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2 Auftritt der Tiere

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Das Auseinanderbrechen des Superkontinents Rodinia begann vor rund 825 Millionen Jahren. Er dauerte fast 100 Millionen Jahre an und ließ eine Kette von Kontinenten rings um den Äquator entstehen. Der Zerfall ging mit gewaltigen Eruptionen einher, die riesige Mengen vulkanischen Gesteins an die Oberfläche beförderten, vor allem das Magmagestein Basalt. Wenn es Sturm und Regen ausgesetzt ist, verwittert Basalt sehr leicht, und viele der neu entstandenen Landmassen befanden sich in den Tropen, wo Hitze und Feuchtigkeit diesen Prozess zusätzlich beförderten.

Doch Wind und Wetter spülten nicht nur Basalt in die Ozeane. Sie transportierten auch große Mengen kohlenstoffhaltiger Ablagerungen in Tiefen, wohin kein Sauerstoff gelangen konnte. Solange es Kohlenstoff gibt, der zu Kohlendioxid oxidiert werden kann, heizt sich die Erde durch den Treibhauseffekt auf. Wird der Atmosphäre jedoch Kohlenstoff entzogen, kommt dieser Mechanismus zum Erliegen, und die Erde kühlt sich ab. Dieser Reigen von Kohlenstoff, Sauerstoff und Kohlendioxid sollte den Rhythmus der weiteren Geschichte unserer Erde vorgeben – und des Lebens, das sich auf ihrer Oberfläche entwickelte.

Die Verwitterung der Bruchstücke von Rodinia hatte zur Folge, dass die Erde vor rund 715 Millionen Jahren von einer Reihe weltumspannender Eiszeiten heimgesucht wurde, die sich über rund 80 Millionen Jahre erstreckten.

Wie schon in der Zeit nach der Großen Sauerstoffkatastrophe über eine Milliarde Jahre vorher erwiesen sich diese Eiszeiten als Triebfedern der Evolution. Sie bereiteten den Weg für die Entstehung einer neuen aktiveren Art von Eukaryoten – den Tieren.[30]

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Der ins Meer gespülte Kohlenstoff sank hinab in einen Ozean, der, abgesehen von einer dünnen Schicht, die an die Atmosphäre grenzte, so gut wie keinen Sauerstoff enthielt. Die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre betrug ohnehin nur ein Zehntel ihres heutigen Wertes, und an der sonnenbeschienenen Wasseroberfläche war sie sogar noch geringer. Kein Tier, das größer war als der Punkt am Ende dieses Satzes, hätte darin überleben können.

Doch es gab Tiere, die mit diesen winzigen Mengen Sauerstoff überleben konnten: Schwämme. Die ersten von ihnen erschienen vor etwa 800 Millionen Jahren, als Rodinia begann in seine Einzelteile zu zerfallen.[31]

Schwämme waren und sind sehr einfache Tiere. Obwohl ihre Larven klein und beweglich sind, verharren ausgewachsene Tiere ihr gesamtes Leben an nur einem Ort. Ein voll entwickelter Schwamm ist denkbar simpel aufgebaut, ist er doch im Grunde kaum mehr als ein formloser, von Tausenden winzigen Löchern, Kanälen und Zwischenräumen durchzogener Zellhaufen. Die Zellen im Inneren dieser Hohlräume rudern mit haarähnlichen Fortsätzen, sogenannten Zilien, und lassen damit Wasser durch den Schwamm strömen. Andere Zellen nehmen nährstoffreiche Schwebstoffe, auch Detritus genannt, aus der Strömung auf. Schwämme haben keine ausgebildeten Organe oder verschiedene Arten von Körpergewebe. Presst man einen lebenden Schwamm durch ein Sieb und legt ihn zurück ins Wasser, fügt er sich zu einer neuen Form zusammen, die ebenso lebendig, ebenso funktional ist wie zuvor. Er führt ein einfaches Leben, das wenig Energie benötigt – und wenig Sauerstoff.

