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6. Kapitel

Allein hätte N den Weg über den Sattel mit Sicherheit an einem Tag geschafft und wäre am Nachmittag bei Boris gewesen. Mit Maria gestaltete sich der Marsch schwieriger und beide mussten noch einmal übernachten.

Der Schlafplatz war etwas bequemer als der am Tag zuvor. Wasser war auch ausreichend vorhanden; nur der Hunger machte sich bei Maria bemerkbar. N hatte mit längeren Hungerperioden gerechnet; ihm reichte es, zu trinken.

Es war kurz vor 15 Uhr, als beide das kleine Plateau erreichten, auf dem Boris siedeln musste. N war sich sicher. Vor seiner Tour hatte er die Landkarten studiert, sodass er ohne diese papiernen Hilfsmittel wusste, wo er gerade war. Elektronische Navigierhilfe lehnte er entschieden ab. Das sei etwas für Weicheier, sagte er, als man versuchte, ihn von diesen Navis zu überzeugen. Dann könne man ihm auch gleich die Notrufnummer für die Bergrettung programmieren, damit er Hilfe rufen könne, wenn er sich Blasen gelaufen habe.

„Hier muss die Unterkunft des Einsiedlers Boris sein“, erklärte er Maria, die ihn nur etwas ungläubig anschaute.

„Waren sie denn schon einmal hier“, fragte sie und erhielt keine Antwort.

„Hallo Boris, wir sind Freunde und in Not“, rief er, so laut er konnte. Nichts rührte sich. N rief erneut, dass Freunde kämen, aber leider keinen Zucker und Wodka dabeihätten. Das war offenbar der Zauberspruch. Vor einer Felsenwand stand plötzlich ein alter Mann und winkte.

„Sehen sie, dort steht Boris. Jetzt sind wir gerettet; wir haben es geschafft“, sagte N immer noch fast schreiend und Maria brach vor Erschöpfung zusammen. Er konnte sie gerade noch festhalten und sanft zu Boden gleiten lassen.

Boris rührte sich nicht von der Stelle. Er wartete offenbar ab, wie sich die Ankömmlinge verhalten werden. N bemerkte diese Reaktion. Er versuchte Maria zu bewegen, aufzustehen, was ihm jedoch nicht gelang.

Kurzerhand nahm er sie wie einen Sack Mehl auf seine rechte Schulter und ging auf Boris zu.

Man sah ihm an, dass er Mühe hatte, diese Last zu tragen, Boris blieb noch immer unbeweglich stehen.

„Was schleppst du da mit dir herum, Fremder. Ist das ein Geschenk des Kaufmanns“, fragte Boris und N antwortete, dass es kein Geschenk, sondern eine Altlast des Lebensmittelhändlers sei.

„Sonst schickt er mir immer Zucker und Wodka“, erwiderte Boris und N, der bei Boris angelangt war, entledigte sich vorsichtig seiner „Belastung“.

„Oh mein Gott, das ist ja ein Weib“, schrie Boris und N nickte freundlich.

„Warum bestraft der gute Ladenbesitzer mich auf meine letzten Tage?“

„Ich hatte Wodka und Zucker für dich dabei. Es kam der fürchterliche Bergsturz und riss den Lebensmittelhändler samt Jeep in die Tiefe. Nur Maria und ich konnten uns in letzter Sekunde retten und sind jetzt hier“, berichtete N.

„Leg das Weib hier auf die Liege und berichte ausführlich, was passiert ist.“

„Das mache ich. Aber hast du vielleicht eine Kleinigkeit zum Essen. Ich habe seit drei Tagen nichts zwischen die Felgen bekommen“, sagte N und erhielt zur Antwort, dass er sich wegen der drei Tage nicht so anstellen solle. Trotzdem servierte Boris einen Brei aus gekochten Topinambur Wurzeln und ein Stück Trockenfleisch.

N schilderte so ausführlich wie möglich die Ereignisse seit seinem Aufbruch in der kleinen Bergwerksstadt.

Boris sagte dazu nur, dass er richtig gehört hätte, als der Berg brüllte. „Ich habe gedacht, dass es nur der westliche Hang zu meinem Plateau sei, und habe nachgeschaut. Der Bergsturz hat alles weggerissen und von der Westseite sind wir nicht mehr erreichbar. Du schilderst mir, dass auch der östliche Berghang weggerutscht ist. Das heißt, dass wir von der Außenwelt abgeschnitten sind“, sagte Boris recht gleichgültig und N fragte, was das bedeuten würde.

