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Dienstag, 29. Juli 2008

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Ihr Magen meldete sich, der Hunger war angekommen. Michel drängte sich ganz nah an Chantal. Sie wusste warum, sagte aber keinen Ton. Gemütlich nahmen sie ihre Plätze im Freien ein. Gratis war der besonders anmutende Blick auf die vorgelagerte Insel Dänholm. Die großen Grünanlagen lagen noch im Halbschatten, da und dort konnten sie Tau auf dem wunderbar schimmernden Grün erkennen. Eine Klappbrücke aus alten Vorzeiten, trennt Dänholm vom Festland. Gestern lasen sie bereits, dass diese Brücke nur zu festgelegten Zeiten geöffnet wird. Eben ausschließlich dann, wenn große Schiffe den Weg zum Hafen passieren müssen.

Gerade kam die Bedienung an den Tisch. „Guten Tag“, sagte sie und übergab, nach kurzer,

höflicher Pause, die Frühstückskarte.

„Darf ich ihnen schon etwas zu Trinken anbieten?“, ergänzte sie.

Schnell stellte sich heraus, dass sie eine waschechte Stralsunderin ist, die seit einigen Jahren in diesem Gewerbe ihr „Glück“ versucht! Die freundliche Dame mittleren Alters, die sich nicht scheute, obwohl ausreichend Personal verfügbar schien, selbst zuzupacken, machte einen selbstbewussten Eindruck, man konnte es auch resolut nennen! Sie wählten Tee, denn der Magen von Degoth spielte seit gestern ziemlich verrückt! Irgendwie war ihm speiübel, er hatte Magenkrämpfe und auch sein Darm war unruhig! Dann entschieden sie sich für etwas Käse, eine Wurstsorte und Marmelade mit Brötchen und Knäckebrot. Dazu eine große Flasche stilles Wasser. Chantal wollte zusätzlich noch ein Frühstücksei. Aufmerksam wie die Bedienung war, stand sie umgehend an ihrem Tisch und notierte die Order. Einige Minuten später stand ihr Frühstück bereits vor ihnen. Schon wieder im Gehen rief sie etwas hinüber zu einem ihrer Kellner, in einem für sie unverständlichen Dialekt. Es musste aus der Region Mecklenburg Vorpommern stammen. Niederdeutsch eben, wie es ein Süddeutscher, geschweige denn ein Ausländer absolut nicht verstehen konnte. Das wäre so, als würde man im tiefsten Bayrischen Wald nach dem Weg fragen Jedenfalls musste es was Lustiges gewesen sein, denn beiden stieg ein Lächeln über ihr Gesicht. Derweil Chantal mit gutem Appetit zugriff, war Michel schon deutlich zurückhaltender, er wusste warum! Heute, das war ihm bewusst, war lediglich leichte Kost angesagt. Mit Chantal hier oben zu sitzen, war allerdings in dem Augenblick mehr als eine Entschädigung für ihn. Als sie ihr Frühstück, heute etwas wortkarg, beendeten, machte sich Degoth schnell auf den Weg zu einer Apotheke. Ohne Medikamente ging es einfach nicht. Erst danach fuhren sie mit ihrem Sportwagen über die alte Brücke nach Rügen. „Du weißt“, sagte er zu seiner Lieben, „auf dem Rückweg nehmen wir die neue, damit wir den anderen Blick auf Stralsund haben.“ Sie nickte lächelnd und ihr Gesichtsausdruck verriet, wie glücklich sie war mit ihm in seiner Heimat, hier oben ihm Norden Deutschlands, unterwegs zu sein.

Gestern hatte Kriminaloberrat Scholtysek mal wieder eine Aussprache mit seiner Frau Renate. Schon mehr als zwei Jahre ging sie ihren eigenen Weg. Auf der einen Seite störte es ihn, auf der anderen war er eh meist im Dienst. Etwas stand immer im Weg, was ihn von seiner Familie fern hielt, stellte er selbstkritisch fest. Nach dem Abitur gingen die beiden Kinder zum Studium außer Haus. Die Tochter nach Berlin, wo sie Germanistik studierte und der Sohn nach Mannheim zum Studium der Wirtschaftswissenschaften. Reflektierend meinte er, dass er einen hohen Tribut zollte, es ging ihm durch den Kopf, dass er seine Kinder sehr selten sah. Sowohl in der Kindheit als auch in ihrer Jugend. In der Frühe waren sie meist noch im Bett und abends, wenn er nach Hause kam, bereits wieder. Da blieben nur die Wochenenden, die überdies ebenfalls häufig mit Polizeiarbeiten gespickt waren. Das eine oder andere Jahr mussten auch die Sommerferien darunter leiden, die gänzlich ausfielen, als der Neubau sie forderte, ja beinahe überforderte. Irgendwie konnte er auch nachvollziehen, dass deshalb die Ehe und Familie brüchig wurde, nicht mehr in Takt war. Einige Male dachte er über Scheidung nach. Aber Renate, seine Frau, wollte davon nichts wissen. Es änderte sich deshalb bis heute nichts. Wirklich sauer auf seine Frau, dass war ihm wichtig, konnte er nicht ernsthaft sein. Zwar hatte sie sich seinerzeit mit einem anderen Mann getroffen, ihm auch erzählt, dass es ein früherer Arbeitskollege gewesen sei, aber er war letztendlich der Auslöser. Er war nie da! Auch gestern stritten sie sich, wie so häufig. Danach schloss sich zwar ein Gespräch an, zu Beginn auch durchaus konstruktiv, aber mal wieder ergebnislos. Vielleicht sei es ja besser, wenn er auch seiner Wege ginge, suggerierte er sich mal wieder. Erschwerend kam hinzu, dass er lange Wochen nach dem ersten Zoff mit seiner Frau, rein zufällig erfuhr, dass es damals gar kein Arbeitskollege gewesen war. Diese Nachricht erschwerte die Situation erheblich, insofern war hier nichts mehr zu kitten.

An dem Vormittag trat der Kriminaloberrat, obwohl er gestern spät aus dem Präsidium ging, besonders früh in sein Büro. Das hatte nicht nur mit der vielen Arbeit zu tun, sondern auch mit der Flucht vor dem Zuhause. Aber so früh konnte er gar nicht sein, dass er seiner Sekretärin zuvorkam. Die war immer die Erste und begrüßte ihn heute, wie jeden Tag, mit einem freundlichen guten Morgen Herr Kriminaloberrat. Ihre stets gute Laune passte geradezu ideal in den tristen Alltag der Kriminalen. Eine Tasse Kaffee hielt sie, wie täglich, in der Hand und stellte diese rechts vor ihn auf den Schreibtisch. Über die Jahre war dies zum Ritual geworden. Ruth Ofenloch war unverheiratet und ihr Chef Teil ihrer Familie. Er drehte den Sessel und setzte sich.

„Danke Frau Ofenloch. Sind eigentlich Anrufe oder Mails für mich da?“, lächelte er sie, nun etwas ausgeschlafener als zuvor, an. Wie jeden Morgen, das war ihr wichtig, so hatte sie auch heute die Mails längst ausgedruckt, sortiert und mit anderer Post vorbereitet. Denn bevor sie die Treppe im Präsidium nach oben ging, war ihr erster Weg stets zum Briefkasten. Den leerte sie und sortierte die Post, die direkt für ihren Chef bestimmt war, in dessen Postmappe. Mit ihren hübschen Fingern zeigte sie auf die Postmappe und sagte: „Ja, einige Nachrichten liegen hier drin. Überdies He.....“, sie machte eine kleine Pause, „schauen sie mal in das Rügener Wochenblatt.“

„Warum so eilig? Was Besonderes?“ Doch bevor er auf Antwort wartete, sagte er: „Sagen sie bitte nicht so förmlich Herr Kriminaloberrat. Dafür kennen wir uns schon so lange und haben schließlich ein kollegiales Verhältnis. Oder?“

Oft hatte er sich vorgenommen, dies mal zu äußern, aber kurz vor dem „Ziel“ verließ ihn schließlich stets der Mut! Und jetzt hatte er es geschafft, endgültig. Es war ihm wichtig es mal los zu werden. Frau Ofenloch ging darauf zwar nicht ein, lächelte aber dankbar. „Kann man so sagen“, erwiderte sie nun mit ernster Miene. Dann gab sie, um ihn nicht länger auf die Folter zu spannen, den Hinweis, doch mal unter der Rubrik Granitz nachzuschlagen.

„Im Regionalteil“, fügte sie an. Er schlug die entsprechende Seite auf und las in großen Lettern: „Großschlägerei zwischen zwei Banden. Die Polizei musste eingreifen.“

„Verdammt“, fluchte der KOR, auch das noch, mit Abbildungen von Heller und Meurer. Deren Namen wurden gar erwähnt. Das passt ja absolut nicht in unsere Polizeistrategie. Die wissen doch, dass wir das unbedingt vermeiden wollen. Ist ja wirklich ein dicker Hund! Davon hat der Heller kein Sterbenswörtchen gesagt.“

Scholtysek war voller Zorn, richtig in Rage redete er sich. Das fehlte noch, wo sie im Augenblick einen kritischen Fall wiederbeleben lassen wollten Noch besser, mussten. Da sollte alles unbedingt Top Secret ablaufen. Laut sprach er es allerdings nicht aus. Frau Ofenloch, die unverändert, beinahe aus gewohnter Vertrautheit mit ihm, am Schreibtisch stand, ergriff Partei. Diesmal aber für Heller.

„Wie konnte er? Er fuhr nach Granitz, sie saßen zwar im Büro, aber dann war es doch viel zu spät. Überdies konnte er sicher nicht ahnen, dass es so eskalieren würde.“

„Ja, sie haben ja recht. Das konnte er wirklich nicht mehr verhindern“, gab er sich plötzlich betont

versöhnlich.