Doch auch das Einfache sollte man niemals unterschätzen. Denn nachdem die Schwämme erst mal sesshaft wurden, veränderten sie die Welt.

Die Schwämme, die inmitten der Schleimteppiche am Meeresboden lebten, siebten Nährstoffteilchen aus dem Wasser. Die Wassermenge, die an einem Tag durch einen Schwamm strömte, war zwar gering, doch Milliarden Schwämme über einen Zeitraum von zehn Millionen Jahren hatten immense Auswirkungen. Ihre langsame, beharrliche Arbeit führte zu einer noch größeren Ansammlung von Kohlenstoff am Meeresgrund – Kohlenstoff, der für eine Reaktion mit Sauerstoff nun nicht mehr zur Verfügung stand. Schwämme säuberten das Wasser um sie herum zudem von kleinsten Abfallstoffen, die sonst von sauerstoffbindenden Fäulnisbakterien verdaut worden wären. Die Folge war ein steter Anstieg des im Meer wie auch in der Luft direkt darüber gelösten Sauerstoffs.[32]

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Weit über den Schwämmen – in der sonnigen oberen Meeresschicht des Planktons[33] – fraßen Quallen und kleine wurmähnliche Tiere noch kleinere Eukaryoten und Bakterien. Im Wasser nahe der Oberfläche gab es ohnehin mehr Sauerstoff, doch die kohlenstoffreichen Körper der Planktonlebewesen sanken, sobald sie abgestorben waren, nun schneller zu Boden, anstatt lange im Wasser umherzutreiben. Somit wurde dem molekularen Sauerstoff weiterer Kohlenstoff entzogen. Wodurch noch mehr Sauerstoff übrig blieb, der sich im Meer und in der Atmosphäre sammeln konnte.

Obwohl einige der Lebewesen, die das Plankton bildeten, durchaus groß genug waren, dass man sie mit bloßem Auge hätte erkennen können, waren die meisten so klein, dass Nähr- und Abfallstoffe einfach durch ihre Körper hindurchgeschwemmt wurden. Die etwas größeren von ihnen entwickelten eine spezielle Öffnung, in die Nährstoffe herein- und Ausscheidungen hinausgelangen konnten. Diese Öffnung war der Mund, doch in doppelter Funktion diente sie zugleich als Anus.

Die Entwicklung eines separaten Anus durch manche Arten sonst eher unauffälliger Würmer kam einer Revolution gleich: Sie veränderte die gesamte Biosphäre. Zum ersten Mal wurden Ausscheidungen zu festen Kugeln komprimiert, anstatt als Brühe aus gelösten Exkrementen ins Wasser zu gelangen. Statt sich langsam aufzulösen, sanken diese Fäkalien rasch zu Boden, was den Meeresgrund plötzlich zu einem ungemein beliebten Ort machte. Die Fäulnis vorantreibenden, sauerstofffressenden Organismen suchten ihre Nahrung nun vor allem in Bodennähe und nicht mehr im Bereich der ganzen Wassersäule. Die einst so trüben und diesigen Meere wurden klarer und reicherten sich mit zusätzlichem Sauerstoff an – so viel gar, dass es die Entwicklung größerer Lebensformen ermöglichte.[34]

Die Erfindung des Anus hatte noch eine weitere Folge: Tiere mit einem Mund an dem einen und einem Anus an dem anderen Ende haben eine eindeutige Bewegungsrichtung – vorne einen »Kopf« und hinten einen »Schwanz«. Anfangs ernährten sich diese Tiere, indem sie Fetzen von dem dicken Schleimteppich pflückten, der seit über zwei Milliarden Jahren den Meeresgrund bedeckte.

Dann begannen sie sich unter diesen Schleim zu wühlen. Schließlich fraßen sie den Schleim selbst. Die unbestrittene Herrschaft der Stromatolithen war vorüber.

Und als die Tiere den ganzen Schleim aufgefressen hatten, begannen sie sich gegenseitig aufzufressen.

