Читать книгу Unbewältigte Vergangenheit - Henry Kahesch - Страница 6

Mittwoch, 30. Juli 2008

Оглавление

Als der Wecker läutete lag Michel Degoth bereits wach in seinem Bett. Er kniff seine Augen, noch unentschlossen, ob er wach werden wollte oder nicht, fest zusammen. Dabei fragte er sich, ob er aufstehen sollte oder ..... Chantal, die neben ihm im Bett lag, schlief noch selig. Als nächster Gedanken kam ihm gleich das gestrige Geschehen wieder in den Sinn. Nicht zuletzt deshalb, weil er schließlich in den Rügener Kriminalfall professionell eingebunden wurde. Er lächelte, denn er wusste, dass er es mal wieder drauf angelegt hatte beteiligt zu werden. Bei der umfangreichen Sachlage, befand er, sei es ja eine spannende Geschichte. Gott sei Dank hatte er eine ruhige Nacht. Jetzt blinzelte er in den noch halbdunklen Raum und erinnerte sich sofort an den bevorstehenden Termin mit Kriminaloberrat Scholtysek. Schleunigst stieg er, dadurch angespornt, aus seinem Bett. Etwas schlaftrunken torkelte er ins Bad. Wortkarg wie er morgens stets war, freute er sich alleine seine Morgentoilette verrichten zu können. Doch gerade zurück im Zimmer, schwankte ihm Chantal doch schon entgegen. Sie war eben aufgestanden. Als er bemerkte, dass sie im schlaftrunkenen Zustand beinahe gegen die Tür zu schlagen drohte, hielt er ihr schnell die Badezimmertür auf, sie flüsterte bloß: „Danke Chérie!“ Denn sie war der Meinung, er wollte bloß, wie immer, höflich sein. Jetzt lächelte er sie an, sagte aber keinen Ton. Es dauerte heute nicht so lange wie sonst, gerade mal dreißig Minuten, bis sie wieder vor ihm stand. Und kurz danach verließen sie schweigsam das Hotel.

Das Restaurant gegenüber lag schon in der frühen Morgensonne. Mitteilsam war Degoth heute während des Frühstückes wirklich nicht. Aber auch seine Frau schaute ihn bloß, mit der ihr morgens eigenen Mimik, von der Seite an. Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatten, standen sie lakonisch auf und nahmen den Weg zum Parkplatz. Ihren Sportwagen sahen sie bereits von Weitem. Im Grunde war es etwas zu früh schon nach Bergen zu fahren. Denn gerade schlug die Uhr des Kirchturms viertel vor neun. Schließlich war der vereinbarte Termin mit Scholtysek erst für zehn Uhr angesetzt. Doch Michel wollte pünktlich sein. Gerade beim ersten Termin, sagte er sich.


Der Chefermittler Scholtysek stieg gerade aus seinem Wagen, als der flotte Sportwagen von Degoth um die Ecke bog. Der sportliche Sound erzeugte seine Aufmerksamkeit, deshalb drehte er sich um und sah seinen Co – Ermittler. Der wiederum erkannte an der spezifischen Autonummer, dass es sich um ein Dienstfahrzeug vom Kriminaloberrat handelte. Aufeinander zugehend, begrüßten sie sich freundlich.

„Gehen wir zunächst in mein Büro Degoth“, sagte Scholtysek und räusperte sich.

„Meine gute Seele wird den Kaffee schon bereit halten“, schob er nach.

Chantal ging derweil ihrem großen Hobby nach. Sie „bummelte“ vergnügt durch die Fußgängerzone.

Heller, der erste Offizier, wartete schon im Besprechungszimmer. Mit dabei war sein Mitarbeiter und Kollege, Kriminaloberkommissar Heinz Christmann. Er war der zweite Polizeioffizier, der im Präsidium kurz als KOK bekannt war. Den guten Morgenkaffee von Frau Ruth Ofenloch, der Chefsekretärin, tranken sie genüsslich. Dabei erörterten sie die Vorfälle von gestern. Skelett, Tage davor die Leiche, die mysteriösen Kerle auf dem Steg und schließlich der verlotterte Mann auf der Uferpromenade der Degoth um Hilfe bat. Gerade warteten sie auf erste Ergebnisse der Rechtsmedizin, damit der Fall oder waren es gar mehrere unterschiedliche Fälle, sinnierten sie immer wieder, zielgerichtet angegangen werden konnte.

„Also gehen wir rüber Degoth. Ich hoffe, dass Heller und Christmann weitere Ergebnisse vorlegen können.“

Als sie den Besprechungsraum betraten standen die beiden Offiziere am Fenster und unterhielten sich angeregt.

„Das ist Kriminaloberkommissar Christmann. Als Stellvertreter von Kriminalhauptkommissar Heller und selbständiger Gruppenführer, haben wir gestern noch verabredet, dass er ebenfalls von Beginn an in den Fall eingebunden sein soll.“

„Macht Sinn!“, nuschelte Degoth in die Runde, als wäre er schon Jahre im Team.

Sie erfuhren, dass von der Rechtsmedizin noch keine verwertbaren Spuren vorlagen. Schon gestern, als sie sich darüber unterhielten, hatten sie nur vage Hoffung gehegt, dass heute in der Frühe schon etwas verwertbares vorliegen könnte.

„Da haben wir Pech. Ich kenne die Probleme seit Jahren. Es brennt uns zwar stets auf den Nägeln, aber es muss schließlich auch Hand und Fuß haben. Obwohl die Spürnase auf Sturm steht“, beschwichtigte Heller, der spürte, dass es einer Erklärung bedurfte. Das verstand auch Degoth. Und er meinte: „Sollten wir nicht mal selbst bei dem Leiter der Rechtsmedizin vorsprechen?“

„Hat wenig Sinn. Es ist so. So schnell schießen die Preußen halt doch nicht, mein lieber Degoth. „Mischte sich Scholtysek ein und grinste ihn süffisant an.

„Im Übrigen kenne ich den Kollegen dort sehr gut. Er ist mein Pedant in der Rechtsmedizin, allerdings auch der Zuverlässigste den ich kenne. Also, keine Sorge was das betrifft. Wir erhalten die Ergebnisse schon. Und pingelig wie er ist, exakte.“ Drückte er dann geflissentlich nach. Scholtysek bat Heller zu berichten, was sich in den ersten beiden Stunden dieses Arbeitstages sonst ermitteln ließ. Schnell stellte sich heraus, dass die Wasserschutzpolizei den Eigentümer des Liegeplatzes ermitteln konnte. Zumindest namentlich. Ein Kollege bestätigte später, dass es in der Tat einem gewissen Friedrichs gehöre. Er hätte ihn schon mehrmals, soweit er sich erinnern könne, immer vom Landesteg Richtung Nationalpark Jasmund fahren sehen. Diese Erkenntnis half so gesehen allerdings auch nicht viel weiter.

„Nun gut“, räusperte sich Scholtysek nach einer Schweigeminute“, aber er muss doch eine Adresse haben, einen ständigen Wohnort oder so, wenn er als Eigentümer eingetragen ist.“

Christmann schaltete sich ein: „Ja, die wurde gerade durchgegeben. Es ist tatsächlich eine Adresse im Nationalpark.“

„Was heißt Nationalpark? Das erstaunt mich irgendwie. Erst kürzlich erfuhr ich, dass dort keine Menschenseele wohnt! Geht er dort einer Arbeit nach? Wenn ja, welcher? Also, sputen sie sich und finden es schleunigst heraus, meine Herren. Schließlich könnte es ein konkreter Ansatz für die weiteren Ermittlungen ergeben.“

Das wollte und konnte sich Degoth nun nicht mehr mit anhören. Er ergriff unaufgefordert das Wort:„Glauben sie wirklich, dass der Nationalpark Jasmund als Tatort eine Rolle spielt?“

„Das ist nicht ausgeschlossen, wir müssen allen Hinweisen auf den Grund gehen. Das müssten sie doch wissen ....... Sherlock Holmes!“, gab der Polizeichef zu Besten.

Es brach zwar ein schallendes Gelächter aus, aber davon ließ Degoth sich nicht aus der Ruhe bringen. An dessen Stelle berichtete er von der späten Begegnung am gestrigen Abend.

„Also ein Raimund stellte sich mir gestern Abend, gerade als wir auf der Uferpromenade auseinander gingen, in den Weg. Nein, er war nicht provozierend, aber sein Gebärden erzeugte bei mir schon eine gewisse Herausforderung. Er erklärte, dass er als Tagelöhner seit vielen Jahren auf der Insel lebt. Dann berichtete er, dass er gestern das Skelett unter dem Steg der Landungsbrücke liegen sah. Zu diesem Zeitpunkt sei dies aber jedenfalls noch nicht eingepackt gewesen.“

„Wieso ist ihm dann an der besagten Stelle überhaupt etwas aufgefallen?“

„Ganz einfach: er stöbert stets dort rum und durch das schräg einfallende Licht, dass richtig mysteriös aussah, wäre er erst darauf aufmerksam geworden“, so seine Worte. „Dann, als er sich näherte, berichtete er weiter, wäre er starr vor Entsetzen geworden. Doch den Mut zur Polizei zu gehen hätte er nicht gehabt, so durcheinander sei er gewesen!“

„Begreife ich nicht. Warum äußert er sich dann gerade bei ihnen?“, so Scholtysek.