Ein großen Schiff steuerte in den engen Hafen. Deshalb mussten sie eine Weile warten, bevor sie die Brücke passieren konnten. Sie sahen, wie die alte Klappbrücke sich bewegte und ihre riesigen Fahrbahnbetten mit nach oben zogen. „Auch die alte Technik“, so Chantal mit einem Schalk im Gesicht, „hat ihre Raffinessen.“

Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, dann war der Weg für die Weiterfahrt hinüber auf die Insel wieder frei. Gleich waren sie auf der Alleenstraße Richtung Bergen. Es war eine gemütliche Strecke. Frohgemut scherzten und erfreuten sie sich an der schönen Landschaft. Vor allem für Chantal war es ein besonderes Erlebnis. Aus ihrer Heimat kannte sie so viel Grün und die Vielzahl von wunderbaren Bäume nicht. Dort wo sie herkam ist es eher karg und große Grünflächen selten zu entdecken. Bei allem was Südfrankreich sonst an Annehmlichkeiten bietet, das gab es in diesem Ausmaße nicht. Nach der kurzweiligen Fahrt erreichten sie Bergen. Gleich machten sie sich auf in die älteste und bedeutendste Kirche Rügens. Was sie bereits im Reiseführer lasen, konnten sie vorhin an der Touristeninformation nochmals entdecken. Da stand als erstes: Bergen gilt auch heute noch als lebendiger Marktort im Inselzentrum, auf den alle Rügener Bürger stolz sind, so der Nachsatz. Sie staunten nicht schlecht, mit welchem Selbstbewusstsein die Insulaner solche Äußerungen formulierten, sie konnten dies nachvollziehen. Gerade bestiegen sie den Turm der Marienkirche. Schnell glitt ihr Blick, beinahe schon automatisch, über die Dächer der herrlichen Marktstadt. Der Horizont zeigte sich ihnen in dem Moment Grün und Blau. Sie waren fasziniert. Auch, wenn sie zügig weiter wollten, um in Rügen alle Ecken zu erkunden, gönnten sie sich zunächst noch eine gemütliche Tasse Kaffee. „So viel Zeit muss sein“, meinte Chantal und kniff Michel neckisch in den Arm.


Der Weg nach Sellin, ihrem ersten Halt in einem der Seebäder, war in Angriff genommen. An

Granitz vorbeifahrend, erreichten sie nach nicht mal vierzig Minuten ihr Ziel. Auf dem großen Parkplatz, unweit der Stadt, stellten sie ihr Fahrzeug ab. Von dort aus schlenderten sie, es waren nur wenige Hundert Meter, zu der berühmten Uferpromenade. Schon von weitem erkannten sie die längste, sicher auch die schönste Seebrücke Rügens. In Gedanken malten sie sich aus, wie sie erst am Abend, wenn alle Lichter strahlten, glänzen würde. Darin waren sie sich einig: sie mussten es unbedingt erleben. Gerade ein kleines Stückchen auf der Uferpromenade flaniert, stach ihnen eine steile Treppe, die hinunter an den Strand führte, ins Auge. Dann standen sie auch schon in dem feinen, hellen Sand, der ihre nackten Füße angenehm umspülte. Das „Meer“ der Strandkörbe war, so schien es, ausnahmslos belegt. Wie gebratene Fische lagen unzählig Menschen in ihren Strandkörben oder auf Sonnenliegen daneben. Da entstand schon der Eindruck, als würden sie in einem glühenden Feuer liegen. Nach einer Weile nahmen sie die Treppe wieder nach oben. Schließlich wollten sie die berühmte Seebrücke besuchen und in dem anmutenden Restaurant, was sehr einladend aussah, gemütlich bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen verweilen. Das noch junge Ehepaar unterhielt sich angeregt. Sie plauderten so intensiv, dass sich die Menschen um sie herum mit großen Augen nach ihnen umdrehten. Manche mokierten sich und brachten mit der ihnen eigenen Mimik, ihr Missfallen zum Ausdruck. Bis auf den letzten Platz war das Restaurant belegt. Ein Kellner, der nicht gerade freundlich wirkte, stand unweit von ihnen. Sollten sie diesen Kerl bitten sie zu bedienen? Anstalten dies zu tun, machte er jedenfalls nicht! Dann trösteten sie sich, dass es solche Menschen überall geben könnte und winkten ihn lässig heran. In müdem, schlaksigem Trott kam er mit genervtem Gesichtsausdruck an ihren Tisch. Ihr Eindruck täuschte sie nicht. Auch, wenn sie mittlerweile versorgt waren und der Kuchen bei gutem Wetter schmeckte, war es ihnen ein Rätsel.

„Warum ergreift jemand den Beruf eines Kellners, wenn er sich dabei überfordert fühlt, nichts damit anfangen kann?“, setzte Michel nach. Er sagte es nicht ohne Grund, denn dessen unfreundliche Art zeigte sich auch im Umgang mit anderen Gästen auf der Kaffeeterrasse. Ein Gast gab ihm, das konnte er eben beobachten, auch kräftig Kontra. Aber es schien den Burschen kalt zu lassen. Er blieb unbeeindruckt.

„Unfreundliche Leute in der Region! Was sagst du?“, fragte er jetzt Chantal.

„Na ja, so ernst sehe ich das nicht“, erwiderte sie. „Und bislang haben wir doch wirklich nette Erfahrungen gemacht! Sicher, hast recht, ein unhöflicher Kerl ist er, scheint aber eher eine Ausnahme zu sein. Aber lassen wir es uns hier oben nicht verdrießen, wäre vertane Zeit, viel zu wertvoll!“

Michel blieb still, nickte. Auch ihm war bewusst, dass dies nicht passieren durfte. Mit dem Blick hinüber zu den Kreidefelsen, der von dieser Stelle umwerfend war, gelang es sich abzulenken. Voller Begeisterung juchzte er nun: „Wenn du erst den Blick von Binz dort hin richtest, hast du gar ein Panorama par excellence. Eine echte Steigerung“, setzte er fröhlich nach.

„Da wollen wir doch hin, oder?“, so Chantal!

„Unbedingt“, mimte er lustig. „Übermorgen, wenn wir uns mit Rudi und seiner Frau treffen.“

In dem Augenblick stiefelte der Kellner, denn anders konnte man seine Gangart wirklich nicht nennen, in Richtung ihre Tisches. „Der hat wohl den seltsamen Gang, der aussieht als hätte er einen Stock im Kreuz, von früher Kindheit geübt“, gab er sich scherzhaft.

Und in der Tat, es sah verrückt aus. Die steife Haltung, die Mimik, die unwirsch und verachtenden Blicke die von ihm zu ihnen rüber schwappten, zeigten nur Kühle. Dabei gab er sich beinahe Mühe,

keine Miene zu verziehen. Guten Service konnten sie dies nicht nennen. Er legte, zunächst wortlos, eine Beleg auf den Tisch. Degoth und seine Frau schauten ihn erwartungsvoll an. Sie rechneten mit einer Erläuterung. Doch die kam nicht. Ihre verdutzten Blicke, die sie sich gegenseitig zuwarfen, machten deutlich, dass es nicht ihre Aufgabe sei das Wort zu ergreifen, eine Erklärung abzugeben. Nein, dass musste der Kellner schon selbst tun. Deshalb ignorierten sie es stillschweigend. Nach kurzem warten brabbelte er vor sich hin, ohne sein Gesicht auf die vor ihm sitzenden Gäste zu richten: „Habe es eilig, bloß kassieren.“ Sein Blick, das beobachtete Degoth mittlerweile akribisch, schweifte hinunter an den Strand.

Auf der Rückseite des Gebäudes lag die Meeresbucht. Dahin, wo nicht allzu weit eine Bootsanlegestelle weit hinaus ins Meer ragte. Sie erinnerten sich, dass sie zuvor, während sie auf der Uferpromenade flanierten um zur Seebrücke zu laufen, dorthin einen kurzen Blick warfen. Es vergingen Minuten, aber es tat sich nichts. Der Kellner harrte unverändert in seiner ihm eigenen Stellung. Als er schließlich vor lauter Nervosität von einem auf das andere Bein hüpfte, fing er doch an, wenn auch mit hochrotem Kopf, zu stammeln. „Werde abgelöst, muss dringend weg“, er legte eine kurze Pause ein ....., „dass sie die Rechnung begleichen. Deshalb.“

Sie wollten es nicht auf die Spitze treiben, aber eine solche Art, gerade in einem doch recht ordentlichen Restaurant, ist einfach inakzeptabel. Davon waren sie fest überzeugt. Dann gaben sie sich einen Ruck, und sagten: „Warum nicht gleich?“ Degoth legte den Betrag, diesmal exakt abgezählt, auf den Tisch. Sonst war das nicht seine Art. Er gab immer ein kleines Trinkgeld. Manchmal, wenn die Bedienung besonders nett war, konnte es auch mehr sein. Flott steckte der Bursche das Geld in seine Kellnerbörse. Dabei griff er nach dem Beleg, der noch immer unberührt auf dem Tisch lag. Er wollte doch tatsächlich den Bon wieder mitgehen lassen! Aber Degoth war schneller und schnappte vor ihm zu. Auch wortlos! Stumm drehte er sich schließlich um und sputete sich weg zu kommen.

Plötzlich schien er es verdammt eilig zu haben. Chantal und Michel schauten sich irritiert an. Sie fanden dieses Verhalten richtig absurd. Schließlich trödelte er zuvor herum, war wortkarg und unfreundlich zugleich.

„Auf einmal macht der in Eile“, sagte Chantal. „Ich glaube, dem muss einer mal die Flötentöne korrekt beibringen.“

„Das kannst du laut sagen. Gerne hätte ich ihm die Leviten gelesen.“ Dabei warf er seinen Blick in den Himmel. Während der Dialoge, die man eher stummes Theater nennen konnte, ballte sich das in der Frühe bereits im Radio angekündigte Unwetter an. Das war ihnen zuvor gar nicht aufgefallen, so verfangen waren sie in der seltsamen Geschichte. Noch behauptete sich allerdings die Sonne, so dass der Gedanke an einen Orkan nicht wirklich aufkommen wollte.