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Nun gab es aber noch ein anderes Problem, mit dem sie sich herumschlagen mussten: die weltweite Vereisung. Doch die Evolution wächst an ihren Herausforderungen. Der Seetang gedieh prächtig und lieferte den frühen Tieren gehaltvollere Kost als nur Bakterien.[35]

Womöglich waren es gerade die Widrigkeiten der eisumhüllten »Schneeball-Erde«, der wir die zunehmende Komplexität im frühen Tierreich zu verdanken haben. Frei nach dem Motto: Was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter, musste die Tierwelt bereits bei ihrem Entstehen enorme Widerstandsfähigkeit an den Tag legen, um zu überleben – es war die kritischste Phase ihrer Geschichte. Als die Vergletscherungen zurückgingen – wie es bislang jedes Mal in der Erdgeschichte passierte –, gaben sie eine Tierwelt frei, die härter und zäher war als je zuvor und sich alles nahm, was die Erde ihr zu bieten hatte.

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Tierisches Leben erschien vor rund 635 Millionen Jahren auf der Bildfläche, in einem Zeitalter, das man Ediacarium nennt. Die erste Blütephase einer komplexen Tierwelt brachte eine Fülle elegant geformter, fächerartiger Lebewesen hervor, von denen sich viele jeder Einordnung entziehen.[36] Wiewohl manche sicherlich Tiere waren, könnte es sich bei anderen ebenso gut um Flechten, Pilze oder ganze Kolonien von Geschöpfen unbestimmter Zugehörigkeit gehandelt haben – oder um etwas so Fremdartiges, dass wir es mit nichts vergleichen können.

Eines davon, ein atemberaubend schönes Geschöpf namens Dickinsonia, war breit, jedoch flach wie ein Pfannkuchen und mit einem fächerartigen segmentierten Körper. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein solches Tier anmutig über den Meeresboden gleitet, ähnlich wie heutige Plattwürmer oder Meeresschnecken.[37] Bei einem anderen Fossil, Kimberella, könnte es sich um einen sehr frühen Verwandten der Weichtiere handeln.[38] Wieder andere, wie die Rangeomorpha, sind noch schwerer einzuordnen. Sie glichen geflochtenen Broten und blieben wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang an einem Ort, wenngleich sie – ähnlich wie Erdbeerpflanzen – Ausläufer bildeten und so neue Kolonien rund um das Mutterwesen hervorbrachten.[39] Die Welt dieser seltsam schönen, fremdartigen Kreaturen war ruhig und friedlich. Sie besiedelten die flachen Meere und lebten verstreut inmitten von Seetang an den Küsten.[40]

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Die meisten frühen Vertreter dieser Ediacara-Fauna waren ähnlich weich und farnartig. Die ersten deutlich »tierartigeren« Geschöpfe erschienen etwas später, vor etwa 560 Millionen Jahren, mit dem verbreiteten Auftreten sogenannter Spurenfossilien. Spurenfossilien sind keine Rückstände der Lebewesen selbst, sondern Anzeichen ihrer Aktivitäten. Dazu zählen Fährtenabdrücke und Eingrabungen. Spurenfossilien sind ebenso faszinierend wie die Fußabdrücke eines Verbrechers, der kurz zuvor vom Tatort geflohen ist. Aus dem Abdruck lässt sich einiges über die Statur des Täters ablesen, wenn nicht gar über seine Motive. Doch verrät er uns kaum etwas über die Kleidung, die er trug, oder die Waffen, die er bei sich hatte. Dazu müsste man ihn auf frischer Tat ertappen. Selten, höchst selten, gelingt dies auch mit Spurenfossilien. Ein Fossil dieser Art ist Yilingia spiciformis, das in der Spätzeit des Ediacariums lebte. Exemplare dieser Spezies werden gelegentlich am Ende ihrer eigenen Spuren gefunden, und sie ähneln jenen segmentierten Würmern, die Angler heute gern als Köder benutzen.[41]