„Für mich ändert sich nichts mehr. Ich habe nicht mehr lange zu leben und freue mich über deinen Besuch. Du aber musst zusehen, wie du hier wegkommst“, sagte Boris mitleidig lächelnd und blickte zufällig zu Maria und fuhr fort: „Aber dein größtes Problem wird dieses Weib sein; darum beneide ich dich nicht.“

N schaute seinen Gastgeber etwas irritiert an. Erst jetzt stellte er fest, dass Boris fast zwei Meter groß war und nur noch aus Haut und Knochen bestand. Die Sonne, der Wind und die Kälte im Winter hatten seine Haut regelrecht gegerbt. Er sah müde aus; so wie jemand, der auf den Tod wartet.

Nach einiger Zeit des Schweigens sagte N, dass Maria zwar eine moderne Stadtfrau sei, sich aber bislang tapfer geschlagen habe und dass er sie deshalb bewundern würde. Boris antwortete nicht.

„Boris, wo ist deine Wasserstelle, ich könnte nach dem Festessen eine Waschung gebrauchen.“

„Du kannst bei mir sogar duschen, mein Freund“, sagte Boris zufrieden lächelnd und begleitete N hinter einen Felsvorsprung.

N hätte vor Freude fast laut geschrien. Aus einer Höhe von drei Metern sah er einen kleinen - aber ergiebigen - Wasserstrahl aus dem Felsen sprudeln.

„Mein Gott, das ist ja wie im Grandhotel. Sag bloß noch, dass du auch ein Stück Seife für mich hast.“

„Seife habe ich auch für dich. Und wenn du diesen Stöpsel ziehst, kommt sogar lauwarmes Wasser auf dich hernieder. Sei aber sparsam damit. Das funktioniert nur einmal am Tag nach der Mittagssonne. In einem natürlichen Felsbecken erwärmt sich Wasser. Es sind aber nur ungefähr zwanzig Liter. Aber jetzt ist es schon zu spät dafür. Das Wasser ist bestimmt schon wieder so kalt wie das aus der Quelle.“

Nach diesen Worten ließ er N allein in dem „Badesalon“ und ging in seine Unterkunft. Auf einer Ablage lagen mehrere Männerkleidungsstücke und er suchte eine Unter- und Oberhose, von denen er meinte, dass diese seinem neuen Freund passen könnten.

Nach der ausgiebigen Dusche und den neuen Hosen fühlte sich N wie neugeboren und hatte alle Probleme für einen kurzen Moment vergessen. Als er jedoch Maria sah, die wie eine Tote auf der Liege schlief, waren alle Sorgen wieder da.

„Boris hättest du auch noch ein Hemd für mich? Meine Sachen habe ich schon gewaschen und auf dem Gebüsch zum Trocknen aufgehängt.“

„Männerklamotten habe ich genug. Nimm, was du brauchst. Alles liegt in meinem Wohn/Schlafzimmer.“

„Woher hast du all die Kleidungsstücke, die dir offenbar viel zu klein sind?“

„Das ist schnell erklärt, lieber N. So wie du, kamen auch andere Wanderer bei mir vorbei. Die harten Jungs zogen nach einer Nacht weiter. Die Warmduscher, die meist aus der Bergwerksstadt kamen und Zucker und Wodka vom Lebensmittelhändler mitbrachten, waren nach dem dreitägigen Aufstieg zu mir so kaputt und entnervt, dass sie alsbald den Rückmarsch antraten und sich aller Lasten entledigten, um bequemer wieder runterzukommen. Auf diese Weise hat sich bei mir ein stattliches Warenlager moderner Wanderkleidung und unnützer Wanderutensilien angesammelt.“

„Ähnliches von den Möchtegernhelden hat mir schon der Busfahrer auf der Fahrt zur Bergwerksstadt erzählt; ich hatte Mühe, es ihm zu glauben und dachte, dass er sich nur wichtigmachen wollte.“

„Glaub mir, übertreiben konnte er bestimmt nicht. Bei mir findest du sogar sämtliche Toilettenartikel. Ist dir nicht aufgefallen, dass ich kurze Haare habe und rasiert bin?“

„Gibt es denn hier in der Nähe einen markierten Wanderweg. Der GR10 ist doch weit weg“, fragte N und erhielt zur Antwort, dass diese Weicheier meinten, so wie du und ich zu sein.

„Woher willst du denn wissen, dass ich nicht auch so bin“, fragte N zurück.

„Mein Freund. Wer so wie du gekleidet ist und es ohne Ausrüstung - und auch noch mit einem Weib auf der Schulter - bis zu mir schafft, muss ein harter Hund sein.“

Nachdem sich N recht modisch gekleidet hatte, schlug er vor, Maria mit ihrer Liege in das Innere der Wohnhöhle zu bringen. Beide Männer trugen die immer noch fest schlafende Frau hinein und setzten sich danach auf eine Steinbank. Boris hatte sogar eine fast leere Wodkaflasche geholt und beide schauten in die untergehende Sonne.

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