Das herrliche Sellin hatte einen trüben, regnerischen und stürmischen Sommernachmittag erwischt. Ein Orkan, wie er am Vormittag im Radio angekündigt wurde, machte sich breit. Aber das schien die vielen Gäste nicht zu beeindrucken. Als schiene die Sonne pur, sei Windstille, bestes Badewetter, lief das Strandleben ab, und auf der Uferpromenade herrschte nach wie vor Hochbetrieb. Das war ein gutes Zeichen für die Geschäfte und das Hotel- und Restaurantgewerbe. Auf der Promenade lief in dieser Zeit ein Mann, der ordentlich gekleidet seinem Ziel entgegensteuerte. Wo er her kam und hin wollte, war niemanden bekannt. Sein Weg führte ihn zunächst zum Lift. Von dort aus ging es hinunter zum Sandstrand. Gleichzeitig konnte man aber auch hoch zur Seebühne. Sicher, nichts Ungewöhnliches für einen solchen Ort, wo viele Menschen, gerade in der Hochsaison, sich tummelten. Der Mann schritt zügig weiter, machte eine kurzen Halt und zog schließlich Schuhe und Strümpfe aus. Erst danach trat er in den weichen Sand. Man sah ihm an, wie er die wohltuende Wärme verspürte. Sein schwarzes Haar war elegant nach hinten gekämmt. Auf sein Outfit, das sah man ihm an, legte er großen Wert. Plötzlich stellte er sich neben einen Strandkorb. Dann lehnte er halb schräg daran und schaute nach allen Seiten. Schuhe und Strümpfe hielt er noch immer vornehm in seiner Hand. Jetzt wurde deutlich, dass er auf jemanden wartete. Ein seltsamer Ort für ein Meeting könnte man meinen, aber dann stolzierte ein Fremder auf ihn zu. Dessen schlaksige Gangart war ungewöhnlich. Aber eins fiel auf: Auch er war gut gekleidet und legte Wert auf sein Äußeres. Das hatten also die beiden schon mal gemeinsam, stellte der aufmerksame Beobachter fest. Aber wer sollte bei dem Trubel gezielt beobachten?


Der Kellner war im Haus der Seebrücke verschwunden. Degoths Frau setzte gerade ein zärtliches Lächeln auf und schaute belustigend in der Gegend herum. Stumm strahlte er zurück. Der Auftritt des Kellners hatte ihn irritiert.

„Gut so, dass er endgültig weg ist“, ging es ihm durch den Kopf. Just in dem Moment sah er ihn allerdings wieder. An seinem seltsamen Gang, den er sich gut einprägte, erkannte er ihn zweifelsfrei. Auch, wenn er diesmal in Zivil unterwegs war. Zumindest auf sein Äußeres legte er also großen Wert. Er stürmte die Treppe hinunter, direkt zum Strandbad. Die ganze Zeit ließ Degoth ihn nicht mehr aus den Augen, die sich an seine Fersen hefteten. Jetzt aber blieb er unverhofft stehen, stocksteif, wie es ihm eigen war. Mit dem anderen Auge, er blinzelte in die hochstehende Mittagssonne, sah Michel einen Mann auf den Kellner zusteuern. Vornehm gekleidet, schwarze Haare, seine Schuhe und Strümpfe in der linken Hand haltend. Schnell, so beobachtet er, kamen sie ins Gespräch.

„Das ist....., die müssen eine Verabredung haben ..“, ging ihm durch den Kopf! Schließlich standen beide eine Zeitlang am Ufer, erst dann gingen sie einige Schritte weiter. Seine Blicke verfolgten wie gebannt alle Szenen, konnten sich nicht lösen. Mit vielen Worten übergaben sich gegenseitig etwas. So viel erkannte er nun. Als sie sich umdrehten, sah er, dass dieses gewisse Etwas in weißem Papier eingewickelt war. Das alles geschah, wenn auch in aller Öffentlichkeit, recht geheimnisvoll. Die Worte die sie sprachen hörte er zwar nicht. Gestik und Mimik verdeutlichten ihm jedoch, dass hier irgendetwas außergewöhnliches ablaufen musste.


„Mein kriminalistisches Gespür scheint gefordert“, sagte er in sich hinein. Dann blickte er zu Chantal, die unverändert bequem die Landschaft und die Menschen beobachtete. Als er sich erneut umdrehte, den Faden wieder aufnehmen wollte, waren die Männer jedoch wie vom Erdboden verschwunden. Am Sandstrand jedenfalls konnten seine Augen sie nicht mehr erblicken. Verdammt, murmelte er, eine Sekunde nicht aufgepasst und meine ganz Observierung ist im Eimer. Sofort gab er Chantal ein Zeichen und stand auf. Sie blickte voller Unverständnis! Schließlich folgte sie seiner Aufforderung. Eilig gingen beide die Treppe hinunter zum Strand. Und das Erinnerungsvermögen kam zurück: sie spürten wieder die Angenehme des feinen, warmen Sandes, der bereits erstmals vor wenigen Stunden, ihre Füße umspülte. Trotz der vielen Besucher war es relativ still. Sie genossen

es.

„Aus der Traum, die Spur finden wir nicht mehr“, gab Degoth von sich. Verärgert über sein Unvermögen, zog er sich zurück und ging mit Chantal unverrichteter Dinge den Weg zur Treppe, die hoch auf die Bäderstraße führte. Abrupt blieb er jetzt stehen. Beinahe stockte ihm der Atem! Man sah es ihm an. Was er da vermutete, ja, er traute seinen Augen kaum, trieb ihm das Entsetzen ins Gesicht. Stimmte das wirklich? Was er erahnte, auch, wenn er durch die intensiven Sonnenstrahlen geblendet wurde, konnte er sich nicht irren. Immer wieder und immer wieder hob er seinen Kopf und schaute an die besagte Stelle unter der Holzbrücke. Aus der Ferne, sollte ihn einer beobachten, musste man ihn für einen Verrückten halten. Wenn das zutrifft, dann rollte ein großer Kriminalfall auf Rügen zu. Schwirrte ihm durch den Kopf. In der dunkelsten Ecke lag tatsächlich etwas. Jetzt war es ihm klar, das war keine Halluzination! Das Etwas schimmerte leuchtend hell, schien weiß zu sein. Nur deshalb fiel es ihm wohl überhaupt auf, fand er. Chantal schaute währenddessen in eine ganz andere Richtung. Von alledem bekam sie nichts mit.

„Provozierte da jemand Aufmerksamkeit?“, schoss es ihm durch den Kopf. Die Neugierde packte ihn, auch wenn er vor lauter Angst bald schlottrige Knie bekam. Ja, auch ein Hobbykriminologe ist manchmal schwach! Er spekulierte, bevor er unter die Brücke ging, was es ein könnte. Hell schimmernd, aussehend wie ein Gerippe. Was konnte sich dahinter verbergen? Das war ihm nun wirklich zu suspekt. Schließlich fasste er sich ein Herz und stieg unter die enge Treppe. Erste Schweißperlen liefen schon die Stirne runter. Nein, es war nicht nur der Schweiß durch die Sommerhitze. Nein, es war Schweiß der Spannung, erzeugt durch die Ängste, die sich in ihm stauten. Adrenalin wurde in großen Mengen freigesetzt. Dann fasste er es an, dass Etwas, wie er es nannte. Und tatsächlich, in dem weißen Paket steckten knochige Teile. Hin und her drehte er es, wollte es öffnen! Verwarf es wieder. Der Mut, der ihn anfänglich stark machte, schien seinen Körper verlassen zu haben. Chantal, die immer noch am Strand weilte, hegte keinen Verdacht. Sie stand nach wie vor interessiert herum und beobachtete in alle Richtungen. Seine Neugierde gewann wieder Oberhand. Erneut schaute er das weiße Päckchen an. Sehr vorsichtig, gar sorgfältig, nahm er es an sich und fühlte, immer wieder. „Ja“, sagte er sich, „das muss es sein!“ Aussprechen mochte er es nicht. Handelt es sich wirklich um eine menschliches Skelett? Oder träumte er es bloß? Beides war natürlich möglich, sinnierte er. Plötzlich grinste er spöttisch, wenn auch verhalten. Ihm fiel ein, dass es schließlich Kunststoffteile sein könnten. „Sicher hat sich hier jemand einen Scherz erlaubt! Wenn auch einen ziemlich derben!“ , redete er leise vor sich hin. Seine derzeit ambivalente Haltung machte es ihm nicht einfacher. Eins jedoch war ihm offensichtlich: da muss was passiert sein! Dann hatte ihn seine Hobby kriminalistische Neugierde endgültig im wieder im Griff. Die Geschichte wollte er sich keinen falls entgehen lassen. Gut so! Nur mit dieser Motivation war er in der Lage klar zu denken, zu rationalen Ergebnissen zu gelangen. Und wie zur Beruhigung sagte er selbst motivierend: „Vorhin lag es jedenfalls nicht hier“.