„Das fragte ich ihn natürlich auch, aber er stotterte bloß „weil ich glaubte, dass sie mir helfen könnten!“ Dann ging er wieder stumm des Weges. Wir fuhren nach Stralsund.“

„Eine merkwürdige Sache, wie“, mischte sich Heller ein. „Klingt ja ganz schön verwirrend. Hat er ihnen seinen Aufenthaltsort preisgegeben?“ „Leider nein! Derzeit läuft er nur herum, weiß nicht wo er morgen etwas findet um sein tägliches Brot zu verdienen. Aber vielleicht ist der Name Raimund sonst wo bekannt. Wir sollten einfach rumfragen. Vielleicht können wir ihn ausfindig machen. Das scheint mir wichtig, unbedingt! Natürlich als Zeuge, meine ich und falls erforderlich.“ „Nein, nein Degoth“, so Scholtysek, „nicht nur als Zeuge, sondern wir wollen auch wissen, ob er noch mehr Hinweise hat, mehr beobachtete oder gar, ich wage es nicht zu sagen, gar selbst beteiligt ist an Mo....! Also, Heller, der Mann muss her.“

Degoth runzelte die Stirn und bemühte sich ruhig zu bleiben. Trotzdem hatte er das Gefühl, als wäre Störtebeker wieder auf der Insel lebendig geworden. War das nicht der Pirat der Rügen vor Hunderten von Jahren unsicher machte? Einer der sich seinerzeit rechen wollte, wenn ich mich richtig erinnere. Zumindest las ich dies mal.

„Das stimmt“, meldet sich Christmann, der als Insulaner mit der Geschichte Rügens gut vertraut schien, aber er beließ es dabei. Der kleine Exkurs in die Geschichte Rügens, obwohl Degoth schon damit liebäugelte, Christmann würde womöglich näher darauf eingehen, endete ohne weitere Ausführungen. Aber dann kam Christmann doch der Gedanke, er solle, da Degoth schließlich kein Insulaner oder zumindest, meinte er, aus keinem Hansegebiet stammte, inhaltlich etwas über den weit verbreiteten Mythos des Klaus Störtebekers hinzufügen. Deshalb begann er, mit verschmitztem Lächeln, zu erzählen:

„Herr Degoth, im Grunde beruht die noch heute verbreitete Legende, denn als solche begann sie, auf den Vitalienbrüdern. Ursprünglich“, holte er aus, „ befand sich der Herzog von Holland im Streit mit der Hanse. Zu seinem Schutze schloss er einen Vertrag mit den Vitalienbrüdern, quasi als Söldner, würden wir heute sagen. Sie sollten für ihn kämpfen, dafür sicherte er ihnen einen Rückzugsort und sichere Häfen zu, damit sie ihr Beutegut im Zuge des Freibeutertums verkaufen konnten. In diesem Söldnerarmee soll sich auch Klaus Störtebeker befunden haben. Er war einer der Hauptleute der Vitalienbrüder. Aus der Legende wurde eine Erzählung, die ab dem 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand und sich bis heute fortschreibt. Gerne berufen sich die Menschen darauf, dass er ein Helfer in der Not gewesen sei. Von seinen Freibeutezügen hätte er die Armen, die von den Wohlhabenden ausgebeutet worden seien, mit Lebensmitteln versorgt, aber sie auch beschützt.

Dafür schreckte er auch, angeblich“, fügte er hinzu, „ vor Morden nicht zurück. Er wäre hingerichtet worden, heißt es, aber die Chronisten sind sich hier uneinig und so lebt der Mythos fort; wird ausgeschmückt und, ein Stück weit, auch glorifiziert.

„Respekt“, sagte Degoth, „herzlichen Dank. Nun bin ich ein historisch bewanderter Störtebeker – Kenner; dank ihres ausführlichen Statements“, setzte er nach. Christmann lächelte, doch Degoth wollte in dem Fall voran kommen.

„Und was ist nun mit den ersten Hinweisen aus der Rechtsmedizin?“, hakte Degoth, der nicht mehr auf die Geschichte Rügens eingehen wollte, um Christmann in keinem Falle in Verlegenheit zu bringen, wieder nach. Scholtysek schaut ihn an erstaunt an. Er schien sauer zu sein. Hatte er ihm nicht vor einer Stunde erklärt, dass es seinen Gang ginge! Trotzdem erhielt er eine Antwort. „Die Rechtsmediziner werden leider noch Tage benötigen. Sie sagten, wenn auch nur vage, dass es sich durchaus bei beiden Fällen, der Leiche und dem Skelett, um Morde handeln könnte. Um eindeutigere Anzeichen zu erhalten, bedarf es noch intensiverer Untersuchungen und weiterer Tests. Das kostet Zeit. Wird noch ein Weilchen dauern. Wie gesagt!“

„Hm...“, brummte Degoth, „wir stecken ja im Nirwana!“

Es folgte in der augenblicklichen Stille die Order vom KOR, die dubiosen Personen ausfindig zu machen. Warten wollten sie nicht, sondern parallel vorankommen. So erläuterte er es. Degoth folgte Scholtysek gedanklich. Denn untätig rumsitzen war schließlich bei dem verzwickten Fall absolut keine Lösung. Schnell waren sie sich einig. Die Reihenfolge war also schon mal geklärt. „Als erstes muss der Friedrichs her und später der sogenannte Raimund. Zudem, sollten wir nicht vergessen, dass der Kellner, der Bekannte von dem Friedrichs, ebenfalls verhört werden muss. Aber erst nach dem Friedrichs, klar!“, gab Scholtysek die Order.

„Ist doch eh unkompliziert“, so Degoth in die Runde, „der ist ja im Restaurant zur Seebrücke in Sellin stets greifbar! Die Frage bleibt nur, welchen Grund wir ihm nennen um ihn zum Verhör zu führen?“

„Da brauchen wir keinen Grund lieber Degoth, das geben wir als Routine aus. Könnte doch jeden Bürger treffen, wie?“

„Stimmt, Scholtysek! Das heißt also, dass sie so vorgehen wollen. Aber was ist mit dem Hinweis Nationalpark Jasmund? Da müssen wir uns schnellstens umsehen. Wer weiß, vielleicht sind dort doch verwertbare Spuren. Warum sonst gehen die Fahrten mit dem Schnellboot dorthin?“

„Soweit denke ich wirklich noch nicht. Aber gut, ich stimme zu, sicher ist sicher“, hörte er den KOR lakonisch sagen.

„Also Leute, schicken sie ihre Männer los. Sie sollen im Nationalpark sondieren. In Zivil bitte.“

Diese Aktion wollte Heller übernehmen. Einige Leute aus der Bereitschaft wollte er gleich dabei haben.

„Das war es für heute meine Herren. Im Notfall sind wir ja gegenseitig in Kontakt.“ Beendete der Kriminaloberrat die kurze Sitzung.


Degoth hatte allerdings noch einen weiteren Gedanken. Er überzeugte schließlich Scholtysek mit ihm nach Ralswiek zu fahren. Das allerdings war dem KOR nicht einleuchtend und er sagte schnippisch: „warum gerade Ralswiek?“

Schnell erfasste Degoth die Situation und erläuterte seine Überlegungen.

„Dort ist doch das Freilichtmuseum. Alljährlich finden die berühmten Störtebeker – Festspiele statt?“

„Mensch, na klar“, erwiderte der Kriminaloberrat, noch bevor Degoth weiterreden konnte. „Wer weiß, eventuell finden wir dort was Auffälliges. Wenn ich mich recht erinnere laufen doch gerade die ersten Vorstellungen. Meine Frau und ich werden uns eh eine davon anschauen. Nach den Erzählungen von Christmann, bin ich nun eine Störtebeker – Experte“, grinste er.

„Bei dieser Gelegenheit kann ich mir einen Eindruck der Örtlichkeiten verschaffen. Wie wäre es, sie kommen mit uns Scholtysek? Oder waren sie in früheren Jahren bereits unter den Zuschauern?“

„Das war ich leider noch nie, muss ich zu meiner Schande gestehen.“ Er schaute melancholisch

drein. Das allerdings hing auch damit zusammen, dass die Ehe mit seiner Frau Renate kriselte. Und dann sagte er: „Eigentlich ne gute Idee. Also danke für die Einladung, gehe mit. Aber halt, nochmals einen Gedankensprung zurück. Warum glauben sie gerade dort Ansätze zu finden?“

„Keine Ahnung! Das ist eben mein Bauchgefühl. Ich könnte mir nämlich gut vorstellen, dass dort Männer im Ensemble mitwirken, die auch den Namen Störtebeker tragen. Oder zumindest Nachfahren von ihm sind. So abwegig ist das doch nicht. Oder? Ich spinne es weiter: Sie greifen womöglich bewusst in die Geschichte ein.“

Scholtysek musste, als er diese Vermutung hörte, laut lachen. Trug es aber mit Humor, dass Degoth solche Ideen zum Besten gab. Er ging schließlich darauf ein, dass es doch klar sei, dass bei denSpielen auch grausame Szenen dargestellt würden.

„Das ist, ohne Frage, einfach die Geschichte“, sagte er nun ernst, mit betonter Sachlichkeit. „Obwohl“, grübelte er weiter, „das könnte doch etwas haben. Plötzlich war er angetan von den Gedankengängen Degoths.

„Ja, lassen sie uns dies tun, unbedingt. Klingt zwar auf den ersten Eindruck verrückt, zeigt aber auch Möglichkeiten auf. Also, ich bin dabei; machen wir es gemeinsam.“


Scholtysek stürmte mit großem Elan die Treppe nach oben in sein Büro. Er war guter Dinge. Degoth, der Hobbykriminologe, ging unterdessen aus dem Präsidium. Unten wartete bereits Chantal auf ihn. Kurzerhand teilte er ihr mit, dass er mit dem Kriminaloberrat nach Ralswiek fahren wolle. Diesmal betonte er das Wort Kriminaloberrat besonders süffisant. Das fiel Chantal zwar auf, sie ging allerdings nicht darauf ein. KOR Scholtysek fand sie einfach nett und besonders höflich. Ob er wohl verheiratet ist, der gutaussehende Mann, ging ihr durch den Kopf?

„Es ist eine wunderschöne Gegend“, erweiterte Michel seine Einladung. Die allerdings nicht ohne Eigennutz war. „Komm, gehe bitte mit. Gib deinem Herz einen Stoß! Der Blick auf den Großen Jasmunder Bodden, die Freilichtbühne, das Schloss. Und ganz in der Nähe auch noch die so berühmte Schwedenkirche. Also, da hast du herrlichen Zeitvertreib. Wenn ich mit dem KOR soweit bin, ich meine dem Oberrat“, grinste er, „schauen wir einige Anlagen gemeinsam an. Wie wäre es, du würdest mit unserem Wagen fahren? Dann sind wir später flexibel. Wäre prima.“

„Du hast mich überzeugt, ja ich komme mit“, gab sie nach einigen Sekunden Bedenkzeit freudig zur Antwort. Degoth umarmte sie innig.


