beeindruckt, wie ordentlich rundherum alles aufgeräumt wurde. So, als hätten die Männer, bevor sie sich aus dem Staub machten, noch für klar Schiff gesorgt. Es musste ihnen ein Bedürfnis gewesen sein. Aber plötzlich keimte der Gedanke in ihnen, ob sich womöglich Leute im Innern des Haus aufhalten könnten. Sie verhielten sich deshalb mucks mäuschen still. Das würde ja auch gerade noch fehlen: in eine Falle zu tappen. Vorsichtig pirschten sie sich ran, ihre Feldstecher am Auge. Die Pistolen griffbereit. Die Zielstrebigkeit ihrer Aufgabe war ihnen anzumerken. Als Erstes prüften sie, ob alles fest verriegelt war. Das schien der Fall zu sein. Soweit sie ins Innere lugen konnten, was sie mit äußerster Vorsicht taten, bewegte sich auch dort nichts. Auf Leben im Haus deutete absolut nichts hin. Zudem war alles picobello aufgeräumt. War es die Ruhe vor dem Sturm? Diese Vorstellung durchstieg sie schon! Mulmig war es ihnen, hier draußen im Naturpark herumzuschnüffeln und das mit lediglich drei Mann. Würden sie aus sicherer Position von den Burschen, die in Übermacht sein würden, gar beobachtet? Dieser Gedanke manifestierte sich seit einigen Minuten in Hellers Kopf. Die Fenster auf der rechten Seite, abgewandt von der Ostsee, waren jedenfalls wirklich geschlossen. Gemeinsam robbten sie, einer den anderen deckend, um das Haus. In dieser Position hätte sie, aus dem Innern jemanden beäugt, keiner sehen können. Die andere Seite des Holzhauses bestand aus einer reinen Holzwand, keine Fenster, keine Luke! Es war die Nordseite und wohl deshalb, vor allem für die Winterzeit, so dicht gehalten worden.

„Also Kollegen“, meinte Heller, „jetzt müssen wir besonders geschickt sein. Wir nähern uns der Eingangsfront, die Richtung Meer liegt. Wenn sie so wollen, erwartet uns eine offene Flanke.“

Wortlos schleppten sie sich bäuchlings weiter nach vorne. Gerade an der Ecke zur Frontseite, blieben sie starr vor Schreck. Wie aus dem Nichts musste der Mann mit derbem Gesichtsausdruck, der nun an der Tür planlos fuhrwerkte, erschienen sein. Während der gesamten Zeit hatten sie ihn jedenfalls nicht wahrgenommen. Diese öffnete sich jedoch nicht. Man konnte ihm ansehen, dass er unter höchster Spannung stand. Verzweiflung stand auf seiner Stirn. Schweiß quoll aus allen Poren. Pure Angst zeichnete ihn! Das erkannten sie, weil die grelle Sonne sein Gesicht direkt anstrahlte. „Pssst......keinen Ton, Ruhe“, flüsterte Heller seinen Kollegen zu. „Absolute Ru......“

Er redete nicht weiter, hob nur den Kopf leicht an. Erst jetzt sah er, dass doch ein Boot am Ufer lag. Weitere Personen schienen ihn, zumindest so der erste Eindruck, nicht begleitet zu haben. Es blieb allerdings die Frage wie der Kerl sich überhaupt anschleichen konnte. Als Kriminalhauptwachtmeister Schneider seinen Kontrollgang machte, lag schließlich kein Boot dort unten und kein Mensch war zu erblicken. Zumindest teilte er es vor einigen Minuten so mit. Irrte er sich? Gegenseitig pisperten sie sich zu: wir sollten den Angriff wagen. Unsicherheit trat auf. Was, wenn der Bursche doch nicht alleine war und nur als Vorhut galt. Für alle Fälle mal testete, was passiert? Sie mussten es riskieren, sonst würde der komplexe Fall überhaupt nicht vorankommen. Und Heller fiel gerade ein, was Kriminaloberrat Scholtysek dieser Tage immer wieder verdeutlichte, dass nämlich die Ermittlungen vorläufig ohne Presse ablaufen mussten. Die eingebundenen Kollegen des Ermittlungsstabes wurden eingeschworen. Es war TOPSECRET, da es derzeit einfach noch zu früh war, die Öffentlichkeit in die vor drei Tagen ans Tageslicht getretenen Tatbestände, die Leiche und später den Skelettfund, einzuweihen. Und da war ja noch die Sache mit den inspirativen Sitzungen. Bis heute kamen sie damit nicht weiter, trotz umfangreicher Recherchen. Aus Erfahrung wussten die Kripoleute, dass es gefährlich war, unaufgeklärte Fälle einfach so zu den Akten zu legen. Das galt es unbedingt zu verhindern. Sonst verschwinden solche Fälle aus dem Focus der Ermittler. In der Anfangsphase war es deshalb besonders wichtig, äußerst präzise vorzugehen.