Als er aus der Dunkelheit hervortrat, schaute er zu seiner Frau. Mit ernster Miene rief er ihr etwas zu. Da sie immer noch einige Meter Richtung Strand stand, konnte sie, bei dem derzeitigen Stimmengewirr und dem sich anbahnenden Orkan, sicher nichts hören. Unmöglich sagte er sich! Auspacken und anfassen wollte er nichts. Schließlich wusste er, dass für die kriminaltechnischen Untersuchungen von hoher Relevanz war, dass keine zusätzlichen Fingerabdrücke darauf abgebildet wurden. Aber was sollte er Chantal erklären? Seine Unsicherheit kehrte zurück. Laut, aber nicht schreiend, rief er zu ihr hinüber: „Was soll ich bloß tun?“ Diesmal hatte er Glück, denn Chantal, die ebenfalls seine Richtung suchte, wurde aufmerksam. Das gewisse Etwas, wie er es zunächst nannte, gab er ihren Blicken nicht frei, noch nicht! Deshalb stellte er sich so, dass sie es nicht erkennen konnte. Flott auf ihn zusteuernd, derweil er immer noch vor der Brücke stand, sagte sie: „Was treibst du denn hier Michel? Was ist los?“ Seiner Sache unsicher meinte er: „Dachte da läge was. Aber jetzt kommt es“, stotterte er umständlich. Zurückhalten konnte er es nicht, so aufgeregt war er wieder geworden. „Es ist was Schreckliches, denke ich.....“ „Was Schreckliches“, wiederholte sie. Was meinst du damit? Und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer düsteren Grimasse. Er konnte nicht anders, musste seiner Frau sofort reinen Wein einschenken. Für sich behalten, das war keine Lösung, entschied er. „Schau, da liegt etwas. Nach meinen ersten Recherchen gehe ich davon aus, dass es ein Skelett ist“, ergänzte er seine Ausführungen ohne dabei richtig Luft zu holen. Seine ihm eigene Sachlichkeit trat wieder in den Vordergrund. „Wie, was? Unsinn, da lag doch zuvor überhaupt nichts! Wir hatten schließlich gemeinsam auf dem Weg hierher noch darunter geschaut. Gut zufällig, aber wir schauten hin. Das weiß ich definitiv. „Du sagtest noch: Wie sauber ist es hier unter der Treppe. Das ist nicht überall so! Nein, nicht weil wir was suchten, vermuteten, sondern aufgrund unserer natürlichen Neugierde.“ „Ja ..., ja, aber nun liegt es eben hier!“, gab Degoth ungestüm von sich.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Bursche, der ihn vor wenigen Stunden ansprach, die Wahrheit gesagt haben musste. Sellin lag in der frühen Nachmittagssonne friedlich vor ihnen. Michel Degoth und seine Frau Chantal betraten gerade den Strand des Seebades. In diesem Jahr, so erzählte Michel, der bereits mehrfach die Insel besuchte, würde der Sand in einem geheimnisvolles Weiß leuchten. All die Jahre zuvor hätte er es so nicht erfasst. Chantal schaute verschmitzt lächelnd zu ihm rüber. Konnte nicht wirklich begreifen, was er mit dieser Aussage zu verstehen geben wollte. Beide strotzen vor Tatendrang. Man sah es ihnen an. Nichts, aber auch nichts konnte sie aufhalten einen erlebnisreichen Sommerurlaub zu verbringen. Es galt, ihre Freiheit aus der Knute des Alltags hinter sich zu lassen. Da aber passierte es. Ein Fremder belaberte sie. Seinen Namen wollte der nicht herausrücken. Er erzählte eine unglaubliche Geschichte. Da ging Degoth durch den Kopf, dass diese Story Auswirkungen auf die ganze Insel Rügen haben könnte. Doch schnell verwarf er es und begleitete es zunächst mit einem müden Lächeln.

„Kann nicht wahr sein, so eine hin gedichtete Erzählung, nein, dass ist zu weit hergeholt.“ Ihren Weg zur Uferpromenade setzten sie dabei fort. Damit wollten sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenn da was sein sollte, kann der Mann zur Polizei gehen. Schließlich ist sie für solche Fälle der richtige Ansprechpartner. Aber ganz aus dem Auge wollt er es nicht verlieren. Sein Hauptproblem unterdes, bestand in Gedanken darin, wie er es Chantal beibringen könnte, wenn er sich wirklich zur Verfügung stellen sollte. Was würde sie diesmal sagen? „Es würde wieder Unstimmigkeiten verursachen“, sagte er sich und schaute Chantal von der Seite an. Die ahnte von seinen Gedanken noch nichts.


Er machte sich auf den Weg um in ruhiger Umgebung das Thema mit der Polizei zu besprechen. Ja, eine Meldung wollte er machen. Bewusst nutzte er nicht das Mobiltelefon. Das war ihm nun doch zu kritisch. In dem nächst besten Hotel, er hatte schon eins ins Auge gefasst, wollte er das erledigen. Auf dem Weg dahin, kam ihm wieder der seltsame Kellner und die Szene am Strand in den Sinn. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob die etwas unbilliges taten. Doch sicher ist sicher, sagte er sich und dachte dabei, dass es bestimmt sein Gespür für kriminalistische Hintergründe sei. Jetzt nahm er den Aufzug, um möglichst schnell auf die Strandpromenade Sellins zu gelangen. Das Hotel Marina, welches ihm vorschwebte, lag in unmittelbarer Nähe. Ohne Umschweife steuerte darauf zu. An der Rezeption saß eine Dame, die ihn freundlich begrüßte.

„Was kann ich für sie tun mein Herr?“

Etwas verlegen bat er: „Können sie mich bitte mit der Polizei verbinden?“

Sie runzelte die Stirn und erwiderte: „Mit der Polizei, was ist passiert?“

Aus dem Tonfall konnte er ihre Neugierde erkennen. Zugebenen, gesunde Neugier. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Schon gar nicht herauskitzeln. Einer solchen Person gesagt, ist wie der Presse direkt in die Feder diktiert.

„Ich bitte um Verständnis, aber das ist mit wenigen Worten nun wirklich nicht zu erklären und zudem ist es ausschließlich für die Ohren der Polizei bestimmt.“

Er stellte sich als Kriminologe – dabei vernachlässigte er das Wort „Hobby!“ – vor.

„Ja wenn das so ist!“

„Bitte gehen sie in Kabine drei, hier hinten um die Ecke, rechts.“

Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger der linken Hand in die besagte Richtung. „Und jetzt verbinde ich sie mit der Zentrale der Rügener Kripo“, rief sie ihm nach. Bereits kurz vor der Telefonkabine stehend, schaute er zurück und bedankte sich bei der Dame. „Wie ist bitte ihre Name?“

„Marina, ich bin die Chefin des Hotels“, antwortete sie kurz. Dann verschwand er in Kabine drei.

„Bitte! Ja, sie sind verbunden mit der Zentrale des Präsidiums der Polizei Rügens. Mit wem darf ich sie bitte verbinden?“, klang es freundlich am Ende der anderen Leitung.

„Degoth mein Name, Michel Degoth. Ich habe eine dringende Meldung zu machen.

„Nein, dem Kripochef persönlich, es ist besonders wichtig.“

„Das ist bei uns der Herr Kriminaloberrat Scholtysek. Er ist gleichzeitig der Polizeichef.“

Die Dame hakte nicht mehr nach und vermittelte sofort. Nach einer Weile klackte es.

„Scholtysek, was kann ich für sie tun? „tönte es mit einer tiefen Stimme aus dem Hörer.

„Degoth, Michel Degoth.“

„Ja, weiß, meine Sekretärin unterrichtet mich bereits. Was gibt es dringendes?“ Er berichtete, dass er gerade mit seiner Frau auf Urlaub sei und heute das schöne Seebad Sellin besuchte.

„Schön für sie“, reagierte er KOR genervt.

„Nun hören sie doch! Vor wenigen Minuten waren wir auf der Seebrücke und es schien alles in bester Ordnung. Es war still, gar friedlich. Wir gingen kurz zum Strand und dort entdeckte ich unter der Holzbrücke, es war reiner Zufall müssen sie wissen, in der hintersten Ecke einen auffällig zurecht gemachten Gegenstand.“

„Gut ..., gut, aber was hat das mit.... .“ Degoth hakte sofort ein:

„Ja, das ist ja das Verrückte, als meine Neugierde mich packte kletterte ich unter die Brücke und sah, oh Schreck, in einem weißen Paket, gar ordentlich verpackt, ein Skelett. Das heißt ich fühlte, weil ich aus kriminaltechnischen Gründen das Corpus Delicti nicht berühren wollte.“

„Sauber, sauber, der Herr. Da denkt jemand mit.“ Dabei hörte er durchs Telefon das Lachen des Polizeichefs.

„Mit Verlaub, das ist nicht zum Lachen.“

„Entschuldigung, so war das nicht gemeint. Wollte sie nicht auslachen. Aber was glauben sie, was täglich an kuriosen Meldungen bei uns eingeht.“

„Natürlich, denke ich mir. Doch das ist was Ernstes.“

„Also ein Skelett?“, wiederholte Scholtysek. Nun ruhiger und ohne Lächeln. Zumindest sah es Degoth ja nicht.

„Ja eben eine Leiche, die schon ewig irgendwo, nicht unbedingt an dieser Stelle, gelegen haben muss. Wissen sie, als wir kurz davor, meine Frau und ich, vom Strand kommend die selbe Treppe nach oben benutzen, lag es noch nicht an der besagten Stelle.“

„Nun mal halblang, vielleicht ist es ein Scherz, kein echtes Skelett!“

„Nein, nein, da kenne ich mich aus, bin selbst Hobbykriminologe, müssen sie wissen.“

„Aber Herr Degoth, ihre Meldung in Ehren. Wer will denn damit was bezwecken? Geht da nicht ihr Hobby kriminalistisches Gemüt etwas arg durch? Bitte verzeihen sie mir, aber da laufen, wie zuvor erwähnt, oft Meldungen ein, die ähnlichen Charakter haben, da muss ich kritisch hinterfragen, sie verstehen? Ja!“

„Selbstverständlich, das begreife ich natürlich, es ist aber so. Habe schon mehrfach mit Kollegen der Polizei ermittelt – als Kriminalist, versteht sich und ohne Honorar, möchte ich betonen! Da habe ich das nötige Gespür. Glauben sie mir. Stellen sie mich auf die Probe.“

Degoth hatte ihn wohl überzeugt. Ohne mehr hörte er: „Wo und wann können wir uns treffen?“ Scholtysek konnte hierbei das leicht genervte Seufzen nicht unterdrücken.

„Von mir aus sofort. Stehe am Stand, eben an der besagten Stelle“, war Degoths kurze Antwort.