Diese Spuren sind von überragender Bedeutung. Sie sind ein Echo, ein Nachbild jenes Augenblicks in der Evolution, als die Tiere anfingen, sich in Bewegung zu setzen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Lebewesen in der Regel an einem Ort verwurzelt gewesen, zumindest für einen Teil ihres Lebenszyklus. Fährten und Spuren jedoch werden so gut wie immer von Tieren hinterlassen, die zielgerichtete, aus eigener Kraft vollzogene Bewegungen ausführen. Wenn die Nahrungsquellen eines Tieres überall um es herumschwirren, hat es keinen Grund, woanders danach zu suchen. Weist ein Tier, das an einem Ende einen Mund besitzt, allerdings eine eindeutige Bewegungsrichtung auf, dann sucht es für gewöhnlich etwas, und dieses Etwas ist Nahrung. Irgendwann im mittleren Ediacarium fingen Tiere aktiv an, sich gegenseitig aufzufressen. Und als dies geschah, fanden sie auch Mittel und Wege, nicht gefressen zu werden.

Ein Tier, das sich im Schlamm eingräbt, muss einen festen und widerstandsfähigen Körper entwickeln, damit es den Boden durchdringen kann. Um dies zu erreichen, gibt es verschiedene Wege. Der Körper eines wühlenden Tieres kann entweder durch ein Innenskelett gefestigt sein – wie im Fall eines Jack-Russell-Terriers – oder aber durch ein Außenskelett – wie bei einer Krabbe. Außenskelette können weich und biegsam sein (vergleichbar einer Garnele), mit der Zeit aber auch hart und durch die Einlagerung von Mineralien sehr robust werden (vergleichbar einem Hummer). Eine andere Strategie besteht darin, den Körper in einer Abfolge sich wiederholender Segmente zu strukturieren, alle mit Flüssigkeit gefüllt und vom vorhergehenden und nachfolgenden Teilstück durch eine Art Schott getrennt. Sind all diese Segmente umhüllt von einem robusten röhrenförmigen Muskel, dann kann sich das Tier in die Erde bohren, indem es Druck darauf ausübt. Und wenn es sich auf diese Weise fortbewegt, ist es vermutlich ein Regenwurm.

Die wasserlebenden Verwandten eines solchen Regenwurms tun im Grunde genau dasselbe, doch haben viele von ihnen an jedem dieser Segmente zusätzlich biegsame gliedmaßenähnliche Auswüchse, die ihnen helfen, sich einzugraben, durchs Wasser zu rudern oder an dessen Oberfläche entlangzukraulen. Einige der ältesten versteinerten Tierspuren, wie die von Yilingia spiciformis, könnten von ebensolchen Würmern stammen.

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Tiere wie segmentierte Würmer sind komplexer aufgebaut als Quallen und selbst noch als sehr einfache Plattwürmer. Der entscheidende Unterschied ist, dass sie über eine Innen- und eine Außenseite verfügen.

Quallen und simple Plattwürmer haben praktisch keinerlei Innenleben. Ihre Eingeweide sind Einstülpungen in der Oberfläche, deren Verbindungsweg nach außen sowohl als Mund als auch als Anus dient. Komplexere Tiere dagegen besitzen einen durchgehenden Darm mit einem Mund an dem einen und einem Anus an dem anderen Ende. Womöglich haben sie sogar Hohlräume in ihrem Inneren, die diesen Verdauungstrakt von der Außenfläche trennen. In diesen Räumen können sich innere Organe entwickeln.

Für gewöhnlich fehlt quallenartigen Tieren ein derartiger Stauraum. Die Existenz eines solchen Innenlebens bedeutet, dass das Wachstum von Darm und Außenfläche nicht mehr voneinander abhängen, was die Ausbildung großer, komplexer Därme und von mehr Körpergröße im Allgemeinen ermöglicht. Große Verdauungsorgane und Körper sind recht praktisch für Tiere, deren Hauptbeschäftigung im Verspeisen ihrer Mitgeschöpfe besteht.