Inzwischen recherchierte Christmann mit einigen Kollegen sehr weitläufig in Sellin. Der Bootssteg sollte schwerpunktmäßig in Augenschein genommen werden. Zwei Stunden vergingen bereits, aber es konnten keine verdächtigen Personen ausgemacht werden. Auch der Gustavson schien sich heute hier nicht aufzuhalten. Um keine weitere Zeit verstreichen zu lassen nahm er deshalb, ohne Zögern, sofort Kontakt mit dem Chefermittler Scholtysek auf.

„Chrismann! Chef da ....“, aber weiter kam er nicht.

„Ja, was gibt es eilig?“, kam die Reaktion vom Chefermittler.

Mit seinen Gedanken schien der in diesem Moment an ganz anderer Stelle zu ermitteln! So zerstreut hörte er sich zumindest an. Vermutlich beschäftigte er sich mal wieder mit Renate und Ruth, seinen beiden Frauen. Mit der Einen ging es zu Ende und mit der Anderen fing etwas an.

„Sie wissen, ich bin in Sellin!“

„Ja, ja“, er legte eine kleine Pause ein. „Na, dann schießen sie mal los.“

„Weder an der Brücke noch am Bootsliegeplatz läuft was. Ansätze gibt es hier, zur Zeit jedenfalls, keine. Verdächtige Person: Fehlanzeige. Habe auch einen Kollegen der Wasserschutzpolizei befragt. Und ...“, Scholtysek unterbrach ihn abrupt. War verärgert. „Das sollte doch TOPSECRET ablaufen. Warum diese Frage an einen Externen?“ „Keine Bange Herr Kriminaloberrat. Habe bloß allgemein gefragt, nicht mit Anspielung auf den Fall.“ „Nun denn. Beachten, ja!“

Heller und Degoth hatten sich noch nicht gemeldet. Auch deren kurze Statements erwartete er noch. In Putbus stand zu diesem Zeitpunkt die wöchentlich konspirative Sitzung kurz bevor. Vier Herren trafen sich in einem historischen Raum. Der in einem kühlen, dunklen Gewölbe versteckt war. Heute sollte der nächste Coup vorbereitet werden. Gerade stiegen sie die steile Treppe nach unten. Einige Meter unter der Erde war es feucht und kalt. Der Zugang zu dem in der Mitte des Gewölbe liegenden Raum, das war Pflicht, durfte stets nur im Dunkeln erfolgen. Die Männer des Rügenschwurs trafen hier zu ihren konspirativen Sitzungen zusammen. Kein Mensch durfte je erfahren, dass dort überhaupt Treffen stattfanden. Es handelte sich schließlich ausschließlich um ehrbare Bürger, denen niemand was Unrechtes nachsagen mochte. Noch immer hatte die Kripo sie nicht erwischt, obwohl die Beteiligten, auch die aus dem äußeren Ring, von Ermittlungen dahingehend berichteten. Aufhalten konnten sie wohl niemanden. Sie waren so vertieft in der fixen Idee einen Gutmenschen zu spielen. Was ja an und für sich durchaus tolerabel gewesen wäre. Aber so homogen war die Gesprächsrunde nun auch wiederum nicht. Es gab einige Herren, die ihre Mitverschwörer nutzten, um sich Alibis zu verschaffen. Doch die waren nicht in das mörderische Spiel eingeweiht. Die Leichen, der in der Vergangenheit ermordeten Menschen, waren an vielen Orten der Insel vergraben oder im Meer versenkt. Und diese Männer hatten nur ein Ziel: aus dem Weg räumen was sich bei ihren Raubzügen in den Weg stellte. Die Gier stand für sie im Vordergrund. Die zweigeteilte Gruppe, ein Teil als Gutmensch getarnt, die andere als Gutmensch gelebt, wussten voneinander nur einseitig. Das wahre Gesicht der eigentlichen Übeltäter blieb ihnen bislang verborgen. Da stießen zwei Typen von Menschen aufeinander, die, jeder für sich, ihre Ziele verfolgten. Es ging um Gier und Leidenschaft. Die einen waren seit Jahren dabei, mit allen Mitteln. Schreckten nicht mal vor Morden zurück. Die anderen waren mit Leidenschaft dabei armen Bürgern zu helfen. Dabei vernachlässigten sie allerdings bis heute, hinter die Kulissen zu schauen. Sie waren betriebsblind geworden, könnte man sagen. Heute ging es mal wieder um Raubzüge, deren Beute an die Nachfahren der Störtebeker verteilt werden sollten und vor allem an die armen Menschen auf der Insel. Die Leute die vom Wohlstand der Gesellschaft, auch in der heutigen Zeit wieder, abgehängt wurden.