„Was passiert, während sie hier mit mir vom Hotel aus telefonieren, mit dem Paket?“

„Keine Bange, dass ist geregelt. Meine Frau, sie ist eine couragierte Dame, steht davor und schirmt

es ab. Und der Hotelchefin hier in Sellin habe ich natürlich kein Wörtchen erzählt. Obwohl, das können sie sich sicher vorstellen, ihre Neugierde mächtig groß war.“

„Alle Achtung Herr Degoth. Sie fordern mich wirklich heraus!“ Diesmal sagte er es mit Respekt und ohne Unterton.

„Sagen wir in einer halben Stunde an meinem Strandkorb, der mit der Nummer 1375. Er gehört unserer Familie, ist in der Regel abgeschlossen, wenn wir nicht anwesend sind. Alles klar?“

„Ja, in Ordnung Herr Kriminaloberrat, ich mache mich auf den Weg und warte zunächst unter der Holztreppe vor der Seebrücke.“

Auch er sagte es diesmal ruhiger und mit dem nötigen Respekt gegenüber dem Polizeichef Rügens.

„Einverstanden, bis später“, hörte er noch, dann war jeder sich selbst überlassen. Degoth ging

zurück zu Chantal und berichtete.

„Mir ist während deiner fünfzehnminütigen Abwesenheit nichts aufgefallen“, antwortete sie, so als hätte Ihr Mann schon danach gefragt! „Keiner wollte unter die Brücke und niemand schaute, zumindest gezielt, hierher. Ein Glück, dass von der anderen Seite der Treppe kein Zugang möglich ist, wie?“

„Bleibt uns nichts anderes übrig, als auf den Chef der Rügener Polizei zu warten. Ein gewisser Kriminaloberrat Scholtysek. In zwanzig Minuten gehe ich zu dem besagten Strandkorb. Dann, so denke ich, werden wir gemeinsam hier erscheinen und alles Weitere besprechen. Chantal fiel auf, dass er immer so redete, wenn sein kriminalistisches Gespür einsetzte. Ihr wurde deutlich, dass er es darauf anlegte, die Polizei hier oben zu unterstützen. Da blendet er immer alles aus, sagte sie sich. Traurig war sie in dem Augenblick, wenn sie daran dachte, dass er sich mal wieder ausklinken würde und sie alleine sei.


Sie hatten das Gefühl, als würde es ewig dauern. Dann war es soweit! Degoth machte sich auf den Weg zu der verabredeten Stelle. Schließlich musste er ja noch den besagten Strandkorb finden. Schnell entdeckte er ihn. Er war noch abgeschlossen, wie Scholtysek es zuvor erwähnte und stand in der Nähe des Ufers. Na prima, dachte er, „bin wie immer zu früh beim Termin!“

Kurz danach nahm er einen Schatten wahr, der, so sah es aus, immer näher kam. Er war aufgeregt und konnte sich nicht verkneifen, sich umzudrehen. Wenige Meter vor ihm stand ein kräftiger, jüngerer Mann, der, so schätze er, mindestens 1,95 Meter groß war.

„Ob das der Kriminaloberrat ist?“, ging es ihm durch den Kopf!

Der Mann steuerte schnurstracks auf ihn zu und fragte forsch: „Was machen sie hier?“

Degoth lächelte und sagte: „Degoth, sind sie es, Kriminaloberrat Scholtysek? Wir haben doch vor etwa einer dreiviertel Stunde telefoniert. Sie erinnern sich sicher? Wegen des Fundes unter der Holzbrücke.“

„Entschuldigung“, presste er heraus. „War nicht bei der Sache!“

„Ja, mein Name ist Scholtysek, und ich bin auf Rügen der Polizeichef oder, wenn sie so wollen, der

Chefermittler der Insel.“

„Erfreut sie zu sehen! Meine Frau hält noch immer Stellung vor der Brücke. „Für alle Fälle!“

Scholtysek lachte laut, sein Berliner Dialekt war ansteckend. „Dann können wir uns ja austauschen

und loslegen, wie?“

„Genau“, so Degoth, der angetan war von der zielstrebigen Art des Chefermittlers. Sie liefen zur Holzbrücke. Degoth stellte seine Frau vor und der KOR bedankte sich, ganz Kavalier, für die Unterstützung in der Sache. Jetzt ging er wortlos unter die Brücke und nahm wahr, dass ein helles Paket, bei dem ein Teil eines Skeletts zu sehen war, in der von Degoth beschriebenen Ecke lag. Er stutze, war nun ebenfalls erstaunt. Doch nach außen vermied er es durchdringen zu lassen. In Gedanken grübelte er bereits, was da dahinter stecken könnte. Seine Erinnerungen führten ihn in den Mordfall der letzten Tage und die schon seit etwa fünfzehn Jahren zurückliegenden ungeklärten Fälle. Das ging ihm noch gestern spät am Abend in den Sinn.

Gerade wieder zurück in dem hellen Sandstrand, blinzelte er verlegen zu Degoth und dessen Frau. „Da muss ja in der Tat was furchtbares geschehen sein! Zunächst, es ist mir ein Rätsel, was soll ich sagen....?“

Von den Gedanken, die ihn gerade beschäftigten, erwähnte er keine Wörtchen. Aber Degoth nahm den Faden wieder auf. „Wohl wahr, aber das hilft nicht weiter. Wir müssen umgehend, Verzeihung, wenn ich sage umgehend, die Spurensuche aufnehmen. Da bleibt keine Zeit. Eine dunkle Ecke Rügens scheint hier geöffnet worden zu sein. Wo setzen wir an, ist die Frage, oder?“

Scholtysek schluckte, grinste verlegen, bei aller Dramatik des Fundes und erwiderte: „Sie sind ja gleich auf dem Thema. Ich erkenne, dass sie in der Tat mehr als ein Hobbykriminalist sind. Was schlagen sie denn vor?“

Degoth bat zunächst seine Frau um Entschuldigung, dass diese Situation ihren Sommerurlaub so beeinträchtigen könnte. Sie aber lächelte! Ihr war wohl klar, dass es nun mal wieder soweit kommen würde. „Die Ausschweifungen kenne ich ja“, plapperte sie vor sich hin.

„Ich gehe zur Seebrücke, nehme ein Glas Wasser zu mir und esse eine Kleinigkeit, während ihr hier fachsimpelt“, übernahm sie das Zepter.


Sie waren allein, der „große“ Polizeichef Rügens und der Hobbykriminologe Michel Degoth. Dann begann Scholtysek weitere Fragen zu stellen. Ob ihm Personen aufgefallen seien oder er Gespräche führte, die ihn im Nachhinein nachdenklich machten, vielleicht sogar seltsam vorkamen.

„Na, schießen sie mal los!“, sagte er schließlich.

Michel Degoth berichtete alles, was ihm relevant schien.

„Zunächst, das was ich ihnen bereits sagte. Hier stehen wir davor! Hinzu kommt noch ein Gespräch mit einem Mann, der mich vor einigen Stunden ansprach. Er hätte einen Fund gemacht. Nein, an dieser Stelle sei dies nicht gewesen. Und wirklich konkret stufte ich es auch nicht ein. Er berichtete nur wirr, dass er dabei von fremden Blicken beobachtet worden sei. Zumindest sei dies sein Gefühl gewesen! Insofern verdrängte ich es schnell wieder. Erst später, als wir auf der Terrasse des Restaurants der Seebrücke saßen, der Kellner, wie bereits erwähnt, ein eigenartiges Verhalten an den Tag legte, sich später am Strand mit einem Fremden traf und mir das Verhalten verdächtig vorkam, stieg mir in den Sinn, da könnte eine verabscheuungswürdige Untat dahinter stecken. Und dann natürlich ...., na ja, den hiesigen Fund. Sie haben es eben selbst gesehen!“

Sie schwiegen zunächst! Beide! Doch die Ruhe machte Degoth wahnsinnig, er musste reden, war so unruhig und fühlte sich wie ein Spürhund. Ihm wurde deutlich, dass ein schwerwiegendes Verbrechen dahinter stecken musste. Aus seiner Sicht konnte es nicht anders sein! Plötzlich ein Skelett am Strand, unter einer Holzbrücke in der dunklen Ecke! Dazu in einem leuchtend weißen Paket. Auf der eine Seite versteckt, auf der anderen sichtbar platziert. Ist das nicht komisch? So faselte er ohne Scholtysek anzuschauen. In dem Augenblick ergriff Scholtysek das Wort.

„Da müssen wir wohl wirklich sehr tief graben. Das heißt ich und meine Polizisten. So trivial scheint es wirklich nicht zu sein, wie ich es, zugegeben, anfänglich einstufte.“

„Nicht nur sie Scholtysek, ich darf es doch sagen?“!

„Ja klar Degoth, ich darf es doch sagen?“

Beide lachten laut. Mehr vor Verlegenheit und Ratlosigkeit als aus Begeisterung! Das war nach dem Vorfall allemal klar.

„Ich glaube“, sagte Scholtysek, „da will jemand auf Morde aufmerksam machen, die in grauer

Vorzeit geschahen, vielleicht nie entdeckt wurden.“

„Doch warum heute, nach Jahren oder gar Jahrzehnten?“, wandte Degoth ein. „Das ist doch die

wesentliche Frage. Fühlt der oder die sich sakrosankt? Ich meine also unantastbar oder gar wie der

liebe Gott?“

„Vielleicht quälte jemanden bloß sein schlechtes Gewissen und er kann nicht mehr ruhig schlafen.“

„Mag sein Scholtysek, aber welchen Zweck der große Unbekannte damit verfolgt, bleibt erst mal

verborgen. Ist es ein Psychopath?“, setzte er nach.

Nach dem kurzen Abwägungen und Bedenken, entschieden sie sich zurück zur Seebrücke zu gehen. Schließlich wartete Chantal auf ihren Mann. Sie saß alleine am Tisch und sah die Beiden schon von weitem. Auf der Seeterrasse eingetroffen setzten sie sich gleich zu ihr. Eine Tasse Kaffee sollte ihnen jetzt nicht schaden, meinten sie und winkten dem Kellner.