Wer das vorhat, der braucht Zähne. Und wer vermeiden will, gefressen zu werden, braucht einen Panzer. Die Tiere im paradiesischen Ediacarium waren in der Regel weich, schwammig und wehrlos. Die Vertreibung aus dem Paradies war hart und gnadenlos – und Folge einer weiteren großen Umwälzung in der Geschichte unseres Planeten.

Diese Umwälzung ereignete sich ganz am Ende des Ediacariums, in einer Zeit gewaltiger Verwitterung. Damals setzte das Wetter der Erdkruste derart zu, dass große Teile der Landmassen erodierten, bis zum Grundgestein abgetragen wurden und ins Meer kippten. Dies hatte zwei Auswirkungen: Erstens stieg der Meeresspiegel deutlich an, wodurch die Küsten überflutet wurden und mehr Raum für Meereslebewesen entstand. Der zweite Effekt war die plötzliche Verfügbarkeit chemischer Elemente wie Kalzium in den Ozeanen, ein wesentlicher Bestandteil von Muscheln und Skeletten.[42]

Die ersten mineralisierten Skelette sind rund 550 Millionen Jahre alt und stammen von einem Tier namens Cloudina. Es sah aus wie ein winziger Turm aufeinandergestapelter Eistüten.[43] Versteinerte Cloudina finden sich überall auf der Welt, und bereits zu diesem frühen Zeitpunkt weisen manche von ihnen Spuren auf, die belegen, dass sich ein unbekanntes scharfzahniges Raubtier in sie hineingebohrt hat.[44] Etwas später, vor etwa 541 Millionen Jahren, taucht im Fossilbericht – der Gesamtheit aller Fossilienfunde – häufig ein Spurenfossil namens Trichophycus pedum auf. Bei Trichophycus pedum handelt es sich bei der Spur um eine besondere Art von Erdloch im Meeresboden, das von einer unbekannten Tierart stammt. Es markiert den Beginn des Kambriums – der zweiten großen Blütezeit tierischen Lebens auf der Erde. Doch nun waren es Tiere, die sich eingruben, die schwammen, kämpften und sich gegenseitig auffraßen. Sie besaßen harte, durch Kalziumverbindungen verstärkte Skelette. Und sie hatten Zähne.

Die wohl bekanntesten Tiere des Kambriums sind die Trilobiten. Trilobiten sind Gliederfüßer[45] – das heißt, Tiere mit segmentierten Gliedern –, die ein wenig wie Kugel- oder Kellerasseln aussahen. Sie bevölkerten die Meere vom Beginn des Kambriums bis zum Devon, in dem sie seltener wurden. Vor rund 252 Millionen Jahren, am Ende des Perms, starben sie schließlich aus.

Trilobiten sind als Fossilien überaus verbreitet. Jeder echte Steinesammler wird mindestens einen davon in seiner Sammlung haben, doch ihre Bekanntheit und Häufigkeit sollte uns nicht dazu verleiten, sie zu unterschätzen. Trilobiten waren außergewöhnlich schöne Geschöpfe und ebenso komplex wie jedes heute lebende Tier. Sie besaßen Außenskelette, die sie abstreifen konnten, wenn sie herauswuchsen, genau wie jeder heutige Gliederfüßer – von der winzigsten Mücke bis zum größten Hummer. Das Bemerkenswerteste an ihnen waren ihre Augen, jedes ein Kunstwerk aus Dutzenden, ja sogar Hunderten einzelner Facetten, wie bei einer Libelle. Jede dieser Facetten ist in den Fossilien als kristallines Kalziumkarbonat erhalten. Natürlich gab es ganz verschiedene Arten von Trilobiten. Manche hatten riesige Augen, andere waren dagegen völlig blind. Einige hatten sich darauf spezialisiert, den Meeresboden nach Nahrung zu durchwühlen, andere wiederum konnten besser schwimmen.

Doch das Leben im Kambrium hatte noch weit mehr zu bieten als nur die Trilobiten.