„Ganz in der Tradition des Störtebekers“, fügte Dr. Wohlgelegen mit süffisantem Lächeln hinzu. Seine Äußerung klang beinahe sarkastisch. Sein Blick blieb eiskalt. Unter diesem Deckmantel ließen sich selbst seriöse Männer angeln! Doch im Hintergrund triefte es vor lauter Brutalität. Dieser Teil der Verbrecher, hatte sein Versteck in Granitz. Es waren ausschließlich verdungene Männer, die in der Vergangenheit schon viele Straftaten begannen. Einige davon waren gar Mörder und gingen, im wahrsten Sinne des Wortes, über Leichen! Hier, im Gewölbe war allerdings absolut nichts davon zu spüren, so seriös lief in der Regel alles ab. Es blieb alleine die Frage, ob aus Unvermögen oder Blindheit dem Ziel der Rädelsführer gefolgt wurde!


KHK Heller gab das zuvor vereinbarte Startzeichen. Das Signal zum Angriff. Beinahe synchron sprangen sie hoch und wagten es. Dabei riefen sie dem Kerl zu: „Halt, ganz ruhig stehen bleiben, langsam umdrehen, ja keine falsche Bewegung! Ich wiederhole: drehen sie sich ganz langsam um und halten sie die Hände hinter dem Kopf.“

Der Kerl folgte der Aufforderung, schaute überrascht und verwirrt zugleich, wie sie erkannten, als er in ihre Gesichter guckte. Damit hatte er nie gerechnet! In der Hand hielt er lediglich einen Korb, gefüllt mit Lebensmitteln. Schneider durchsuchte ihn, fand aber keinerlei Waffen. Nein das war nicht der Mann, mit dem sie gestern am Ufer sprachen. Heller begann mit einer kurzen Befragung. Da er unbewaffnet war konnten sie ihn ohne Haftbefehl schon gar nicht festnehmen. Dann ging ihm durch den Sinn, dass der Helfer von Frederiksen Friedrich hieß. Das musste also, wenn es denn zutreffe, ein anderer Komplize sein. Und dann fielen ihm die Worte von Degoth am Vormittag ein. Und danach, als die Bilder aus Stralsund gezeigt wurden, die Aussage von Christmann. „Es muss der Gustavson sein.“ Er wagte den Bluff.

„Nun, Herr Gustavson, was suchen sie alleine in dieser einsamen Gegend?“

Gut geblufft ...., dachte er, denn sofort merkte er, dass der Bursche zuckte. Ziemlich verwirrt drein schaute. Eine Widerrede gab er nicht.

„Also warum antworten sie nicht“, hakte Heller nach, als er feststellte, dass er den richtigen Einstieg fand.

Wie angewurzelt stand der besagte Gustavson unverändert auf dem Podest vor der Tür! Kein Mucks kam über seine Lippen. Just in dem Moment stieg ihm in den Kopf: „sprach nicht gestern der Degoth auch davon, dass der Störtebeker und seine Leute Ende des vierzehnten Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts ganz in der Nähe, in einer Schlucht in Sassnitz hausten? Oder irrte er?“ Und das wäre ja ganz in der Nähe gewesen, sagte er sich. Sein Kollege bestärkte ihn bei dem Gedanken. Auch er hätte dies so in Erinnerung. Schleierhaft blieb ihnen nur, was diese Vorfälle mit den heutigen Geschehnissen zu tun haben konnten? Insofern fühlten sie sich doch wieder ratlos!


Degoth befand sich gerade in Ralswiek. Nachdem er zunächst in der Nähe des Bodden recherchierte, ging er hoch zu dem Festspielgelände. Neue Erkenntnisse konnte auch er noch nicht vorweisen. Dann kam ihm die spontane Idee, dem imposanten Schloss Ralswiek einen kurzen Besuch abzustatten. Später könne er immer noch in das Gelände marschieren. Er erhoffte sich dort eventuell Hinweise zu finden, die mit dem Fall zu tun haben könnten. Reale Hintergründe oder gar einen Verdacht, hatte er zwar dafür nicht, wer weiß, wen......... Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass hiesige Verbindungen zur Geschichte Rügens eine Rolle spielen könnte. Dafür hatte ihn der KOR dieser Tage zwar noch belächelte. Doch auch auf die Gefahr hin wieder belächelt zu werden, verfolgte er diese Spuren erneut. Die Nachfahren des Störtebekers kamen ihm in den Sinn. Ihr Verhalten die Tage, besonders von dem Herrmann, der so undurchschaubar war, fand er irgendwie seltsam. Auch der Auftritt des Theaterdirektors Robert Dissieux, ließ bei ihm Zweifel aufkommen. Als er mit Scholtysek vor zwei Tagen hier oben war, kam er ihm irgendwie suspekt vor. Warum war er auf der einen Seite so hilfsbereit und auf der anderen so verhalten, ja zusehends richtig nervös geworden? Auf der Terrasse des Schlosses eingetroffen bestellte er eine Tasse Kaffee. Zur Auswahl eines Stück Obsttorte, musste er an die Kuchentheke, die sich im Innenbereich befand, gehen. Er stand nun im Foyer, warf suchend seinen Blick zum Restaurant, als ihn derart die Blase drückte, dass er eilig den Weg zur Toilette ansteuerte. Hierbei schaute er, wie beiläufig, in Richtung des Tresens. Plötzlich stutze er. Hielt kurz inne. Stutzte wieder. Dann erinnerte er sich. Es war der Herrmann von gestern. „Schau mal an!“, nuschelte er in den Bart. Und dachte: „schließlich ist jeder ein freier Mensch, kann hingehen wohin er will!, aber...“