„Nochmals zurück...., sagen sie mal Degoth: wie sah den der Mann, den sie vor Stunden auf der Uferpromenade trafen und der Kellner, den sie vor etwa zwei Stunden hier erlebten, aus? Welche näheren Anhaltspunkte können sie mir nennen?“

Sie waren sich einig, dass sie diese Männer vernehmen müssten, in jedem Falle. Und überzeugt, das wäre ein erster Schritt auf dem Weg Richtung Ergebnis.

„Das wird dauern“, folgerte Degoth. „Oder?“ Er nippte an seinem Kaffee und sprach aus, was er gerade dachte: „Wie wollen wir jetzt verfahren?“

Er formulierte es so, als wäre er Mitarbeiter des K III und würde seinen Chef darum bitten, ihm die Freigabe für die weiteren Ermittlungen zu ermöglichen. Scholtysek schaute ihn verdutzt an. Er war auf der einen Seite erfreut einen couragierten Mann an seiner Seite zu wissen, auf der anderen Seite aber beunruhigt, dass er als Hobbykriminologe vielleicht über das Ziel hinausschießen könnte. Und dann der Satz: „Also, wie wollen wir nun verfahren?“ Das hätte ja eher von ihm stammen können! Schließlich verabredeten sie sich für den frühen Abend

im Restaurant des Hotels Marina. Chantal sollte natürlich dabei sein, denn nach Stralsund zurück und anschließend wieder nach Rügen, das Hin und Her, dass war ihm für heute doch zu viel. Alleine wollte er seine Frau schon gar nicht lassen.


Den Weg, den sie bereits in der Frühe zur Promenade nahmen, gingen sie wieder hinunter zum Parkplatz. Arm in Arm liefen sie gemächlichen Schrittes, als ein Unbekannter sich ihnen in den Weg stellte. Nicht gerade provozierend, konnte man es nennen, aber doch irgendwie fordernd. „Erinnern sie sich? Ich habe heute am frühen Vormittag Kontakt mit ihnen aufgenommen! Dabei erwähnte ich, dass etwas seltsames passiert sein musste. Nun, es ist etwas geschehen, ein.....“, er stockte. „Haben sie nichts gefunden?“

„Habe keine Erinnerung. Erzählen sie mal was sie erlebten.“

„Was heißt erleben, so kann ich es nicht direkt sagen, jedoch sehen und hören, das trifft eher zu!“

„Aber Mann, berichten sie endlich um was es geht, was passierte und warum wenden sie sich gerade an mich, nicht an die Polizei auf Rügen? Zudem haben wir es eilig.“, legte Degoth temperamentvoll los. „Es war eine Eingebung. Einfach so, eben eine Eingebung! Ich dachte sie könnten mir dabei helfen, Menschen, die dafür verantwortlich sind, ausfindig zu machen. Aber wie komme ich darauf, warum mische ich mich nur ein?“, lallte er schließlich.

„Ein Problem ist es für mich nicht. Aber unklar bleibt, was sie von mir erwarten. Wo ist was geschehen? Einen vertrauenswürdigen Eindruck machen sie nun ganz und gar nicht, um das ganz offen auszusprechen!“

Der Unbekannte schaute verdutzt drein, fasste sich aber schnell und antwortete: „Schon möglich, denn ich lebe seit meiner Ausgliederung aus der Gesellschaft als Tagelöhner auf Rügen. Arbeite mal hier, mal dort.“

Degoth und Chantal staunten nicht schlecht, behielten aber ihre Fassung! Was will der Kerl, dröhnte es in ihren Köpfen? Dann berichtete der Unbekannte, dass er ein Skelett fand, „wissen sie, total frei von allem! Es muss lange rumgelegen haben und zufällig durch den natürlichen Prozess der Evolution wieder ans Tageslicht gefördert worden sein.“ Evolution, stutzte das Ehepaar Degoht, hört sich nicht nach Straßenjargon an!

„Mag sein“, so Degoth, „aber ist ihr Urteil nicht etwas voreilig? Woran machen sie das alles fest? Überdies, wo fanden sie es?“

Einem oberflächlich gekleideten Mann, der eine zottelige Frisur trug, sollte er das abnehmen! Er hatte Zweifel, das alles als bare Münze zu nehmen. Doch der Mann fuhr fort: „Ich sah es dieser Tage in Strandnähe, mehr zufällig, als ich dort, was ich täglich tue, durch den feinen Sand stampfte. Sie wissen, Rügens Strände mit dem weißen, weichen Sand, beinahe wie in der Karibik, verzaubern. Plötzlich lag unter dem Steg, ich meine der Landungsbrücke, eben dieses Skelett.

„War es ohne Hülle? Ich meine ohne Schutz?“

„Ja, ohne Schutz, genau. Deshalb wurde ich ja so schnell darauf aufmerksam. Außer mir vor Schreck war ich und irrte einige Zeit am Strand entlang. War nicht fähig mich zu finden, zur Polizei zu gehen. Obwohl mir natürlich klar war, dass es besser gewesen wäre. Dann, ja dann, sah ich sie auf mich zukommen. Spontan fasste ich Mut und faselte vor mich hin, wollte sie auf diese Art darauf aufmerksam machen. Sie jedoch schauten durch mich hindurch, ignorierten es. Plötzlich kam es mir wie ein Traum vor. Dann ging ich einfach weiter, wortlos!“

Degoth reagierte jetzt etwas unwirsch: „Warum haben sie denn nicht nachgehakt? Es wäre in diesem Augenblick, zumindest aus jetziger Sicht betrachtet, so wichtig gewesen? Wie heißen sie eigentlich?

„Raimund“, hörte er ihn nun etwas unverständlich plappern.

„Aha!“, brummte Degoth!

Zu mehr war er in dem Augenblick nicht fähig. Doch bloß eine kurze Weile. Er konnte es schließlich doch nicht auf sich beruhen lassen und hakte nach: „Haben sie noch andere Hinweise in der Sache?“ Seine hohe Stirn legte sich jetzt, so ungeduldig wurde er, in Falten.

„Ja. Zwei Männer standen in unmittelbarer Nähe, nicht weit weg von einem Boot. Ziemlich aufgeregt unterhielten sie sich. Hatte den Eindruck, dass ihre Blicke voller Zorn waren. Dann stiegen sie unvermittelt in eines der Boote, ich glaube es war ein Schnellboot und verschwanden auf der Ostsee, Richtung Nationalpark Jasmund. Bestimmt kennen sie die Kante! Dort wo die berühmten Kreidefelsen sind?“

„Ja, haben wir inzwischen schon erkundet“, erwiderte Degoth. „Und das war die ganze Story oder gab es noch weitere Anhaltspunkte?“, fügte er dann doch neugierig an.

„Hier endet die Geschichte, aber es verfolgt mich seit dem. Mit Grauen denke ich daran.“

Der Unbekannte, der sich Raimund nannte, drehte sich um und ging wortlos weiter. Degoth und seine Frau schauten ihm irritiert nach! Jetzt schaltete sich Chantal ein, die davor bloß Zuhörerin war. „Hast du die drei Narben am rechten Oberarm gesehen? Sahen aus als wären sie durch feine Messerschnitte entstanden“. Degoth nickte, maß aber der Sache keine besondere Bedeutung zu.


Den Wagen Scholtyseks, der auf dem Weg nach Bergen fuhr, sahen sie bloß noch aus der Ferne. Sie nahmen währenddessen den Pfad zurück zur Kurpromenade. Unheimlich war ihnen schon, doch nun hatte Degoth sich entschieden. Sein Wort halten, war ihm immer wichtig. Was war, wenn sie beobachtet würden? Immerhin war da der Fremde, der sie ansprach. Dann gab es den dubiosen Kellner. Steckten die vielleicht doch gemeinsam unter einer Decke? Während sie durch die Seitenstraße flanierten überdachte Degoth diese Situationen erneut. Er wollte zumindest innerlich Klarheit haben, wenn in wenigen Stunden das Treffen mit dem Polizeichef stattfand. Und dazu musste er, so weit möglich, korrekte Informationen bieten. Chantal warf ständig ihre Blicke in die Schaufenster. Es war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Danach fassten sie einen Besuch in der Eisdiele, unweit der Ecke neben dem Hotel Marina, ins Auge. Seine Blicke schweiften unruhig umher. Dann, siehe da, wie der Zufall es will, stand in nicht allzu weiter Ferne, der besagte Kellner. Diesmal war der Fremde vom Strand wieder dabei. Genau an der Ecke, wo es zur Landungsbrücke ging. Vielleicht hundert Meter von ihnen. Schätzte er! Auf deren linken Seite konnte er bereits die Bootsanlegeplätze erkennen.

„Die werden doch nicht .....?“, schwirrte es ihm durch den Kopf“, das Weite suchen. Ist es vielleicht ein Fluchtweg und ihr Schnellboot liegt dort? Oder werden auf dem Wasserweg irgendwelche Transporte mit Ha..... und ....oder ...........gesteuert?“

Plötzlich war er atemlos und musste seine Gedanken zügeln, so nah ging es ihm, den Faden weiter zu spinnen! Chantal war einige Meter weitergelaufen. Die beiden Kerle sah er derweil auf die Landungsbrücke laufen. Verdammt eilig hatten sie es, in der Tat. Das konnte er deutlich ausmachen.

Gestern hatte Meurer mit seinen Leuten die beiden Banden auseinander gescheucht. Dabei sechs Kerle dingfest gemacht. Aber Heller, sein Chef, sah es kommen: sie mussten sie wieder freilassen. Da lag erstens nichts gegen sie vor. Und Landfriedensbruch war auch nicht nachzuweisen. Dazu kam, dass beide Gruppen sich angeblich nur aus Jux und Tollerei so arg geprügelt hätten. Und schließlich stellte sich heraus, dass es weder Schwerverletzte noch einen Toten gab. „Also“, sagte Fritz Meurer zu KHK Heller, „daran glaube ich zwar nicht, aber der Herr Staatsanwalt Scharnowski lehnte ab sie in U – Haft zu stecken. Ob das klug war? Vielleicht sollte ich ein Gedächtnisprotokoll schreiben.“

Er griff nach seinem Laptop und begann ziemlich flott seine Gedanken über die gestrigen Vorfälle und die heutige Ablehnung des Staatsanwalts, ein U –Haftbefehl auszustellen, zu formulieren.