Vom Fenster aus dem ersten Stock des Polizeipräsidiums beobachtete Scholtysek, der noch telefonierte, die Szene. Ein zärtliches Lächeln trat auf sein Gesicht, und gleichzeitig stieg ein gewisser Neid in ihm hoch. „Ach, was wäre es schön, ich hätte noch eine so nette Verbindung“, ging es ihm dabei durch den Sinn! Denn mit seiner Frau ging schon seit Jahren nicht mehr viel. Nein, es lag nicht nur an ihr, auch er hatte seine unverbesserlichen Eigenarten. Wobei es sicher auch an dem Polizeidienst liegt, machte er sich mal wieder vor. Er ordnete seine Akten auf dem großen, schweren und rustikalen Schreibtisch, der noch ein Stück aus den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg war.

Handarbeit vom Feinsten, wie man sie heute kaum noch bekommt. Da seine Sekretärin anwesend war, nahm er die Tür durch das Sekretariat, was sonst nicht der Fall war. Als er sie öffnete, strahlte sie ihn, wie stets, an. In Gedanken konnte er sich gut vorstellen, dass sie seine Frau wäre. Als Ehepaar im fortgeschrittenen Alter, dachte er, und schmunzelte vor sich hin. Eigentlich fehlte nur noch der Sex! Ja, er mochte sie sehr, und insgeheim war Ruth Ofenloch in ihren Chef verliebt. Das allerdings ahnte er nicht.


In der Nähe der Wissower Klinken, im Naturpark Jasmund, war es mucks mäuschenstill. Gerade traf Kriminalhauptkommissar Heller mit seinen Leuten ein. Ohne Umschweife begannen sie, wie zuvor abgesprochen, das Wäldchen und die Wiesen zu durchstöbern. Eine Fläche, die bis hinunter an den Kreidefelsen reichte. Sie bewegten sich auf den kleinen Hügel zu. Auf halbem Weg, sie befanden sich etwa zweihundert Meter entfernt, entdeckten sie ein Holzhaus. Es sah schmuck aus, zumindest beim ersten Eindruck und aus dieser Entfernung.

„Durchaus kann es ein Ferienhaus sein, das ständig gepflegt wird.“, sagte er in die Runde. Dann packte sie ihre Neugierde. Und das war ja schließlich auch ihr eigentlicher Job. D. h. recherchieren, überwachen, kontrollieren, analysieren, festnehmen und dann, wenn alles in der Reihenfolge erfolgreich ablief, vor der Fahrt in die Zelle, natürlich sowieso abtasten.

Das Schmunzeln von Kriminalhauptkommissar Heller hielt sich eine ganze Weile auf seinem Gesicht. Er musste über seine eigenen Gedanken grinsen. Trotzdem hielt ihn das nicht davon ab, die Aufgabe mit dem nötigen Ernst weiterzuverfolgen. Gerade näherten sie sich dem Blockhaus von drei Seiten. Das war, sie wussten es aus ihrer täglichen Polizeiarbeit, unbedingt erforderlich. Mit jeweils zwei Mann robbten sie nun darauf zu. Eine Blöße wollten sie sich in keinem Falle geben und womöglich in den Hinterhalt geraten. Ihre Funkgeräte hielten sie griffbereit, damit eine gegenseitige Hilfe gewährleistet war. Jetzt schritten sie zur Tat! Heller nahm sich mit dem Kollegen die Eingangsseite vor. Die anderen kamen jeweils über die linke und rechte Flanke. Zu sehen war nichts, keine Menschenseele. Vor der Tür stand lediglich ein kleiner Korb mit Gemüse und Obst. Der Kollege warf einen Blick, ganz vorsichtig, durch das kleine Fenster inmitten der Tür. Doch auch von dort war nichts zu erspähen. Nichts, aber auch absolut nichts, schien hier oben, zumindest im Augenblick, abzulaufen. Jetzt zeigte sich der Vorteil, dass sie in Zivil unterwegs waren. Spontan konnte, wer auch immer sie beobachten sollte, niemanden erkennen, dass die Polizei am Werke war. Insofern waren sie beruhigt! Die am Haus angelehnten Bänke luden sie zur Zwangspause ein. Sie setzten sich drauf, der Sonne entgegen. Die strahlte, bei blauen Himmel, was das Zeug hielt; ließ beinahe eine Urlaubsstimmung aufkommen.

„Männer“, sagte Heller ruhig und sachlich zum Auftakt“, hier warten wir erst mal ne Weile. Es war der erste Moment, seit sie hier recherchierten, bei der die Gelegenheit bestand ein kleines Gespräch zu führen, ohne fremde Mithörer.

„Wer weiß, ob nicht von der Bucht her etwas passiert. Es lagen zwar keine Boote da. Trotzdem, also, wenn der Kerl hier wohnen sollte, dann muss er ja mal auftauchen“.

Sie nickten zustimmend, mit ihrem verhaltenen Lächeln in ihren Gesichtszügen. Dann beorderte er zwei Mann sich am Hügel, mit Blick auf das Wasser, auf die Lauer zu legen.

„Direkt an der Uferböschung“, steuerte er nach, als die Kollegen sich schon auf dem Weg dorthin befanden. Etwa fünf Minuten, seit die Beobachtung begann, waren vergangen, als aus der Ferne ein Motorengeräusch an ihre Ohren drang.

„Also, wenn das wirklich Verbrecher wären, kann ich mir schwerlich vorstellen, dass die mit wehenden Fahne auf uns zusteuern würden“, gab einer aus der Runde zum Besten. Sicher hatte er recht. Wer Dreck am Stecken hat, wird nicht noch zusätzlich lauthals auf sich aufmerksam machen. Das konnte sich in der Tat keiner vorstellen. Einer der Beobachtungsposten gab Signal, dass das Boot in der besagten Bucht festmachte. Ein Mann stieg aus, in jeder Hand trug er eine Tasche. Ohne sich umzusehen, so sicher war er sich, trabte er den Hügel hinauf. Mit gesenktem Kopf, als würde er eine devote Haltung bevorzugen.


Wenige Augenblicke später kam Scholtysek die Treppe herunter geschlendert. Seine überaus langen Beine konnten wohl nicht anders. Degoth stieg zu ihm in den Wagen, einem großen, komfortablen BMW.

„Meine Frau fährt hinterher, wir wollen später noch gemeinsam einige Sehenswürdigkeiten besichtigen!“, gab Degoth zum Ausdruck.

„Prima“, hörte er ihn ausrufen. „Ist wirklich ein herrliches Fleckchen. Bin sicher, sie werden viel Freude haben.“

Die kurze Unterhaltung war zwar nicht ergiebig, aber sie blieben im Gespräch. Scholtysek war noch immer erstaunt über seine eigene Vorstellung, dass er mit Ruth Ofenloch wie ein älteres Ehepaar leben würde. Dabei, zugegeben, verbrachte er tatsächlich die meiste Zeit im Büro, also mit ihr! So abwegig war das tatsächlich nicht, wenn auch im Moment weit hergeholt. Was wollte sie gerade mit ihm, wo er doch mitunter ganz schön unwirsch sein konnte?

Nach einer knappen halben Stunde trafen sie in Ralswiek ein. Eigentlich könnte man es eher als Dörfchen bezeichnen. Aber für Rügens Verhältnisse war es schon ein wunderbares kleines Städtchen. Am Jasmunder Bodden gelegen, direkt malerisch. Den BMW parkten sie auf dem großen Parkplatz nahe dem großen Bodden. Chantal, die mit dem Sportwagen dahinter fuhr, stand bereits neben ihnen. Schon beim Aussteigen breitete sich die herrliche Naturbühne vor ihnen aus. Ralswiek bot einen prachtvollen Anblick. Ein Teil der Naturbühne liegt im Wald, so als wäre sie dort bewusst versteckt. Der andere, der von der Bucht her bereits sichtbar ist, grenzt unmittelbar an den „Großen Jasmunder Bodden.“ Dabei erweckt es den Eindruck, ein verwunschenes Dörfchen aus vergangenen Zeiten zu sein. Degoth war beeindruckt, er musste was sagen: „Ein wahrhaft idyllisches Fleckchen“, betonte er. Scholtysek in Gedanken versunken, nickte bloß stumm! Er war jetzt, nachdem er sich zuvor mit privaten Gefühlen beschäftigte, wieder beim Fall. Nach wenigen Worten waren sie sich einig, dass sie zunächst den Direktor der Freilichtbühne aufsuchen wollten. Für diese Zeit machte sich Chantal auf den Weg am Ufer des Bodden entlang.


Michel Degoth ging mit Kriminaloberrat Scholtysek den Weg hoch zur Verwaltung. Ein Wegweiser zur Anlage machte es ihnen einfach. Ein hübsches Haus, an dessen rechter Seite der Eingangstür ein Schild, aus Holz geschnitzt, angebracht war, stand vor ihnen. Mit großen Lettern in tiefschwarzer Schrift, stand darauf: „Verwaltung der Freilichtbühne Ralswiek. „Mit einem Pfeil war darunter markiert: „Hier geht es zum Intendanten und dem Theaterdirektor.“

Scholtysek drückte auf die Klingel. Nur wenige Sekunden danach öffnete eine freundliche Dame die Eingangstür. Überrascht war sie ganz und gar nicht. Das war wohl Alltag, dass fremde Leute an der Tür läuteten.