Nach dem Toilettengang saß der Herrmann noch immer am Tresen. Diesmal allerdings in Begleitung eines fremden Mannes. Jetzt wollt er es genau wissen. Wer könnte dieser Fremde sein? Schnurstracks stolzierte er deshalb zur Kuchentheke, die in unmittelbarer Nähe stand. Er wählte ein Stück Torte aus. Natürlich von der Sorte, die ihm stets am besten schmeckte, einer Schwarzwälder! Immer wieder schielte er dabei zu den Männern. In diesem Augenblick drehte sich der fremde Kerl in seine Richtung. Stralsund ging ihm sofort in den Sinn. Und, dass Christmann von einem Gustavson sprach. Das muss er sein. Ja, tanzt der auf mehreren Hochzeiten? Morgens Stralsund, nun Ralswiek? Als wolle er sich bestätigen, wiederholte er mit seinen Lippen: „Ja, er ist es wirklich.“

Das markante Gesicht, mit den breiten hervorstehenden Backenknochen, hatte er deutlich registriert. Er ahnte nicht, dass der besagte Gustavson in der Frühe gar noch am Kreidefelsen aktiv war. Als er wieder hinaus auf die Terrasse trat, murmelte er leise vor sich hin: „Das wird ja immer mysteriöser.“

Sofort wurde ihm klar, dass er nun Christmann, der in Sellin weilte und den Kerl suchte, schleunigst unterrichten musste. Er griff, als er an dem kleinen schwarzen Bistrotisch saß, in seine Jackentasche und kramte sein Mobilfunkgerät raus. Die Telefonnummern der Kripokollegen hatte er längst alle gespeichert.

„Christmann“, tönte es auf der auf der anderen Seite der Leitung! „Ja, Code ....“, gab Degoth von sich.

„Ach sie sind es“, kam es zurück. „Warum so hastig?“

„Also auf den Gustavson brauchen sie nicht mehr länger warten. Der sitzt nämlich hier oben im Ralswiek im Schloss Kaffee. „Das er dort mit dem Herrmann saß, hatte er in der Eile versäumt zu erwähnen.

„Na das ist ja` n Ding!“, hörte er Christmann bloß nachdenklich äußern. „Und ich stehe hier herum.

„Also, wenn sie mich fragen, sollten sie jetzt dringend ihre Kollegen im Nationalpark Jasmund unterstützen. Da läuft doch was schief. Das ist hier oben sicher nur ein Ablenkungsmanöver, während die am Wissower Ufer wieder was Neues ausbrüten. Was auch immer!“, setzte Degoth eifrig nach.

„Ich rufe zuerst den Chef an. Der soll koordinieren. „Gab Christmann dann unsicher von sich.

„Prima. Wenn sie meinen. Sagen sie ihm bei dieser Gelegenheit bitte, dass er mich hier oben verstärken muss. Ich warte auf seinen Anruf.“

„Selbstverständlich. Wird gemacht Herr Degoth und danke für die rasche Information.“

Dummerweise hatte Heller vor einigen Stunden in der Eile verschwitzt, Christmann zu unterrichten, dass er Gustavson am Holzhaus traf. Jetzt ging alles doch einen anderen Gang, als sich Scholtysek und Degoth ursprünglich vorstellten. Und das mit dem Raimund, mussten sie auf Grund der neuen Situationen eh auf morgen verschieben. Jetzt konzentrierte er sich wieder auf die beiden Kerle im Innenraum. In keinem Falle durfte er diese nun aus den Augen verlieren. Zumindest solange, bis Scholtysek eintraf. Dann konnten sie gemeinsam Maßnahmen ergreifen. Gerade erhob er sich, als sein Mobiltelefon, welches er grundsätzlich auf vibrieren stellte, brummte. Da hatte er seinen Grundsatz: bei Ermittlungen und überhaupt in der Öffentlichkeit, muss es auf stumm gestellt sein. „Scholtysek. Hallo Degoth. Gerade höre ich von der neuen Situation. Keine Frage, ich komme

sofort hoch. Christmann ist bereits auf dem Weg zu Heller. Das haben sie richtig eingeschätzt, Herr Kollege!“ Beide lächelten in die Hörer. „Also bis später.“