„Ich bezweifle es zwar auch“, stellte Heller lapidar fest, „aber das ist nun mal der Weg. Doch eins sollten wir tun: sie wegen Ruhestörung und öffentlichem Ärgernis, zur Rechenschaft ziehen.


Inzwischen sah Degoth, dass die Beiden in der Tat in ein Schnellboot einstiegen. Zu gerne hätte er gewusst, wohin die Fahrt geht. Er hatte es noch nicht zu Ende gedacht, da waren sie auch schon auf dem Meer verschwunden. Nachdem sie ihren Schaufensterbummel beendeten, nahmen sie den Weg zurück zur Strandpromenade. Seiner Frau, um sie nicht unnötig zu beunruhigen, erzählte er von seiner zuvor gemachten Beobachtung kein Sterbenswörtchen. Wie zufällig lief er, sie in den Arm nehmend, auf die Landungsbrücke. Von dessen Stelle wenige Minuten zuvor sich die Kerle im Schnellboot auf und davon machten. Gerade wollte Chantal eine Kehrtwende machen, den Weg wieder zur Uferpromenade nehmen, als Michel sie am Arm festhielt. Sie spürte seine Anspannung während er sagte: „Lass uns mal über den Steg laufen. Was meinst du?“

Seinen eigentlichen Grund dies zu tun, verheimlichte er geflissentlich. Sie nickte stumm, es schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken. Gedankenversunken schaute sie über das Meer! Es bedeutete ihr in dem Moment mehr, als die stummen Ausblicke hinüber zu den Booten. Michel Degoth konnte es nicht lassen und inspizierte derweil die Stelle, von der das Schnellboot vor wenigen Minuten ablegte. Wie ein Roboterkopf drehte sich sein Hals und geheimnisvoll notierte er sich die Liegenummern. Er leistete Vorarbeit für die Polizei.

„Für alle Fälle, Scholtysek wird es sicher verwenden können“, ging es ihm in den Sinn! Und noch immer war er in Harnisch ob seiner Unzulänglichkeit. Warum spurtete er nicht sofort los und ...?

Aber es war geschehen. Die Frage, wohin die Männer gefahren sein könnten, beschäftigten ihn unaufhaltsam. „Das wäre es doch gewesen“, meinte er. Die Brüder gleich zu stellen. Er wusste, dass es surreal war. Denn erstens war er kein Polizist und zweitens besaß er keine Waffe. Er war also gar nicht befugt einzugreifen. Überdies war unklar ob die Burschen mit dem Fund in Zusammenhang gebracht werden konnten. Das musste er endgültig kapieren! Vorsichtig musste er sein, durfte nicht übers Ziel hinausschießen. Trotzdem blieb er am Ball und suggerierte sich, nach dem Motto: Sicher ist sicher, dass das überaus verdächtige Verhalten der Beiden und der Fund des Skeletts unter der Seebrücke, einfach kein Zufall sein konnte. In jedem Falle hatten es die Kerle verdammt geschickt angestellt, denn bei dem Trubel hier ging vieles unter. Sich unauffällig aus dem Staub zu machen wäre kein dummer Weg. Glaubte er. Mit einem Blick auf seine Uhr stellte er fest, dass die Zeit verdammt schnell zerrann. Der Kriminaloberrat musste bald auf der Matte stehen.

„Also, höchste Eisenbahn, dass wir hoch zum Restaurant gehen. In wenigen Minuten wird Scholtysek eintreffen.“ Chantal schaute ihn irritiert an und erwiderte: „Wie bitte?“


Mit ihren Gedanken war sie am anderen Ende der Welt. Weit übers Meer der Ostsee hinaus. Michels Spürnase stand derweil wieder auf Geruchssinn. Wie immer, wenn er einen Fall im Auge hatte gab es nichts Wichtigeres! Das wusste sie, deshalb machte sie auch ihr autogenes Training um sich abzureagieren! Der Ausblick auf die Ostsee kam dafür gerade recht. In Gedanken nur bei dem Fall, lief er wie in Trance neben Chantal. Erst als sie sich bei ihm zärtlich einhakte, war er wieder zurück in der Realität. Vor dem Restaurant stand bereits der Rügener Polizeichef. Ein weiterer Herr dabei.

„Darf ich ihnen Kriminalhauptkommissar Heller vorstellen? Er ist einer der leitenden Offiziere und wird diesen Fall übernehmen.“

Denn dass es ein Fall ist, davon ging der KOR bereits aus.

„So ist er später in der Lage seine Kollegen punktgenau zu präparieren.“

„Angenehm Herr Heller. Mein Name ist Degoth. Das ist meine Frau.“ Dabei zeigte er auf Chantal,

als wäre sie ein Gegenstand. Doch die sah es, wie immer, locker.

„Sehr angenehm“, entgegnete Heller, nachdem sie sich gegenseitig die Hand gereicht hatten. Sie gingen die Stufen hoch und betraten das Foyer des Hotels. Kriminaloberrat Scholtysek schien in dem Hotel bestens bekannt zu sein. Kaum stand er dort, steuerte die Chefin, Frau Marina Susi, sofort auf sie zu.

„Herzlich willkommen“, sagte sie freundlich. Zu Scholtysek gewandt ergänzte sie: „dort“, sie zeigte mit dem Zeigefinger der rechten Hand hin, „in der ruhigen Ecke, habe ich ihnen, separiert von anderen Tischen, einen großzügigen runden Tisch eingedeckt. Ist es recht so?“

Er nickte und bedankte sich bei der Hotelchefin. Dann nahmen sie die Plätze ein.

„Sie müssen hier ja aus und eingehen“, wandte Degoth sich an KOR Scholtysek.

„Das kann man so sagen“, entgegnete er und lächelte verschmitzt. „Ich bin öfter hier, nicht nur aus dienstlichen Gründen. Nach unserem Gespräch am Mittag, habe ich es von meiner Sekretärin arrangieren lassen. Wir sind so ungestörter.“

Auch aus der Ecke des Restaurants war der Blick auf die Ostsee, im Hintergrund die Kreidefelsen, märchenhaft. Die Getränke wurden serviert und es sollte noch eine Weile dauern, bis das Essen auf dem Tisch stand. Die Phase nutzte Scholtysek und bat Degoth, erneut, jetzt wo Heller dabei war, zu reflektieren.

„Lassen sie uns gemeinsam nochmals Revue passieren, welche Fakten wir bislang auf dem Tisch haben. Damit meine ich natürlich, was sie erlebten und beobachteten.“

„Gerne Herr Scholtysek. Dann fasse ich nochmals zusammen. Da kam in der Frühe ein Mann auf mich zu und legte aus heiterem Himmel los – ob Zufall oder Absicht - keine Ahnung. Wirr erzählte er über einen entsetzlichen Fund den er gerade gemacht hätte und wie er sich dabei beobachtet fühlte. Später, sie erinnern sich an meine weiteren Ausführungen“, dabei schaute er den Kriminaloberrat aufmerksam an, „trafen wir den seltsamen Kellner auf der Selliner Seebrücke. Und wieder eine Weile danach beobachteten wir eine Szene des Kellners mit einem Fremden am Strand. Aber anschließend, Degoth schaute dabei direkt hinüber zu Heller, „erblickte ich unter der Holzbrücke das besagte Skelett. Das hieb dem Fass den Boden aus. Meine Frau und ich waren erschüttert. Als wir etwa eine Stunde zuvor diese Treppe hoch und runter gingen, lag da nichts, überhaupt nichts. Insofern ging ich davon aus, dass es eine Verbindung mit dem Kellner geben könnte. Die Geschichte von dem Fremden am Vormittag könnte ebenfalls im Zusammenhang damit stehen.“

„Schon klar Degoth“, so Scholtysek, „soweit habe ich auch Heller auf den Stand gebracht. Was aber fiel ihnen schließlich noch besonderes auf? Z.B. an Kleidung, der Uhrzeit, Treffpunkten? Es könnte, wie sie wissen, jedes Mosaiksteinchen wichtig sein!“

„Na klar Scholtysek, vollkommen! Am Vormittag war es ein Mann, der ziemlich verlottert in der Gegend herum irrte. Er sprach zudem undeutlich.“

„War er vielleicht betrunken?“, so der Kriminaloberrat.

„Nein nein, eher ein Herumtreiber, der nicht wusste wie er sich besser ausdrücken sollte! Das war zu diesem Zeitpunkt mein Eindruck. Seine Kleidung war wirklich sehr schmutzig. Nun gut, im Sommer und so warm wie in diesem Jahr hier im hohen Norden, dachte ich mir zunächst nichts dabei. Er trug halblange Jeans mit Fransen und ein T-Shirt. Ich würde sagen in hellblau oder noch genauer, eher schmutzig grau!“ Die Anwesenden kicherten. „Dazu ausgelatschte Sandaletten. In der Hand trug er eine alte Tasche, hellgrau, darin lagen wohl seine wenigen Habseligkeiten. Das konnte ich teils sehen, da der Reißverschluss defekt war. Seine Größe schätze ich auf etwa ein Meter siebzig, schütteres Haar, schwarzgrau. Sein Gesichtsausdruck vernarbt und wetterhart. Er musste so um die sechzig Jahre gewesen sein. Der Kellner auf der Seebrücke war elegant, sportlich gekleidet, etwa ein Meter achtzig groß und hatte hellblondes, volles Haar. Er war schlank und sein Alter schätze ich auf etwa vierzig Jahre. Der Fremde am Strand war meiner Meinung nach gleichaltrig, jedoch mit vollem schwarzen Haar. Ebenfalls schlank, vielleicht mit einer Größe von ein Meter fünfundsiebzig. Was sie sich gegenseitig übergaben, konnten ich nicht natürlich exakt erkennen, aber es waren Päckchen jeweils weiß eingepackt und geschätzte sechzig Zentimeter lang, vierzig Zentimeter bereit; wie gesagt, geschätzt!“

„Sie haben aber eine tolle Beobachtungsgabe und ein phänomenales Gedächtnis“, so KHK Heller.