„Was kann ich für sie tun meine Herren?“, dabei schaute sie, wohl weil beide recht gut aussahen, verlegen. Ein Schuss Rosa stieg in ihr Gesicht. Zu dem Zeitpunkt wusste sie natürlich nicht, dass es sich um Kriminalpolizisten handelte. Scholtysek und Degoth erwiderten mit einem freundlichen „Guten Tag“, und ergänzten: „dürfen wir den Direktor sprechen?“ Ohne nachzufragen um was es geht, kam ihre Reaktion.

„Da haben sie heute wirklich Glück, er ist in seinem Büro und die nächste Probe beginnt erst gegen dreizehn Uhr. Wen darf ich bitte melden...?“

Dazu muss man wissen, dass Direktor Robert Dissieux ständig auf Achse war. Zumal zu diesem Zeitpunkt die Proben auf dem Höhepunkt standen. Alljährlich finden die Festspiele zwischen Juni und Anfang September statt. Und bei den vielen Mitwirkenden musste einfach alles reibungslos klappen. Die letzte Vorstellung wird in vier Wochen sein. Wie alljährlich bei der Abschlussvorstellung üblich, wird wieder das größte Feuerwerk Rügens in den Himmel über dem Jasmunder Bodden steigen.

„Den Polizeichef der Insel Rügen, Kriminaloberrat Stefan Scholtysek mein Name. Begleitet werde ich von Herrn Michel Degoth“, fügte er an und zeigte dabei mit dem Finger auf ihn. Einen Titel nannte er nicht, da dieser ja offiziell auch keinen führte. Ihn bloß als Hobbykriminologe oder gar als kleinen Sherlock Holmes vorzustellen, war ihm dann doch zu peinlich. Sie stutzte, dachte, was wollen die hier? Führte sie aber schließlich zu dem Zimmer des Direktors. Nach nur wenigen Sekunden öffnete sich die Seitentür. Ein etwas älterer, eher sportlich – elegant gekleideter Mann, betrat das Besucherzimmer. Er schaute freundlich und reichte jedem die Hand.

„Dissieux mein Name. Mit wem habe ich die Ehre?“, begann der Silberschopf.

„Scholtysek Kriminaloberrat und Polizeichef der hiesigen Polizei. Herr Degoth“, er zeigt auf ihn, „begleitet mich. Sozusagen mein Kollege.“

„Nun meine Herren, was führt sie zu mir?, setzen sie sich doch bitte“, meinte er etwas zappelig. Scholtysek holte langatmig aus, wollte auf keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen. Noch waren sie hier oben ja auf keiner heißen Spur. Es war reine Routine, nichts auf der Insel sollte ausgelassen werden, zumindest unter seiner Leitung. Nicht wie die vor mehr als fünfzehn Jahren, als alles dem Zufall überlassen wurde. Aber der konnte damals nicht helfen. Die Ermittlungen wurden, wie er aus den Akten wusste, eingestellt. Er war der Auffassung, als er es das erste Mal las, dass es falsch war. Da kam ihm Degoth, der engagierte Hobbykriminologe, die Tage zu pass. Er war auf seiner Linie und zielstrebig von Beginn an. Solch einen Mann, nicht betriebsblind, brauchte er. Schade, sinnierte er, dass der kein richtiger Polizist ist.

„Nun“, begann er. „Augenblicklich beschäftigen wir uns mit einem besonderen Fall. Noch sind wir nicht auf einer wirklich heißen Spur, aber es gibt Anzeichen.. auch in Richtung dieser Region“, blufft er.

„Da kann ich ihnen leider nicht folgen, begreife ich nicht meine Herren. Was wollen sie damit sagen? Und vor allem, was geht mich das überhaupt an?“

„Ganz simpel. Wir vermuten, ... also zunächst mal lediglich eine Vermutung, wie gesagt, dass der hiesige Schauplatz und Personen aus dem Ensemble oder deren Umfeld, eine große Rolle spielen könnten.“

„Also bitte. Das scheint mir verdammt weit hergeholt“, mokierte sich der Direktor. „Die Aufführung wird doch schließlich von vielen Menschen begleitet. Die sind so eingespannt, was sollen die schon mit ihrem besonderen Fall zu tun haben?“

Das Dissieux so reagierte machte sie stutzig. War ihnen nicht schon zuvor aufgefallen, dass er einen zappeligen Eindruck machte? Dabei gab es doch zunächst überhaupt keinen Grund für ihn so irritiert zu antworten. Ob er womöglich in einem Dilemma steckte. Nun Gefahr witterte? Aber die Gedanken verwarf Degoth schnell. Es gab ja absolut keinen nachvollziehbaren Sinn. An dessen Stelle antwortete Scholtysek ruhig:

„Lassen sie uns einfach einen Blick in die Personalliste werfen, das könnte uns schon ein Stückchen weiterhelfen! Und bitte haben sie Verständnis, dass wir derzeit dem ganzen hohe Geheimhaltung beimessen.“ Aber das äußerte er nicht laut. Er wollte zwar, hielt sich aber aus ermittlungstaktischen Gründen doch zurück.

„Ja, können sie natürlich gerne tun. Was sollte ich dagegen einzuwenden haben? Aber glauben sie mir, in meinem Ensemble gibt es keine Verbrecher, die habe ich handverlesen! Da lege ich die Händen für jeden einzelnen ins Feuer.“

Er hatte wohl bemerkt, dass er vorhin beinahe übers Ziel hinausschoss.

„Mag sein und ehrt sie“, mischte sich Degoth ein“, aber sind sie bitte vorsichtig, dass sie sich nicht ihre Finger verbrennen.

“Dissieux stutze. Sie sahen es ihm an. Dann rief er seine Sekretärin und bat die Personalmappe vorzulegen. Plötzlich wurde er richtig förmlich. Durch die Seitentür trat die Dame, die sie zuvor begleitete. Sie war nicht aufgeregt, aber ihr Rosagesicht zeigte auch jetzt ihre leichte Verlegenheit. Der Direktor übergab die gerade erhaltene Personalliste, aus denen alle Mitwirkenden ersichtlich waren.

„Nehmen sie sich Zeit, es ist keine Eile angesagt“, schob er, eher etwas unsicher, nach. Obwohl er gerade dies vermeiden wollte. „Geben sie mir die Akten bitte später wieder persönlich zurück. Sie erlauben, dass ich währenddessen meiner Arbeit von hier aus nachgehe! Wenn sie Fragen haben, unterbrechen sie mich.“

Zeile für Zeile gingen sie die Namenslisten aufmerksam durch. Ab und an schaute der Direktor über den Rand seiner Lesebrille, so, als würde er es nur beiläufig tun. Dabei entging ihnen nicht, dass er gezielt die Blicke auf sie und ihre Arbeit lenkte. Degoth räusperte sich und zeigte mit dem Finger auf einen Namen.

„Schauen sie Scholtysek“, flüsterte er ihm zu, „da steht doch in der Tat der Name Störtebeker. Zufall oder Bestimmung, hier die Frage?“

„Ach ja, aber den Namen gibt es, wie ich weiß, hier häufiger. Das alleine besagt lange nichts. Schon

gar nicht, dass das etwas mit dem Fall zu tun haben könnte.“

Doch seiner Äußerung traute er selbst nicht mehr ganz, als Degoth ihn auf den zweiten Namen Störtebeker hinwies. Das animierte sie schließlich die Akten vollständig unter die Lupe zu nehmen. Weit über hundert Personen waren als Mitwirkende gelistet. Doch außer diesen beiden Namen konnten sie keine weiteren Zusammenhänge, mögliche Ansätze, erkennen. Gerade als Scholtysek und Degoth den Kopf hoben um anzusetzen etwas zu sagen, schaute Dissieux über seine Lesebrille. Er schien auf ihre Reaktion zu warten.

„Danke Herr Direktor“, sagte Scholtysek an dessen Stelle kurz. „Es hat uns sehr geholfen.“

Dabei betonte er das besonders akzentuiert. Mehr fügte er nicht hinzu. Die Gesichtszüge Dissieuxs erstarrten zu einer „Salzsäule. Es hatte den Anschein als sei es eine erneuerte „Fassade.“

Den Kriminalisten entging auch diese Mimik, aufmerksam wie sie im Dienst nun mal waren, nicht. Sie unterließen es jedoch einen Kommentar hierzu abzugeben. Nur der Aktenvermerk sollte es im Gedächtnis behalten. Kurz darauf fasste er sich wieder. „Habe ich doch gerne getan“, drückte er mehr raus, wie eine Befreiung klang es nicht. Und setzte nach: „Falls sie weitere Unterstützung benötigen, rufen sie kurz zuvor an. Ich werde für sie da sein. Hier meine Karte!“

Er reichte seine Visitenkarte über den Tisch. Das Gespräch war beendet.

„Das ist freundlich, dürfen wir uns noch auf der Freilichtbühne umschauen? Es interessiert uns. Nicht zuletzt, weil Herr Degoth, mein Kollege, dabei zeigte er wieder, beinahe schon gewohnheitsgemäß, auf ihn, mit seiner Frau in etwa zehn Tagen beabsichtigt an einer ihrer Vorstellungen teilzunehmen.“

„Ja, natürlich können sie sich gerne umschauen.“ Dabei bekam er einen roten Kopf. Das Rauspressen machte ihm Mühe! „Selbstverständlich freut es mich ebenso, dass sie eine Vorstellung besuchen wollen“, hörten sie ihn halbherzig weiter reden. Dann verließen sie den Raum. Gerade um die Ecke des Verwaltungsgebäudes gebogen, blieben sie stehen. Verdutzt schauten sie sich an.