Als der Chefermittler in Ralswiek eintraf war es dreizehn Uhr. Nachdem er seinen Wagen auf dem großen Parkplatz am Bodden abstellte, ging er direkt hoch, auf die Terrasse des Schlosskaffees. Unmittelbar gab ihm Degoth, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, den Hinweis, wo die besagten Männer saßen. Inzwischen hatte sie ihre Barhocker verlassen und standen am Tresen. War es das aufgeregte Gespräch was sie trieb? Fragten sie sich. Ansonsten war noch nichts Auffälliges zu deuteln. Plötzlich räusperte sich Scholtysek und äußerte: „Das ist kein Zufall. Die treffen sich hier um ungestört reden zu können. Der Herrmann dachte nicht, dass wir so schnell wieder auftauchen. Sicher nicht. Und der Gustavson wurde mit Bestimmtheit gebeten das Treffen wahrzunehmen. Letztendlich kommt es mir wie ein Ablenkungsmanöver vor. Wie schätzen sie das mittlerweile ein?“

„Genau. Dachte ich vorhin auch“,erwiderte Degoth kurz und bündig. Dann brachte er seine Sorge zum Ausdruck, dass in diesem Moment am Wissower Ufer etwas schief laufen könnte. „Ob die Kollegen es mit den Beiden, dem Friedrichs und Noll, überhaupt aufnehmen können.“, bemerkte er besorgt. „Und was wäre, wenn der Friedrichs noch ein weißes Paket bei sich tragen würde?“

Scholtysek nahm es zur Kenntnis. Kommentierte diese Aussage aber nicht. Stattdessen formulierte er: „Ich denke, wir sollten die Kerle hier nicht nur beobachten, sondern auch herausfordern, sie dingfest machen. Wenn möglich! Den Tag müssen wir dran hängen. Der Sache mit dem Raimund können wir dann morgen auf den Grund gehen. Also lassen sie uns überdenken, wie wir es am geschicktesten angehen.“

„Ist sicher der geeignetste Weg. Doch langsam kommt es mir vor als gäbe es auf Rügen einen Flächenbrand. Was heißt da noch Insel der Glückseligen? Meinen sie nicht auch, dass es hier um eine Verschwörung geht?“

„Soweit dachte ich noch nicht, aber jetzt, wo wir drüber reden, geht mir ein Licht auf; da könnte etwas dran sein!“

„Schnellmerker, wie!“, sagte Degoth lächelnd.

„Besser als nie“, konstatierte Scholtysek. Der es locker nahm. Sie lachten sich gegenseitig an. Während sie observierten rekapitulierten sie erneut.

„Durchleuchten wir es mal so: Da der Raimund, der ursprünglich unbekannte Landstreicher, der eine zwielichtige Rolle einnimmt. Dort die Herren Friedrich und Noll, die mit einem Skelett, wenn auch noch nicht nachweisbar, zu tun haben könnten. Auf der anderen Seite der Herrmann in Ralswiek mit seinen seltsamen Äußerungen. Dann taucht der Gustavson plötzlich in Stralsund auf und erscheint nun hier oben.“ „Und“, folgerte Degoth, „nicht zu vergessen, auch am Holzhaus war. „Dann schließlich noch der Helfer von Friedrichs am Wissower Ufer. Ich meine den mit dem Lebensmittelkorb. So berichtete ja Heller zumindest. Der muss doch ebenso darin verstrickt sein.“ Scholtysek stimmte Degoth, immer nachdenklicher werdend, zu. Auch er sah einen gewissen Zusammenhang. Er konnte es nicht mehr leugnen.

„Richtig, den Friedrichs müssen wir auch überwachen“, sagte er wie aus der Pistole geschossen. Degoth schaute ihn darauf hin ziemlich verdutzt an. Dann philosophierten sie weiter. Sie stellten fest, dass der kein Unwissender sein konnte, mit den Verbrechen was zu tun haben musste? Dabei trat nochmals in den Mittelpunkt, dass die bislang bekannten Männer Gemeinsames verbinden musste. Diesmal ließen sie es nicht mehr außer Acht! Die jeweils drei Schnitte am rechten Oberarm, bei jedem drauf, was hat es bloß zu bedeuten? Das fragten sie sich auch in diesen Minuten wieder.


„Nun“, so Scholtysek, „richtig Degoth, wenn der Helfer bei Friedrichs diese Schnitte auf dem rechten Arm auch hat, dann ist es eindeutig, dass es sich um eine Verschwörung handeln muss. Dann müssen wir alle dingfest machen und durchleuchten, um jeden Preis! Zimperlich dürfen wir da nicht mehr sein. Wäre fatal. Sonst könnten weitere Morde die Folge sein.“

Und vor allem, die Frage bleibt doch, wie viele Morde haben die überhaupt schon auf dem Kerbholz? Über welchen Zeitraum erstreckt sich dies bereits und so weiter? Fragen über Fragen Herr Scholtysek: Der Fall wird immer umfangreicher, noch umfassender als ich mir anfangs vorstellen konnte.“

„Da stimme ich ihnen zu. Habe auch schon gegrübelt, ob ich nicht deshalb den Kollegen aus Stralsund einschalten sollte. Schließlich strahlt es ja bis dahin aus!“