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Eines Tages vor rund 508 Millionen Jahren im heutigen Kanada riss eine Schlammlawine Teile des Meeresbodens mit sich in die Tiefe – und damit alles, was darin oder darüber lebte. Diese Tiere wurden fast unbeschadet und in nahezu sauerstofffreier Umgebung begraben. Dieser plötzliche Einschluss sorgte dafür, dass sie völlig intakt blieben. Selbst den feinsten Einzelheiten ihrer Weichteile konnten die kommenden fast 500 Millionen Jahre nichts anhaben. In dieser Zeit wurde das Gestein ganz langsam zu Schiefer gepresst und in den vergangenen rund 50 Millionen Jahren aus dem Meer emporgeschoben, sodass es sich nun auf den höchsten Gipfeln Nordamerikas befindet. Seit seiner Entdeckung im Jahr 1909 ist dieses Gestein unter dem Namen Burgess-Schiefer weltbekannt geworden. Die darin versteinerten Lebewesen sind eine seltene Momentaufnahme des Lebens auf dem Meeresgrund des Kambriums.

Und was für eine Tierschau dieses Bild doch bietet: ein Panoptikum stacheliger segmentierter Glieder, schnappender Scheren und fedriger Fühler, alles Teile von Geschöpfen, die entfernt mit heutigen Krebstieren, Insekten und Spinnen verwandt zu sein scheinen. Einige dieser Kreaturen sahen überaus befremdlich aus, selbst in Anbetracht der riesigen Fülle heutiger Gliederfüßer. Es gab Opabinia mit ihren fünf Stielaugen und den merkwürdigen Greifern, die sich am Ende eines biegsamen schlauchartigen Rüssels befanden.

Oder Anomalocaris, einen rund einen Meter langen Räuber, der durch die Meerestiefen streifte und nach Beute suchte, die er anschließend mit scharfen Greifern in sein rundes Maul stopfte, das an einen Müllzerkleinerer erinnert.[46]

Nicht zu vergessen Hallucigenia, ein wurmartiges Geschöpf, das an der Oberseite durch eine Doppelreihe langer sperriger Rückenstacheln geschützt war und über den Grund der Ozeane kroch.

Während die Gliederfüßer über den Meeresboden krabbelten oder schwammen, bot der Schlamm darunter ein wahres Wunderland für Würmer.

Viele der im Burgess-Schiefer verewigten Geschöpfe ähneln nur entfernt heutigen Tieren.[47] Dennoch lässt sich bereits erahnen, mit welcher der heutigen großen Tierarten jedes einzelne Fossil verwandt ist, wenn auch nur als entfernter, exzentrischer Cousin. Zu den Gliederfüßern im weitesten Sinne gehörten neben Hallucigenia auch Fossilien, die den heutigen auf tropischen Waldböden beheimateten Stummelfüßern glichen – Regenwürmern mit stummeligen Michelinmännchenbeinen. Zudem findet sich eine ganze Reihe von Kreaturen, die Ähnlichkeiten mit Würmern aufweisen, die heute in Sedimenten anzutreffen sind.

Ähnliches gilt für die Weichtiere, die so schwammig sind wie die Gliederfüßer stachelig, zumindest auf der Innenseite. Wiwaxia etwa verband den Körper eines vielgliedrigen Wurms mit der verhornten Zunge oder »Radula« eines Weichtiers – jener Raspelzunge, mit der Schnecken heutzutage unsere Salatbeete zugrunde richten. Das ganze Tier war in ein wenig schneckenartiges Kettenhemd gekleidet.[48] Ein anderes Geschöpf mit Radula, das sonst wie eine Kreuzung zwischen Luftmatratze und Kaffeemühle aussah, war Odontogriphus. Auch das war ein Verwandter früher Weichtiere.[49]

Andernorts fand man Nectocaris, ein primitives tintenfischartiges Tier ohne Gehäuse, das als erster bekannter Vertreter der Kopffüßer gilt.[50] Heute stellt diese Gruppe mit dem Kraken eines der intelligentesten und seltsamsten – und mit dem Kolosskalmar sogar das größte – aller wirbellosen Tiere. Die Fossilgeschichte der Kopffüßer ist ebenso schillernd, wie es ihre heutigen Vertreter ahnen lassen: Denn schon bald nach Nectocaris entwickelten sich die Nautiloideen, Tintenfische mit trompetenartigen, mehrere Meter langen Gehäusen, und schließlich die gewundenen Ammoniten, von denen einige so groß wie Lkw-Reifen wurden und die zur Zeit der Dinosaurier geschmeidig durch die Ozeane glitten.