„Der hat doch ein ungutes Gefühl“, begann Degoth. „Plötzlich war der so unsicher, für mich zweifelsfrei. Oder was meinen Sie? Hat er womöglich Kenntnis von einem Verbrechen aus seinen Reihen und jetzt quält ihn sein schlechtes Gewissen?“

„Nein, denke ich nicht“, reagierte Scholtysek „Doch den Mund hat er wohl etwas voll genommen, als er sagte: „Für jeden würde ich die Hand ins Feuer legen!“ Wir sollten gerade deshalb mal hinter die Kulissen schauen, wie es so nett heißt!“


All diese Auffälligkeiten aus der Sicht der prominenten Ermittler, Kriminaloberrat Scholtysek und dem kleinen Sherlock Holmes Degoth, sollten nicht verloren gehen. Jeder nahm ein I – Pad zur Hand um Szene für Szene festzuhalten. Dann folgten sie dem Weg Richtung Tor. Sie öffneten das große Holztor, welches den Weg zur Freilichtanlage freigab und schritten hindurch. Einige Personen, die man als Schauspieler einschätzen konnte, standen und saßen herum. Um die Beiden kümmerten sich kein Mensch, sodass sie ihre Gespräche unbeeindruckt weiterführen konnten. An dem großen Turm, nur wenige Meter weiter, nahmen sie zwei Männer wahr, die in einem intensiven Gespräch verwickelt schienen. Als sie in ihre Nähe traten, heilten die Kerle jedoch spontan inne. Wie Piraten waren sie bekleidet, schauten dabei ernst und bösartig drein.

„Es ist wohl ihre Rolle“, sinnierten Scholtysek und Degoth. Und wollten sich keine weiteren Gedanken machen. Doch war das wirklich Zufall? Oder war die Verkleidung die Fassade für ihre realen Verbrechen? Sie beschäftigten sich, jeder in Gedanken für sich, schließlich doch damit weiter, aber keiner sprach es aus. Einige Meter hinter der besagten Stelle, bleiben sie stehen. Von dort, zwischen den Bäumen hindurch, konnten sie zu dem Bodden schauen. Die aktuelle Lage, wie sie es nannten, reflektierten sie. Dann läutete das Mobiltelefon des Chefermittlers.

„Scholtysek, wer bitte ...?“

„Chef, ich bin es, Heller. Wir sind noch im Nationalpark Jasmund. Nicht weit entfernt vom Wissower Ufer, sie wissen! Nein, im Grunde keinen besonderen Auffälligkeiten. Übrigens, den großen Unbekannten mit dem Schnellboot haben wir zwar nicht getroffen, aber da gab sich einer als Mitarbeiter aus. Er teilte mit, das der besagte Bootsfahrer, dessen Name er nicht kenne, mit einem anderen Mann, den er allerdings noch nie gesehen hätte, in einem Schnellboot unterwegs sei. Er konnte lediglich den Vornamen nennen. Hans heißt er.“

„Na ist doch immerhin etwas. Haben sie gefragt wann er zurück sein wird?“

„Ja, klar! War ihm nicht bekannt. Leider!“

„Dann stöbern sie mal weiter und warten, zumindest solange es Tag ist. Vielleicht taucht ja das Boot heute nochmals auf.“

„Ja Chef, wird gemacht. Wir schwärmen sofort aus und durchforsten auch die weitere Umgebung des Holzhauses. Vielleicht haben wir ja Glück und stoßen auf entsprechende Hinweise!“

„Also“, so Scholtysek, „dann halten sie mich auf dem Laufenden. Sie wissen, dass Degoth mit mir noch in Ralswiek ist. Vage Spuren bislang. Das war es. Aber Ansätze für dunkle Ecken scheint es zu geben. Da müssen wir noch tief graben. Selbst bei dem Direktor des Theaters kommen uns Zweifel. Werden das Gefühl nicht los, er treibt ein Doppelspiel!“

„Wenn sie das sagen, hört es sich an, als wäre die ganze Insel infiziert. Von was auch immer, wie?“, so Heller.


Gerade den Hang überwunden, hörte der Mann: „Halt, stehen bleiben und keine Bewegung.“

Erschrocken drehte er sich um und sah, mit einer Pistole im Anschlag einen Mann, der sich als Polizist ausgab, auf sich zusteuern. Seine beiden Taschen stellte er behutsam am Boden ab, als seien zerbrechliche Gegenstände darin verstaut. Anstalten wegzulaufen machte er nicht. Es wäre auch zwecklos gewesen. Sein Name, den er sofort freiwillig nannte, war Conrad Frederiksen. Er berichtete, dass er Handlanger sei für seinen Chef, einen gewissen Hans. Auf die Frage wo der sei, hörten sie bloß, die Kollegen waren indes auch anwesend: „Er wollte heute noch kommen. Mehr kann ich ihnen nicht verraten.“

Sie beknieten den Kerl zwar immer wieder, aber er wusste wohl wirklich nicht mehr. Seinen Ausweis zeigte er bereitwillig. Die direkte Überprüfung ergab keinerlei Beanstandungen. Frederiksen war frei und ging zum Holzhaus. Währenddessen beriet Heller mit seinen Männer das weitere Vorgehen. Sie entschieden zumindest zu warten, solange es noch hell war. Während dieser Zeit wollten sie die weitere Umgebung gründlich durchstöbern. Immer mit dem Gedanken: Da muss doch etwas zu finden sein.


Degoth und Rügens Chefermittler kamen auf den Gedanken, nochmals zurück zu laufen und die beiden Männer in Piratenuniform anzusprechen. Vielleicht, so ihre Idee, würden sie von denen erfahren, wo die Herren Störtebeker sich aufhalten. Das wollten sie schließlich unbedingt wissen. „Meine Herren“, begann Degoth, „wir suchen die Störtebekers. Wo finden wir die Männer?“

Jetzt lächelten sie, der links vom Torbogen stehende erwiderte: „Das ist einfach, hier steht einer von denen!“, er deutete auf sich. Sein Kollege amüsierte sich köstlich. „In welcher Angelegenheit suchen sie uns?“

„Die Geschichte Störtebekers interessiert uns, haben schon viel darüber gelesen. Jetzt wollten wir wissen, ob im Ensemble auch Nachfahren dieses berühmten Insulaner mitspielen. Und dazu gerne hören, warum sie es tun, welche Intention es für sie hat“, so Degoth, der aus den Augen von Scholtysek zwar Erstaunen entnahm, aber auch Billigung der Vorgehensweise.

„Nun, ich bin, genau wie mein Vetter, der augenblicklich nicht hier oben ist, aus Interesse an der Schauspielerei, aber auch aufgrund der Geschichte meines Ahnen dabei. Das dritte Jahr spielen wir bereits mit. Ja, es macht enorm viel Freude. Wenn sie mich fragen war es die richtige Entscheidung. Nein, nicht wegen des Geldes, da gibt es kaum etwas, sondern wegen der Geschichte, die sich mir jetzt erst richtig eröffnete. Es hat mir viel gegeben!“

„Nun, wenn das so ist“, ergriff der Kriminaloberrat das Wort, „dann sagen sie uns doch mal, wie sie den Ahnen einschätzen und wie sie heute dazu stehen! Denn das ist uns genauso wichtig wie ihnen! Wie ist eigentlich ihr Name?“

Etwas verdutzt, geradezu unsicher, schaute der Angesprochene Kollege des Störtebeker drein. Dann aber reagierte er, hatte sein zuvor gespielte Rolle wieder fest im Griff. Degoth fiel in diesem Augenblick auf, dass der am rechten Oberarm drei Narben hatte. So, wie Chantal sie gestern bei dem wohnsitzlosen Herumtreiber, dem Raimund, entdeckte. Gibt es da einen Zusammenhang, fragte er sich? Während er sich diese Gedanken machte, fing der Schauspieler an zu reden.

„Mein Name ist Herrmann. Ich bin auch ein Nachfahre des Störtebekers. Um es vornweg zu sagen, in unserer heutigen Zeit hat seine damalige Vorgehensweise absolut kein Berechtigung mehr. Aber in der Zeit in der er lebte, da war es sicher der richtige Weg. Schließlich wurden die einfachen Bürger als Leibeigene gehalten und schamlos ausgenutzt. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer! Dazu wurden sie, wie meinem Vorfahren, oft Dingen bezichtigt, die nicht zutrafen. Doch sie mussten parieren, hatten keine Chance was zu ändern. Daher rührt im Grunde die Veränderung von Störtebeker zur Gesellschaft Ende des vierzehnten / Anfangs des fünfzehnten Jahrhundert. Er suchte seinen Weg und rächte sich an den Reichen, dafür gab er aber den Armen was ab. Ich finde, er hat recht getan und war mutig. Und noch eins, befinden wir uns heute nicht bald in einer ähnlichen Situation?“

Jetzt schwieg er, biss sich auf die Lippen, als hätte er über das Ziel hinausgeschossen. Unerkannt blieb dies bei den Ermittlern nicht. Das iPad lässt grüßen! Degoth ergriff jedoch unverzüglich wieder das Wort:

„So gesehen stimme ich zu, aber sehen das alle so, auch ihr Kollege Störtebeker?“

„Für ihn kann ich nicht sprechen, fragen sie ihn selbst. Ich weiß nur, dass der Störtebeker aus dem Mittelalter in die Neuzeit einfach nicht übertragen werden kann und darf! Überdies, was könnte ich verändern, die damalige Zeit eh nicht, wie? Ich bin froh mit meiner Familie ordentlich leben zu können und mit Betrug oder gar Morden nichts zu tun zu haben!“

„Aber wer redetet denn von Morden?“, wandte Scholtysek kritisch ein. „Davon haben wir in den wenigen Minuten unseres Gesprächs nie geredet. Wie kommen sie darauf?“

„Na ja, er hatte doch damals angeblich auch gemordet, oder? Mein Ahne meine ich. Aber es war aus Notwehr, so wie ich es aus den Überlieferungen kenne.“

„Ja, schon, doch wer erinnert sich an diese Vorgänge im Detail? Es war keiner dabei! Wir leben heute und haben andere Lebensweisen als damals!“, so Degoth nachhakend. Herrmann stutzte erneut und fuhr sich mit seinem Handrücken über den Mund, der trocken geworden schien. Es war seine Nervosität, die ihn wieder von der Rolle brachte. Sofort ergriff Scholtysek wieder das Wort: „Wie kommen sie eigentlich auf Mord? Das lässt mich einfach nicht ruhen. Sollte ihnen da was zu Ohren gekommen sein, dann reden sie.“