„In der Tat, sie sollten es! Sehe ich mittlerweile ebenso.“


Der kurze Dialog war beendet, als sich das Mobiltelefon meldete. Heller war am Apparat. „Wir haben den Helfer von Friedrichs verhört. Richtig auseinander genommen. Ergebnis, was denken sie? Genau, er weiß mehr, bekam es wohl mit der Angst zu tun. Es kommt noch verrückter, er hat, wie die anderen Kerle, am rechten Arm die drei Zeichen!“

„Ist ja unfassbar“, so Scholtysek. „Da werd` ich ja verrückt. Oder wie sagen wir Berliner: „Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt!“

„Ja und die anderen Burschen, der Friedrichs und der Noll, was ist mit denen?“

„Laut dem Helfer, der übrigens, wie sich schnell raus stellte, Frederiksen heißt, würden die unterwegs sein und nicht vor morgen in der Frühe zurück. Meine Einschätzung: der scheint so eine Art Handlanger von dem Friedrichs zu sein. Einen besonders cleveren Eindruck macht er wirklich nicht. So ein Depp schien dem willkommen zu sein! Also vor morgen kommen wir hier nicht weiter. Natürlich Chef, habe ich den Kerl verdonnert die Kollegen ja nicht zu warnen. Er stimmte ängstlich zu. Aber hält er sich daran, das ist hier die Frage. Die Spurensicherung hat alles bereits unter die Lupe genommen. Für alle Fälle! Zunächst im Haus und dann am Ufer. Auch von dem Frederiksen wurden Fingerabdrücke genommen. Da hat die Forensik auch was zu tun! Und wie läuft es bei ihnen in Ralswiek?“, lenkte er geschickt über.

„Wir sind dabei den Herrmann und den Gustavson Fallen zu stellen. Ob es funktioniert bleibt offen. Aber das wollen wir heute noch erledigen. Also Heller, grüßen sie die Kollegen und fahren sie nach Bergen zurück. Wir sehen uns morgen gegen neun Uhr im Büro. Dann erörtern wir weiter und legen

den Ermittlungsplan für den Tag fest. Machen sie sich bitte Gedanken. Schadet nichts, wenn mehrere Vorschläge diskutiert werden können.“ Gab sich der KOR generös. Was sonst eher nicht sein Fall war. Er sah es gerne, wenn die Kollegen, Mitarbeiter, auf seine Gedanken einstiegen. Was war heute bloß in ihn gefahren, sinnierte Heller.

„Danke Chef und bis morgen“, wollte er gerade das Telefonat beenden, als ihm einfiel, was Scholtysek zuvor in einem Nebensatz erwähnte. „Aber halt. Verdammt! Was sagten sie: Der Gustavson ist in Ralswiek?“

„Ja, sie haben richtig verstanden! Warum plötzlich so unruhig Heller? Ist was?“,erstaunte er sich. „Ganz einfach. Der Kerl war doch noch vor etwa zwei Stunden am Holzhaus. Einen Korb mit Lebensmittel hatte er in der Hand. Zunächst fummelte er an dem Schloss herum. Dann haben wir ihn gestellt. Nachweisen konnten wir ihm allerdings nichts. Wir waren kurz im Haus, haben uns einen Eindruck verschafft, dass war es.“

„Und, war er....“, griff der KOR ein.

Heller schien seine Frage zu ahnen und unterbrach ihn. „Ja, er war alleine, richtig. Als wir uns näher umsahen, unseren Ermittlungen folgten, war er plötzlich weg. So ein Mist! Wir waren zu oberflächlich.“

„Das können sie laut sagen. Warum haben sie mich nicht sofort angerufen? Oder wenigstens Christmann?“, gab sich Scholtysek nun erbost. „Tja, eben alles verpennt! Oh, Entschuldigung, ich meine fehl eingeschätzt!“, räusperte sich Heller verlegen.

„Nun, es ist wie es ist. Ab jetzt dürfen solche Dinge aber nicht mehr durchgehen, klar?“


Scholtysek fasste nun mit Degoth den Plan, jeden der Kerle anzurufen. Die Telefonnummer des Restaurants ließen sie sich von einem Kellner unter einem Vorwand besorgen. Sie verabredeten, dass Degoth den Gustavson und Scholtysek den Herrmann beschatten sollte. Dafür riefen sie nacheinander, in Abständen von fünf Minuten, auf der Telefonnummer des Restaurants an. Der Chefermittler tat es für Degoth und dieser für ihn. Zu diesem Anlass suchte sich Degoth auf Anraten des Kriminaloberrats einen Decknamen.