„Ja, ja, Respekt“, fügte Scholtysek kurz an.

„Aber meine Herren, das ist noch nicht alles!“, sprudelte Degoth weiter. „Während sie Scholtysek nach Bergen fuhren, flanierten wir auf der Strandpromenade und machten einen Schaufensterbummel. Dabei beobachtete ich, nein, nicht meine Frau“, Chantal schmunzelte, „an der Landungsbrücke Aktivitäten. Und siehe da, kurz davor standen der besagte Kellner und der Fremde erneut in ein intensives Gespräch vertieft.“

„Ja, aber doch ein alltäglicher Vorgang, so Scholtysek und kein....“

„Stopp, halt mein Lieber, denn plötzlich rannten sie, wie von einer Tarantel gestochen, los zur Brücke, schnurstracks auf ein Boot zu. Dort stiegen sie ohne Umschweife ein. Sie starteten direkt das Schnellboot und waren binnen ein oder zwei Minuten in hohem Tempo auf und davon.“

„Aber mein Lieber – beide lachten – ist doch immer noch legal, wie?“

„Sicher, aber hier Scholtysek, haben sie die Nummer des besagten Liegeplatzes und der von den Nachbarbootsanlegeplätzen. Sicher ist sicher, dachte ich mir!“

Chantal schaute ihn lächelnd an und sagte: „Du bist mir ein Schelm, erklärst, wie schön es ist auf diese Brücke zu laufen und dann recherchierst du mal eben nebenbei!“

„T` schuldigung mein Liebling!“, kam es über seine schmalen Lippen.

Die Polizisten amüsierten sich. Bevor das Essen aufgetragen wurde, ergriff Scholtysek das Wort: „Finde ich wirklich sehr umsichtig Degoth, das hat was, wirklich, sie fehlen mir im Polizeidienst!“ Und mit Blick zu dem ersten Polizeioffizier Heller sagte er weiter: „Was meinen sie, wäre doch einer für unsere Truppe.“ Heller grinste, und bejahte es! Was sollte er in dem Moment auch dem Kriminaloberrat anderes antworten?

„Schwören sie ihre Leute ein, Heller. Sie sollen an alles, aber behutsam, ran gehen. In diesem Stadium wollen wir absolut keine Öffentlichkeit, kein Aufsehen erregen, ist das klar? Schon gar keine Presse. Unbedingt beachten, denn sonst machen wir die Pferde scheu und der Schuss geht nach hinten los!“

„Ja selbstverständlich Chef, ohne Frage!“, meinte Heller.

„Was wurde mittlerweile eigentlich aus dem Skelett?“, mischte sich Degoth wieder ein.

„Darum kümmerte sich die Rechtsmedizin. Wurde bereits eine Stunde nach dem Gespräch am

Strand abgeholt. Noch auf der Seebrücke stehend, telefonierte ich.“

„Ist auch nicht von schlechten Eltern, ihr Einsatz“, so Degoth.

Sie brachen alle in ein schallendes Gelächter aus. Und befanden, bei dem Ernst der Sache, dürfte Humor trotzdem nicht zu kurz kommen. Während des Essens, darum bat Degoth zuvor, wollten sie im Beisein seiner Frau nicht mehr von dem Fall reden. Es sollte locker und entspannt zugehen. Bei dieser Verabredung blieb es auch. Nach dem Essen trennten sich ihre Wege. Degoth ging mit den Kollegen der Polizei zur Landungsbrücke und seine Frau flanierte währenddessen in die Seitentrasse Sellins. Einige Modegeschäfte hatten es ihr besonders angetan! Aber das war für Michel Degoth wirklich nichts neues.


Degoth führte die Polizisten, die gerade auf der Brücke eintrafen, an die besagte Stelle. Einige Minuten später nahm Heller bereits Kontakt mit der Wasserschutzpolizei auf. Sein Anliegen, die Namen der Bootsanlieger in Erfahrung zu bringen. Es hieß von Beginn an Steinchen für Steinchen zu untersuchen, damit das Mosaik irgendwann die kommenden Tage Konturen annehmen würde.Diese Zeit nutzten Scholtysek und Degoth um erneut zu philosophieren, ob es ein tragischer Unfall gewesen sein könnte, der, womöglich vor Verzweiflung vertuscht wurde. Oder, ob ein geplanter Mord eine Rolle spielte. „Oder“, fügte Degoth kurz und bündig an, „gar einen Serienmörder sein Unwesen treibt.“

Diese Unsicherheit würde solange bleiben, bis die Rechtsmedizin verwertbare Spuren gefunden hat. Darüber waren sich die Ermittler einig. Der KOR nutzte nun die Gelegenheit und setzte Degoth ins Vertrauen. Er berichtet, dass vor einigen Tagen eine Leiche gefunden wurde, die in der Rechtsmedizin zwar untersucht wurde, aber bislang keine Anhaltspunkte für einen Mord ergab. Es wäre aber auch nicht zweifelsfrei zu belegen, dass es Selbstmord gewesen sei.

„Aber, wenn ich mir das recht überlege“, sprach Scholtysek weiter, „könnte einiges, was über lang Jahre ungeklärt blieb, tatsächlich damit in Verbindung gebracht werden. Lassen sie mich nochmals rekapitulieren! Spurlos verschwanden einige Bürger. Ungeklärte schwere Raubüberfälle stehen noch in den Akten der Ermittler. Jetzt der Leichenfund in den letzten Tagen. Und schließlich das Skelett am Strand Sellins. Also, leichtgläubig bin ich nicht, alleine schon von Berufs wegen, aber hier steckt mehr dahinter!“

Degoth stimmte zu und folgte weiter seinen überzeugenden Worten. Ihm wurde klar, bevor er in den

„Fall“ richtig einsteigen konnte, musste er umfangreiche Informationen erhalten. Anders war das nicht zu bewältigen. Der Kriminaloberrat Scholtysek oder wie seine Mitarbeiter ihn meist nannten, der KOR, blieb am Ball und redete weiter.

„Ach wissen sie Degoth, der Fall steht erst am Anfang. Da werden wir noch viele Fragezeichen machen müssen! Offen, unvoreingenommen an die Sache ran zu gehen, ist für uns Kriminale eh oberstes Gebot. Da können wir mit Indizien nichts anfangen; mein Weg ist es in keinem Fall. Ein Indizienprozess ist ein Spiel mit dem Feuer. Warum werden sie sich fragen! Ganz einfach, weil sie den Fall letztendlich nie ganz los werden. Zweifel, ob der oder die Verurteilte berechtigterweise sitzen, kann keiner ausräumen. Deshalb halte ich mich an die Regel: Im Zweifel für den Angeklagten, nicht für die Indizien.“

„Scholtysek, das trifft auch meine Überzeugung. Warten wir also die ersten Ergebnisse der Rechtsmedizin einfach ab. Mord oder Selbstmord wird ja, was der aktuelle Leichenfund betrifft, bestimmt festgestellt werden. Oder? Viel komplizierter wird es sicher bei dem Skelett. Trotzdem, ich bin zuversichtlich , dass uns die Rechtsmedizin in beiden Fällen schon Wege zur Lösung aufzeigen wird. Was meinen Sie?“

Scholtysek nickte zunächst stumm. Also, hier waren sie sich schon mal einig. Das war, so stieg es Degoth in den Sinn, ein vielversprechender Start für die anstehende Zusammenarbeit. Gerade kam Heller von dem Anlegeplatz zurück und berichtete, dass der Liegeplatz Nummer einhundert fünfzehn auf einen gewissen Friedrichs reserviert sei, und die Plätze links und rechts jeweils einem Inhaber von Ladengeschäften aus Sellin zur Verfügung stünden. Die jedenfalls seien bekannt und jederzeit erreichbar. Dagegen sei ihnen ein Friedrichs völlig unbekannt. Der wachhabende Polizist der Wasserschutzpolizei versprach aber, mit seinen Kollegen erneut die Sache zu recherchieren. „Vielleicht haben wir ja Glück und es bringt uns weiter. Wohin auch immer......“, waren seine Worte.

„Prima Heller, da haben wir ja den Fall professionell aufgegriffen. Gut so und wenn wir mehr über einen Friedrichs wissen, knöpfen wir uns den ohne Umschweife vor.“ Das sagte er so engagiert, dass seine beiden Nasenflügel sich aufblähten.

„Unbedingt“, konstatierte Degoth, „die Spurensicherung ist das A und O. Aber dies, Scholtysek, wissen sie ja sicher selbst am Besten.“ Ein Lächeln zog über sein Gesicht, spitzbübisch und er presste seine Lippen zusammen, dass nur noch ein schmaler Strich davon zu erkennen war. Sie beendeten ihre Überlegungen. Schließlich war es weit über zwanzig Uhr geworden. Da hatte der Sommer doch große Vorteile! Einer zusätzlichen Erläuterung bedurfte es nicht. Morgen, so verabredeten sie, wollten sie sich um zehn Uhr im Präsidium Bergen wieder zusammen setzen. Dann, so erhofften sie, lägen wohl weitere Erkenntnisse vor, die Ermittlungen in verschiedenen Richtungen ermöglichen würden. Er, Degoth, wollte natürlich dabei sein, so war es mit dem Kriminaloberrat Scholtysek besprochen. Zehn Uhr war auch eine passable Zeit, sagte er sich, so dass sie nicht allzu früh auf die Insel kommen mussten.

Unbewältigte Vergangenheit

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