„Ja sagen sie mal, was fällt ihnen eigentlich ein mit mir so umzuspringen? Sie sind schließlich nicht die Polizei.“

„Genau das sind wir“, reagierte Scholtysek der seinen Ausweis nun direkt vor seine Nase hielt! Die Gesichtsfarbe des Störtebeker Ahnen wechselte von gesundem Rot auf aschfahl! Mit solche einem Vorfall rechnete er an dieser Stelle absolut nicht. Und er, Kriminaloberrat Stefan Scholtysek, Chefermittler der Rügener Polizei, legte seine Stirn in Falten und schaute ihm in seine Augen. Ja, er wollte ihn provozieren. Dass es ihm gelang, zeigt die augenblickliche Sprachlosigkeit des Mannes. Er brauchte einige Sekunden, bis er erwiderte: „Gut, ich habe mich da etwas ungeschickt ausgedrückt, aber mit Mord habe ich weder was am Hut, noch weiß ich von einem Mord. Wieso auch? Die Insel ist doch diesbezüglich glückselig. Als Rügener habe ich von Ermordungen mein ganzes Leben nichts gehört. Und das sind immerhin fünfundvierzig Jahre!“

„Das haben wir ihnen doch gar nicht unterstellt, sie haben es ins Spiel gebracht. Aber Schluss damit. Wo finden wir nun ihren Vetter?“

„Schauen sie mal in den Aufenthaltsraum. Wenn sie hier die Treppe hoch gehen, im ersten Stock, nehmen sie die erste Tür auf der linken Seite. Vielleicht hält er sich dort auf.“

Das Ermittlerteam ging die Treppe hinauf. In dem Augenblick schrillte das Mobiltelefon. „Scholtysek, wer spricht?“

„Heller. Chef ich bin es nochmals“, begann er etwas umständlich.

„Was läuft bei euch, gibt es Neuigkeiten. Oder warum rufen sie nach der kurzen Zeit wieder an?“

„Nun, der Unbekannte tauchte auf. Er kam vor wenigen Minuten tatsächlich mit seinem Boot zurück. Mit dabei war der sogenannte andere Unbekannte. Es stellte sich heraus, dass es ein Kellner von dem Restaurant der Seebrücke in Sellin ist. Sein Name ist Noll, Hubertus Noll.“

„Gut, gut.“ Er machte eine Pause. „Aber wie heißt nun der Bootsbesitzer?“

Das vergaß er in der Eile doch wirklich dem Chef zu sagen. Schnelle steuerte er nach: „Hans Friedrichs ........ “

„Hans Friedrichs? Also Hans Friedrichs“, wiederholte er? „Hm..., das ist nicht gerade viel. Ja und weiter? Konnten sie die Männer schon näher befragen?“

„Das haben wir sofort aufgegriffen. Das Boot haben wir auch eingehend untersucht, aber da war nichts Verdächtiges zu finden. Der Friedrichs sprach nur von einem Transport von Sellin nach hier. Da sie sich gut kennen hätte der Noll ihm heute geholfen.“

„Nun gut, mag ja alles zutreffen. Was haben die eigentlich transportiert? Stellen sie mal diese Frage. Vielleicht reagieren sie dann ganz anders.“

„Das haben wir natürlich Chef, aber da kam nix raus. Wir können ja schließlich nichts nachweisen.“

Dummerweise vernachlässigte er die Frage, warum sie sich am Strand Sellins gestern trafen.

„Lassen sie von der Spurensuche eine genaue Analyse machen und im Labor untersuchen. Und vergessen sie ja nicht von den beiden Männern Fingerabdrücke zu nehmen. Die DNA `s sind uns wichtig. Am besten auch von dem ..., wie heißt der nochmals?“ „Frederiksen, Conrad Frederiksen Chef!“

„Genau, den meine ich. Da ist doch sicher etwas faul! Wir sollten unbedingt unsere kriminaltechnischen Möglichkeiten voll ausschöpfen. Nochmals, holen sie sich Unterstützung bei Carsten Meyer, dem Chef der Spurensicherung.“

„Ja Herr Kriminaloberrat, wird sofort veranlasst. Dann warten wir noch hier oben, bis die Herren eintreffen.“

„Prima, dann tun sie dies.“

Obwohl Heller, der Kriminalhauptkommissar, nicht danach fragte, fing sein Chef an von Ralswiek zu berichten.

„Vielleicht interessiert es sie! Bei uns gibt es noch nichts Aufregendes. Gerade suchen wir den zweiten Störtebekernachfahren. Den wollen wir ebenfalls verhören. Vielleicht ergeben sich weitere Bausteine in dem Puzzle. Und noch eins, wir sollten mit dem präzisen Laserscanner den Fundort des Skelettes von gestern aufnehmen und dabei möglichst eine Spheronkamera, sie wissen schon, die hochauflösende Spezialkamera, einsetzten lassen. Vielleicht können wir damit später die Spuren besser bewerten. Quasi ein Beitrag, stumme Zeugen wieder zum Reden zu bringen, wie es so salopp heißt. Und übrigens, die Rechtsmedizin hat mit der Untersuchung des Skeletts endgültig begonnen. Das läuft also. Dr. Matthias Müller, der Leiter, hat es mit vorhin bestätigt.“


Scholtysek betrat mit Degoth den Raum im ersten Stock. Freundlich grüßten sie in die Runde der etwa dreißig Frauen und Männer. Den Ausschank in der Nähe sahen sie gleich. Sie gingen darauf zu und bestellten Kaffee mit zwei Stückchen Obstkuchen. Während die Bedienung alles herrichtete fragten sie, ob ein gewisser Störtebeker im Raum säße.

„Ja, der ist da. Schauen sie dahinten am Tisch in der rechten Ecke, direkt vor dem Flügelfenster. Der Mann mit dem vollen schwarzen Haar. Er trägt einen Schnauzer und sitzt alleine am Tisch.“

Sie nahmen ihre Tabletts und gingen an den besagten Tisch.

„Guten Tag, dürfen wir uns zu ihnen setzten?“, so Scholtysek.

„Na klar, bitte sehr“, antwortete der Herr in einem freundlichen Ton!

Sie setzten sich und rührten genüsslich in ihrem Kaffee. Bevor sie einen Bissen in den Obstkuchen taten, fragten sie: „Na, welche Rolle besetzen sie hier im Ensemble?“ Bereitwillig gab er Auskunft.

„Ich spiele den Störtebeker. Spiele die Person des Piraten im fünfzehnten Jahrhundert.“

„Muss ja interessant sein“, so Degoth.

„Ja, ist es auch. Besonders für mich, als Nachfahre des Störtebeker. Das macht schon viel Freude und ich fühle mich so richtig in die Zeit von damals, die Situationen hineinversetzt.“

„Verzeihen sie, wenn wir so neugierig sind, aber gibt es noch mehr Teilnehmer die den Namen Störtebeker tragen?“, so Scholtysek.

„Ja, ein Namensvetter von mir spielt auch mit. Er müsste sich draußen aufhalten. Wissen sie, die herausragenden Rollen sind alle doppelt besetzt. Falls mal einer ausfällt. Wir teilen uns quasi diese Störtebeker – Rolle.“

„Finde ich richtig interessant. Was tun sie eigentlich hauptberuflich? Schließlich läuft ja das Stück nicht das ganze Jahr?“, ergriff Degoth das Wort. „Das stimmt der Herr. Sonst bin ich Großbauer und lebe in der Nähe von Bergen, genauer in Buschvitz.“

„Da nehmen sie sich so zu sagen eine Auszeit und verbringen hier einige Monate des Jahres?“, hakte Degoth erneut nach.

„Ja, genau so können sie es nennen. Bereits das vierte Jahr in Folge.“

„Scheint ja richtig spannend für sie zu sein. Ist immer alles glatt gelaufen? Oder gab es ab und an Probleme?“ Mit diesen Worten blieb Degoth weiter am Ball.

„Wissen sie, wo viele Menschen zusammen kommen, gibt es immer wieder mal Unstimmigkeiten, klar. Aber da erinnere ich mich vor etwa zwei Jahren an einen besonderen Vorfall. Da ist einer ausgerastet, der wollte mir anschließend an den Kragen.“

„Was heißt an den Kragen?“

„Nun, der trachtete mir nach dem Leben. Hat wohl zuviel Realität aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportiert. Der Direktor hat ihn sofort rausgeworfen. Er wollte keinen Ärger, auch nicht mit der Polizei!“

„Das ist ja ein Ding“, so Scholtysek, der Degoth dabei nachdenklich anschaute.“

Und seitdem ist Ruhe?“, fragte er den Störtebeker?

„Ja, seitdem habe ich weder etwas gehört noch gesehen.“


Während der Unterredung, die bereits in ein kleines Verhör ausartete, hatten sie alles aufgegessen und getrunken. Sie standen auf und gingen Richtung Tür, nicht ohne herzlichen Dank für das nette Gespräch und die Erzählungen zu sagen. Sie freuten sich, dass es sich für sie lohnte, hierher zu fahren. Scholtysek sagte deshalb zu Degoth: „War eine gute Idee Degoth nach Ralswiek zu fahren und auch hier nach einem Ansatz für das Verbrechen zu suchen. Danke! Jetzt haben wir immerhin einen kleinen Lichtblick. Ich denke, wir sind zumindest ein Stückchen vorangekommen.“

„Aber ja, sehe ich auch, Nun können wir optimistisch auf morgen schauen. Wenn wir dann noch aus dem Nationalpark Jasmund gewisse Erkenntnisse vorliegen hätten, ja dann werden wir den Fall Zug um Zug aufklären können, wie? Dann wären wir auf der richtigen Spur.“

Scholtysek blieb eine Antwort schuldig, trabte aber doch vergnügt neben Degoth her, zurück zum Parkplatz. Vor allem wollte er die Euphorie seines Mitermittlers nicht trüben. Seine Motivation und sein Einsatz wusste er schon nach einem Tag zu schätzen. Für heute hatten sie die offiziellen Ermittlungen abgeschlossen. Nun sah Degoth von weitem Chantal den Weg vom Bodden hoch zur Freilichtbühne gehen. Beschwingt kam sie auf ihn zu. Degoth und Scholtysek verabschieden sich an dieser Stelle. Jedoch nicht, ohne für morgen in Bergen ein erneutes Treffen zu vereinbaren. Bereits im Gehen rief Scholtysek nochmals zurück: „Nochmals danke Degoth für ihre engagierte Unterstützung. Dann schauen wir mal welche Ergebnisse wir morgen aus dem Nationalpark und aus der Rechtsmedizin vorliegen haben. Ob die Forensiker es schon geschafft haben, wer weiß? Nun also weiterhin guten Tag und bis morgen.“

Nachdem der Chefermittler sich auf den Rückweg machte, ging Degoth, seine Frau im Arm haltend, hinaus zur Schwedenkirche. Es war zwar noch ein gutes Stück zu laufen, aber der Tag war schließlich noch jung, gerade mal vierzehn Uhr. Und sie dachten dabei auch an das Seerestaurant, wovon ihnen Scholtysek zuvor bereits vorschwärmte. Da wollten sie später hin. Das leckere Fischangebot, „wenn hier oben“, flachsten sie, wollten sie unbedingt nutzen.