„Guten Tag, mein Name ist Graffion. Bin ich richtig verbunden? Ich meine mit dem Restaurant

Schloss Ralswiek?“

„Ja Herr...., wie war ihr Name bitte?“

„Graffion!“

„Nun Herr Graffion, was kann ich für sie tun?“

„Ich würde gerne mit einem Herrn Gustavson sprechen. Wie ich von einem seiner Kollegen hörte sei er derzeit hier anzutreffen.“

„Keine Ahnung, aber einen Moment bitte, ich höre selbstverständlich gerne nach.“

Der Kellner schaute am Tresen entlang und fragte nach dem besagten Gustavson. Der meldete sich und kam, wenn auch ziemlich irritiert, ans Telefon.

„Gustavson hier. Wer spricht?“

„Hallo Herr Gustavson, das ist ja nett, dass ich sie erreiche. Einer ihrer Freunde verwies mich am Vormittag an sie.“

„Wie, was , … wer war das?“ Tat er irgendwie aufgeregt.

„Ein gewisser Noll.“

„Ach der Noll? Kennen sie sich?“

„Ja, wir haben uns gerade dieser Tage wieder gesehen. Haben sie mal eine viertel Stunde für mich? Bin gerade in der Nähe hier in Ralswiek und würde gerne vertraulich mit ihnen sprechen. Laut Noll seien sie der Spezialist für geheime Aktionen!“

„Nun, da Noll sie an mich verwies, OK. Denn normalerweise reden ich mit unbekannten Leuten nicht über meine Arbeiten. Schon gar nicht am Telefon.“, setzte er dann nach.

„Das ist freundlich, also sagen wir in einer halben Stunde? Meinen sie das geht?“

„Ja in Ordnung. Wo wollen wir uns treffen?“

„Ich schlage den Platz an der Schwedenkirche vor. Da ist es ruhiger und wir sind nicht mitten im Trubel. Einverstanden?“

Er stimmte zu. Scholtysek hatte ihm alles übermittelt und Degoth, mit dem Decknamen Graffion, bereitete sich vor. Jetzt rief dieser, sich als Scholtysek ausgebend, im Restaurant an. Auch der Herrmann konnte schließlich überzeugt werden, war zu einem Treffen bereit. Dieses Gespräch sollte dann am Waldesrand, oberhalb des Schlosses, stattfinden. Ihm wurde nun die Geschichte aufgetischt, dass der Friedrichs, er sei ja ein Bekannter von ihm, Scholtysek an ihn direkt verwiesen hätte. Verdacht schienen sie beide nicht geschöpft zu haben! Während Degoth mit dem Wagen zur Schwedenkirche fuhr, machte sich der Chefermittler auf, hoch an den Waldesrand. Inzwischen war es fünfzehn Uhr und die Sonne stand in voller Pracht am Sommer - Himmel. Es war warm, aber Gott sei Dank, nicht heiß! Von weitem sah Degoth, alias Graffion, dass der Gustavson bereits an der Schwedenkirche wartete. Es war ihm also doch wichtig. Dachte er. Da er mit einem neutralen Wagen anfuhr, war ein Rückschluss auf einen Polizeieinsatz nicht möglich. Er stieg aus und ging freundlich auf ihn zu. Auf Begleitschutz hatte er verzichtet. Obwohl er nicht einschätzen konnte, wie der Kerl reagieren würde.

„Guten Tag“, sagte er. Sie sind also Herr Gustavson?“

„Ja, das ist mein Name.“

„Dann habe ich also zuvor mit ihnen telefoniert.“

„Genau. Was haben sie auf dem Herzen und wie ist nochmals ihr Name?“

Er hatte also nur halbherzig hingehört, seinen Namen vergessen, ging Degoth, alias Graffion, durch

den Sinn.

„Ich bin der Graffion.“

„Gut, gut. Wo brennt's?“, machte er nun in Eile.

Degoth, alias Graffion, blieb ruhig. Er berichtete ihm ausführlich, als wäre ausreichend Zeit verfügbar, das, was er sich umfangreich zurecht legte. Das er eine große Aktion plane. Er dafür einige furchtlose Männer benötige. Die sollten aber auch umsichtig und verschwiegen sein. „Am liebsten wäre mir ein Mann, der sich mit der Hehlerei professionell auskennt“, machte er ihm deutlich. „Einer, der nicht lange fragt warum was läuft! Der letztendlich Erfahrung auf dem Gebiet mitbringt.“

Er erwähnte nochmals, dass Noll ihn als Referenz nannte. Dann ergänzte er, beobachtete dabei allerdings akribisch seine Mimik:

„Um es vornweg zu sagen, auch Mord ist nicht ausgeschlossen. Was halten sie davon?“

„Also Mord, das lehne ich kategorisch ab. Über alles andere lässt sich reden!“

„Warum lehnen sie so eisern ab?“

„Morde überlasse ich anderen Kollegen. Das war und ist so. Stets. Klipp und klar sage ich es von vorne rein.“

Degoth merkte, dass es ihm damit ernst war. Er bohrte jedoch weiter. Wollte herausfinden, ob er bei Transporten von Leichen, die verbuddelt werden sollten, helfen würde.