Seit der Entdeckung des Burgess-Schiefers hat man ähnliche Lagerstätten vergleichbaren Alters gefunden, wie etwa die Chengjiang-Faunengemeinschaft in Südchina. Weitere Fundorte verteilen sich über den gesamten Globus von Südaustralien bis Nordgrönland. Jeder von ihnen zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Fossilerhaltung aus, die selbst kleinste Einzelheiten erkennen lässt. Das chinesische Fossil Fuxianhuia etwa, das an eine Garnele erinnert, lässt sich so genau studieren, dass man die Nervenbahnen in seinem Gehirn verfolgen kann.[51]

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Ein so erstaunlicher Erhaltungsgrad ist außerordentlich selten – er ist das Ergebnis des perfekten Zusammentreffens von geologischen Bedingungen und biochemischen Prozessen bei der Einlagerung. In fast allen Fällen, in denen man Fossilien findet, bilden diese nur die harten Bestandteile der Tiere ab, die längst von Mineralien durchsetzt sind: Muscheln, Knochen und Zähne, nicht aber Nerven, Kiemen oder Verdauungsorgane. Zwar sind schon lange Fossilien bekannt, die ähnlich alt sind wie der Burgess-Schiefer, doch handelt es sich dabei ausnahmslos um Versteinerungen der harten und schaligen Teile: ein Erbe der plötzlichen Mineralanreicherung der Meere am Ende des Ediacariums, die es Tieren ermöglichte, schützende Panzer auszubilden.

Das erstaunliche Aufblühen neuer Lebensformen im Kambrium, das sich im Laufe von nur 56 Millionen Jahren ereignete, ist noch immer unübertroffen – und fast ebenso erstaunlich wie die Entstehung des Lebens selbst. Wenngleich 56 Millionen Jahre nicht gerade wenig sind, so sind doch alle Lebensformen, die in den folgenden 485 Millionen Jahren entstanden, lediglich verfeinerte Varianten altbekannter Themen. So ist dieser Zeitraum beispielsweise kürzer als jene 66 Millionen Jahre, die seit dem Aussterben der Dinosaurier vergangen sind.

Nicht von ungefähr wird diese epochale Umwälzung in der Evolution »Kambrische Explosion« genannt. Allerdings ähnelte diese weniger einer schlagartigen Detonation als einem langsamen Grollen. Sie begann mit dem Zerfall Rodinias und der Entstehung und dem Niedergang der seltsam faszinierenden Ediacara-Fauna und endete vor rund 480 Millionen Jahren.[52]

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Am Ende des Kambriums waren bereits alle großen Stämme heutiger Tierarten ein erstes Mal im Fossilbericht in Erscheinung getreten.[53] Nicht nur die Gliederfüßer und verschiedene Arten von Würmern, sondern ebenso die Stachelhäuter (wie etwa die Seeigel) und die Wirbeltiere (Tiere mit Wirbelsäule, zu denen auch wir gehören). Eines der ersten Wirbeltiere war die fischähnliche Metaspriggina, die man im Burgess-Schiefer gefunden hat. Anstatt eines äußeren Kalzitpanzers hatte diese Gattung ein innen liegendes biegsames Rückgrat, an dem kräftige Muskeln verankert waren. Damit konnte das Tier schnell schwimmen – ideal, um riesigen Kopffüßern wie dem albtraumhaften Anomalocaris zu entwischen.

Metaspriggina war einer der ersten Fische, von dem wir aus Fossilienfunden wissen. Doch seine Geschichte gehört ins nächste Kapitel.

Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens

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