„Der Blick zum Bodden ist in jedem Falle sicher, da kann das Essen nur gut schmecken“, sagte Chantal mit einem Liebreiz im Blick. „So gesehen, haben wir, jeder für sich, aber auch gemeinsam, am Ende einen schönen Tag verbracht.“ Es war ein friedlicher Ort. Touristen waren an der Stelle, zumindest heute, kaum anzutreffen, was ihnen sehr gelegen kam.


Den Nachmittag nutzte Scholtysek in seinem Büro. Eine Berg voll Akten, meist bürokratischer Kram, lag schon einige Tage unbearbeitet herum. Da musste er endgültig ran. Insofern passte es gut, dass er in den kommenden Stunden keine fixen Termine zu berücksichtigen brauchte. Frau Ofenloch erinnerte ihn ihrer netten Art schließlich schon einige Male daran. Vor allem an die Terminsachen, unter anderem von dem Polizeipräsidium von Mecklenburg – Vorpommern. Bloß, was sollte er tun? Zweiteilen konnte er sich wirklich nicht. An allen Ecken gleichzeitig sein, was er aufgrund der ihm gegebenen Energie gerne getan hätte, schaffte auch er nicht. Zudem dachte er gar nicht daran, dafür gar die so wichtigen Ermittlungsarbeiten schleifen zu lassen. Inzwischen hatte er zwar eine gute Truppe zusammengestellt, aber die Fäden wollte er letztendlich selbst in der Hand halten. Ja, davon war er überzeugt, seine Kreativität unbedingt einbringen. Wenn ihm manchmal auch gewisse Zweifel kamen, ob er sich nicht doch mit diesem hären Anspruch überforderte. Hatte er sich überschätzt? So alleine am Schreibtisch, seine Sekretärin wollte heute früher das Büro verlassen, da sie einen Termin beim Arzt vereinbarte, kam ihm nochmals seine familiäre Situation in den Sinn. Seine Nochehefrau, Renate, geb. Hechler, bereitete ihm Sorgen. Seit Jahren stimmte es zwischen ihnen nicht mehr. Die aus seiner Sicht ursprünglich gute Ehe, war plötzlich zerrissen. Und er erinnert sich mal wieder an damals, als er sie in der Weinlaube in Stralsund, rein zufällig, mit einem ihm unbekannten Mann sah. Der musste einige Jahre jünger gewesen sein als er. Und er sah, zugegeben, auch gut aus. Mit dem auch ..... Drückte sich sein Ego aus.


An diesem Abend hatte er unmittelbar nach Dienstschluss eine Verabredung mit seinen beiden Offizieren, KHK Heller und KOK Christmann. Das taten sie ab und an, um auch komplexe Fälle des Kripoalltags in lockerer Atmosphäre zu beleuchten. So wie an diesem Tag. Verheimlichen konnte er die Eheprobleme nicht mehr. Auch seine Mitarbeiter wurden bereits darauf aufmerksam. Obwohl er stets von sich durchaus überzeugt war, ging ihm an dem besagten Tag anderes durch den Sinn. Nüchtern betrachtet, wurde ihm klar, dass sein Selbstbewusstsein arg schwand. War er in der Vergangenheit einfach zu blauäugig? Mehr in die Arbeit verliebt als in seine Familie? Diese Fragen stellte er sich die letzten Monate immer wieder. Ging es an ihm vorbei, dass er nicht mehr familiennah lebte und verhielt? Gerade deshalb diese Situation provozierte? Fragen über Fragen quälten ihn an diesem wunderbaren Sommertag. Am liebsten hätte er alles hingeworfen und eigene Ermittlungen in seiner Privatsphäre durchgeführt. Obwohl er seine Frau damals darauf ansprach, stritt sie alle Vorwürfe vehement ab. „Das wäre doch nur ein früherer Arbeitskollege gewesen, der

sich mit ihr mal treffen wollte“, gab sie seinerzeit zum Besten. Dabei bleibe sie. Kontrollieren, da er mehr im Dienst als zu Hause war, konnte er es nie. Auf Zufälligkeiten zu bauen, das wusste er als KOR aus dienstlicher Erfahrung, also reinen Indizien, machte keinen Sinn. Er dachte, in seiner gerade selbstkritischen Phase, an seine Art alles haargenau zu nehmen. Ja, er wollte vieles selbst richten. Trug sicher auch dazu bei, schluckte er schwer. Oder zumindest hatte es einen großen Anteil. Setzte er frustriert nach. Kalt ließ es ihn nicht nach der langen Ehezeit. Doch er musste es abschließen. Seine Gedanken leiteten deshalb über zu Ruth, er meinte damit Frau Ruth Ofenloch. Er war von sich selbst, ob dieses Geistessprungs irritiert Doch er konnte es nicht mehr steuern. Es geschah einfach. War sie womöglich in ihn auch verliebt? Die Frage stellte er sich bereits des Öfteren.

„Passen würde es ja schon“, sagte er dann leise vor sich hin. „Gemeinsame Arbeit, gutes Miteinander, zumindest im Großen und Ganzen.“

Warum sollte das nicht auch privat funktionieren. Ob er sie nicht mal fragen sollte. Nach dreizehn Jahren „Bürofamilie“ doch nicht so abwegig, oder? Dann hörte er plötzlich Schritte. Es klopfte an der Tür. „Herein“, sagte er. Und als hätte er es beschworen, zumindest gewünscht, lächelte ihn Frau Ofenloch an.

„Entschuldigung“, meinte sie, „aber mein Auto will einfach nicht anspringen. Bin schon ziemlich spät dran. Sie wissen, ich bat sie vor zwei Tagen um Erlaubnis früher gehen zu dürfen. Der Arzttermin!“

Sein Strahlen konnte er in dem Moment nicht unterdrücken. Warum auch?, meinte er sehr freundlich: ist eine Fügung? Kaum denke ich an...., steht sie vor dir.

„Wie kann ich ihnen behilflich sein liebe Frau Ofenloch?“

Er war entzückt sie zu sehen. In diesem Moment waren seine Gefühle für sie voller Begierde. Diese Denkweise, war, moralisch wir er sonst ist, nicht seine Wesensart. Aber er dachte nun: „jetzt könnte ich sie in meinem Zimmer lieben, oder sollte er vögeln sagen? Eine ganze neue Seite in seinem Leben schaltete sich ein. „Verdammt“, sagte er sich. „Wo ich doch immer als Moralapostel tituliert werde. Nun das!“

Er regte sich schnell wieder ab und arrangierte sich sittlich. „Also, wenn es nicht zu unhöflich scheint“, wurde er aus seiner Gefühlswelt gerissen, „ist ja sonst nicht meine Art, wäre ich dankbar......“

Ihre besonders höfliche Umgangsformen hatten es ihm schon immer angetan. Ihr Grazie, ihr Bewegungen und das Timbre brachten ihn heute aber besonders heftig aus der Fassung. Die weiche, deutliche Aussprache, mochte er besonders an ihr. Kaum hatte sie zu Ende geredet, fiel er ihr freundlich ins Wort.

„Ich fahre sie selbstverständlich wohin sie wollen, liebe Frau Ofenloch.“

Gerne hätte er noch geliebte hinzugefügt, aber das traute er sich... noch, nicht. Seine Aussagen verfehlten nicht die Wirkung. Das saß! Ihre hübschen Wangen erröteten. Was in ihrem Alter eher selten war. Doch das Lächeln in ihrem schönen Gesicht blieb unverändert. Sie zeigte ihre Freude und nahm gerne das Angebot an. Scholtysek war es gerade sehr recht, aus dem Wirrwarr seiner Gefühle mit Familie und so, in eine andere Richtung zu steuern.

„Danke, lieber Gott“, redete er in sich hinein, seinen Blick nach oben gerichtet. Er stand auf, verließ, heute ohne den Schreibtisch aufzuräumen, sein Büro und folgte Frau Ofenloch zum Parkplatz des Präsidiums.

„Das mit ihrem Wagen regeln wir später. Ich setze sie zunächst bei ihrem Arzt ab. Warte auf sie.“

„Nein, nein Herr .....“

„Papperlapapp, das tue ich gerne. Sehr gerne, wenn ich ehrlich bin.“

Aber das Letztere verkniff er sich dann doch, obwohl es ihm auf schon auf den Lippen lag. Soviel Traute hatte er nun wirklich noch nicht. Sie reichte ihm die Hand und er erfasste die Gelegenheit sie in die Arme zu ziehen. Ganz gefühlvoll, richtig zärtlich. Dabei gab er ihr einen zarten Kuss auf die linke Wange. Sie glühte in einem zarten Rosé. Und jetzt erst spürte er, dass er tatsächlich in die Frau verliebt war. Der Funke war übergesprungen. Die Situation schien ihr peinlich. Aber sie ließ es doch gerne geschehen. Was er nicht wusste, nur wünschte, sie war in ihn ziemlich verliebt. Heimlich, klar, aber gerne.