„Gut. Darüber könnten wir reden. Kommt auf die Bezahlung an!“

„Also verstehe ich, sie würden!“

„Ja, im Prinzip noch drin!“

„Verbleiben wir so, ich rufe sie morgen, spätestens übermorgen erneut an. Wie erreiche ich sie?“

„Hier gebe ich ihnen meine geheime Handynummer, bitte notieren sie!“

Degoth notierte und war ziemlich verwundert, dass er diese ohne Umschweife erhielt. „Ein heller Köpf“, sagte er sich, „kann es wirklich nicht sein.“


Scholtysek hatte da schon einen härteren Brocken zu spalten! Der Herrmann war ein gewiefter Bursche. Unnahbar und angriffslustig. Sie trafen sich am Waldesrand, dem verabredeten Treffpunkt. „Also Herrmann, da sind sie ja. Schön, dass sie Zeit hatten. Wie läuft das Geschäft?“

„Was heißt Geschäft, ich stehe dem Ensemble des Theaters zur Verfügung. Sonst nichts!“

„Aber wer das glaubt wird selig, wie es so nett heißt! Der Friedrichs hat mich an sie verwiesen, sie seien ein ausgefuchster Helfer bei besonders schwierigen Fällen!“

Gott sei Dank erkannte er Scholtysek nicht mehr. Denn das hätte den ganzen Plan durcheinander gebracht.

„Aber zur Sache. Was wollen sie?“, sagte Herrmann ungehalten.

„Nun, ich beabsichtige ein großes Rad zu drehen! Dabei ist durchaus möglich, dass auch Morde unvermeidbar sein könnten. Nein, zwingend ist es nicht, aber auch nicht ausgeschlossen. Da würde ich einen Mann wie sie gut gebrauchen können. Wie stehen sie dazu?“

„Das ist für mich alles eine Frage des Geldes. Ich meine nicht nur für mich alleine, ich gebe auch stets davon Geld an Bedürftige, die Menschen, die sich nicht selbst helfen können. Insofern sehe ich hier kein Unrecht.“

Scholtysek war verdutzt, aber er hakte nicht nach! Es war noch viel zu früh. „Prima, das würde ja passen. Heißt dies, sie würden bei Bedarf zur Verfügung stehen?“

„Im Grunde ja, wenn sie mir sagen wo was wie laufen soll!“

„Bitte haben sie Verständnis, aber heute ist das leider noch nicht möglich. Erstens wollte ich mir von ihnen einen Eindruck verschaffen und zweitens muss ich noch mit einem anderen Kollegen hierüber zu reden. Er muss zunächst seine Zustimmung geben. Was halten sie davon?“

„Nun gut. Hier meine Telefonnummer, da können sie mich täglich erreichen.“

„Verbleiben wir so, ich rufe sie also morgen, spätestens übermorgen an. Dann machen wir alles perfekt oder auch nicht! Stimmen sie immer noch zu?“

„Ja, rufen sie an, ich warte!“

Der Fisch biss an, jauchzte er. Aber auf die Ermittler kam nun besonders viel und harte Arbeit zu. Es galt, den Noll und den Friedrichs von alle dem fern zu halten. Wenn das gelänge, so diskutierten Degoth und Scholtysek auf der Rückfahrt nach Bergen, „wären wir einen großen Schritt weiter.“ Das Duo motivierte sich auf diese Art, wie schon die Tage zuvor. Dabei dachte Degoth, Chantal wird große Augen machen, richtig sauer auf mich sein. So gesehen war er auch traurig, dass er erneut so wenig Zeit mit ihr verbringen konnte.


In Bergen eingetroffen, es war mittlerweile bereits achtzehn Uhr, fuhr Scholtysek gerade auf den Parkplatz des Polizeigeländes. Degoth sah sofort seine Liebste. Sie machte einen fröhlichen Eindruck und kam beschwingt an den Wagen.

„Ich bin müde Michel, war den ganzen Tag auf den Beinen. Gelangweilt, wenn du das meinst, habe ich mich nicht, um es vornweg zu sagen. Es ist eine schöne Region. Und gut gegessen, typisch Norddeutsch würdest du sagen, habe ich auch.“

Er nahm sie in die Arme, drückte sie zärtlich an sich und küsste sie. Dann verabschiedeten sie sich von Scholtysek bis zum kommenden Tag. Der war in dem Augenblick wieder in Gedanken bei seiner Ruth. Deshalb ging er, bevor er in seinen Wagen stieg, nochmals in sein Büro. Er spekulierte, dass Frau Ofenloch vielleicht noch da sei. Im Gehen begriffen, rief er Degoth noch zu: „also bis morgen um zehn Uhr, wie verabredet. Bis dahin habe ich einen Tagesplan erarbeitet, den wir diskutieren sollten. Guten Abend Frau Degoth. Dann ging der Chefermittler ins Präsidium und Michel und Chantal fuhren zurück nach Stralsund.

Unbewältigte Vergangenheit

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