Es sollte eine Stunde dauern bis Frau Ofenloch den Arzttermin hinter sich haben würde. Diese Zeit verbrachte Stefan Scholtysek mit der Organisation eines Werkstattwagen. Den Schlüssel ihres Autos hatte ihm Ruth zuvor noch zugesteckt.

„Für alle Fälle“, meinte sie.

Gerade stand er auf dem Parkplatz vor dem Präsidium, traf das Serviceauto der Firma schon ein. Er bat, bevor das Auto in die Werkstatt geschleppt würde, wichtige Teile zu checken. „Vielleicht finden sie die Fehlerquelle direkt“, schob er freundlich, aber bestimmt, nach. Und tatsächlich, schnell fand einer der Service – Monteure heraus, dass der Zündverteiler defekt war. Während einer der Mechaniker das E – Teil flott besorgte, baute der andere den defekten Verteiler bereits aus. So konnte relativ unkompliziert die Sache behoben werden. Die Rechnung bat Scholtysek ihm zu senden. Da er in der selben Werkstatt mit seinem BMW als Kunde gut bekannt war, ergab dies auch keine besonderen Umstände. Gerade die letzten Worte gewechselt mit den Herren des Serviceteams, schrillte das Handy.

„Scholtysek.“

„Heller. Chef, da ist was los!“, stotterte er unkontrolliert in den Hörer.

„Reden sie nicht in Phrasen, bilden sie klare Sätze, Kriminalhauptkommissar Heller“, polterte er.

Er war ungehalten, ausgerechnet gegenwärtig wieder mit dem Thema konfrontiert zu werden. Wenn so was passierte, wusste er, dass er oft ungerecht sein konnte. Eben jetzt, wo er doch vor hatte mit Ruth ...... Aber seine Gedanken kamen nicht mehr weiter, da Heller ihn unverändert voll dröhnte. „Ja, aber.....“ Heller konnte vor lauter Aufregung den Faden nicht wirklich finden. Ruhe, Sachlichkeit, hörte sich anders an! Ob er wollte oder nicht, der Kriminaloberrat war gefordert.

„Nun .....mal halblang, ganz langsam. Eins nach dem Anderen. Was ist passiert, dass sie als erfahrener KHK so aus dem Ruder laufen?

„Leichen ...., nichts als Leichen. „Skelette... nichts als Skelette“, hörte er Heller, nun beinahe brüllend, sagen. Der ist aus der Spur, suggerierte er sich. Der dreht am Rad! Er fing sich, im Gegensatz zu Heller allerdings schnell.

„Also wieder von vorne und ganz ruhig. So sachlich und kompetent, wie ich sie kenne. Da fasse ich mal zusammen, wie es bei mir rüber kam“, redete er, bewusst langsam und dezidiert auf ihn ein

„Leichen und Skelette, das glaube ich nicht.“

„Doch, doch...!“

„Aber wo?“

„Im Wäldchen des Jasmunder Naturparks. Wo sonst?“

„Ist ja unfassbar“, brachte Scholtysek über seine schmal zusammengepressten Lippen.

Mehr konnte oder wollte er in dem Moment nicht von sich geben. Heller wiederum war froh, dass es raus war. Er beruhigte sich wieder. Nun war Scholtysek war mal wieder herausgefordert. Da muss ein Spezialtrupp der Spurensicherung hin, sagte er sich! Ohne Zögern rief er Carsten Meyer, den Chef der Spurensicherung an. Zusätzlich beorderte er Christmann, den zweiten Polizeioffizier mit einem großen Mannschaftswagen an die besagte Stelle. Und er musste trotz der widrigen Umstände plötzlich lächeln, als ihm in den Sinn kam, dass er nun auch noch den zweiten, ranghohen Polizeioffizier Rügens, den KOK seines Zeichens, in den Ring werfen musste. Doch bei der Brisanz der aktuellen Lage, durfte er absolut nicht zögerlich sein. Jetzt hieß es handeln und zwar zielstrebig. Und dass in solchen Fällen jede Menge Intuition gefordert war, wurde ihm sonnenklar.

„Das ist ein außergewöhnlicher Fall, da hilft nicht bloß die übliche Polizeistrategie, die Routineerfahrung. Nein, da müssen wir mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln arbeiten. Ich mache am Besten schon die zwei Fallanalytiker, oder wie es bei uns heute so Neudeutsch heißt, „Profiler“, des Hauses mal heiß“, beschäftigte er sich, ein Stück weit frustriert, mit dem Thema wieder weiter.

Von Heller hörte er dann, aber eher beiläufig, dass das Blockhaus wieder leer sei. Die drei Männer seien ausgeflogen. Festgestellt hätten sie das aber erst, als sie aus dem Wäldchen zurück waren. Gedankenversunken drückte er den Knopf. Das fehlte heute noch, wo er so gerne mit Ruth Ofenloch ausgegangen wäre. Vorausgesetzt, sie wollte es auch. Umgehend rief er Degoth an, der sich ja anbot, stets in vollem Einsatz zu sein. Er interpretierte: Stets bereit für alles! Doch dann dachte er: Zumindest als Info sollte er es wissen. Der jedoch meldete sich nicht. Der ruf ging permanent ins Leere. Vermutlich hatte er sein Handy vorsorglich ausgeschaltet. Verdenken konnte er es ihm nicht! Gerade war er selbst in der gefühlsbetonten Situation. Konnte es gut begreifen. Zudem wusste er ja schließlich, dass Michel Degoth mit seiner Frau Chantal in Ralswiek noch einiges besichtigen und nett essen wollte. Im Grunde tat er also das, was er mit Frau Ofenloch noch vor hatte. Sein Handy schrillte erneut. Diesmal war es Frau Ofenloch.

„Hallo Frau Ofenloch. Bin gleich bei ihnen“, sagte er, bevor sie zu Wort kommen konnte.

In wenigen Minuten stand er vor der Praxis von Frau Dr. Irmgard Nutzfeld, der Frauenärztin. Er kannte sie flüchtig aus dem Golfclub. Aber aus Zeitgründen hatte er sich schon viele Wochen nicht mehr dort sehen lassen. Ob sie verheiratet ist, konnte er nicht sagen. Aber in dem Augenblick war ihm das wirklich egal. Für ihn war Ruth, wie er sie heimlich nannte, die Auserwählte. Nun, wo er ja frei war, seine Frau eigene Wege ging! So in Gedanken versunken, sah er durch den rechten Außenspiegel Ruth Ofenloch an den Wagen kommen. Sie stieg zu ihm ins Auto. Die Autotür gerade geschlossen, berichtete sie wie erlöst, was sonst eher nicht ihre Art war, dass die Untersuchung und der Befund einwandfrei seien. Deshalb hatte sie also allen Grund so beschwingt und gut gelaunt zu sein. Sagte er sich. Auch er freute sich mit ihr. Jetzt vermeldete er, nicht ohne sie dabei hoffnungsfroh anzuschauen, dass ihr Auto wieder funktioniere. Sie war begeistert. Schaute ihn strahlend an. Nach der Rechnung fragte sie, vor freudiger Erregung, nicht. Aber das hatte ja Scholtysek eh für sie erledigt.


Wie ein jung verliebtes Paar suchten sich ihre Hände, die sich schließlich fanden. Beide empfanden also gleich! Jetzt wusste er es. Es war ein gemütlicher Spaziergang, der sorgenfrei über die Feldwege an dem kleinen Wald vorbei, wieder zurück zu seinem Wagen führte. Das abschließende Gourmet essen war die Krönung für den heutigen Tag. Und Ruth Ofenloch ging durch den Sinn: Dabei wollte ich vorhin noch, aus lauter Höflichkeit, die Einladung ablehnen. Gott sei Dank, sagte sie sich nun, habe ich es schnell verworfen. An dessen Stelle sagte sie: „Gerne Herr Scholtysek.“

Jetzt war sie es, die die Gelegenheit ergriff und ihm einen zärtlichen Kuss gab. Innerlich strahlte er, mehr, als es äußerlich den Anschein hatte. Im siebten Himmel wägte er sich. Es war später Abend als er wieder zurück zum Parkplatz des Präsidiums fuhr. Bevor sie aus dem großen alten BMW stieg, war sie es wieder, die die Initiative ergriff. Diesmal küsste sie ihn zärtlich auf seinen Mund. Eine leichte Verlegenheit überströmte sie. Wie stets, wenn sie mit ihrem Chef zusammen war. Das legte sich selbst nach mehr als dreizehn Jahren nicht. Jetzt kam ihre beider Gefühlswelt ins strudeln! Scholtysek hätte sie allzu gerne innig geküsst, eng und zärtlich in seinen Arme geschlossen. Dann aber ließ er es, wenn auch schweren Herzens, bei dem Geschehenen. Der gemütliche Resttag, so nannte er es für sich, endete noch nicht im Bett.

„Obwohl, das wäre....“

Aber er sprach es nicht aus. Und er war insgeheim froh, dass er sie nicht darum bat, sie gar überrumpelte. Gerade beim ersten Date. Das wäre sicher etwas zu ambitioniert gewesen. Ganz Kavalier wie er war und besonders gerne für Ruth, begleitete er sie bis vor ihre Haustür. Dort wartete er bis ihr Haustürschlüssel sich im Schloss drehte und die Tür hinter ihr zufiel. Im Schatten des Flurlichtes sah er bloß noch die Umrisse ihrer tadellosen Figur. Dann erst startete er den Wagen und fuhr beschwingt und erregt von dannen. Auf halber Strecke Richtung des Nachhauseweges entschloss er sich schließlich, mal wieder, doch noch kurz im Büro vorbei zu schauen. Er konnte es einfach nicht lassen.

Unbewältigte Vergangenheit

Подняться наверх