Читать книгу Erasmus - Herbert Feid - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеEs ist zwanzig Minuten nach elf, als der Pfleger an Erasmus‘ Bett tritt, die rechte Hand unter die Bettdecke schiebt und auf Erasmus‘ Brust legt. Er beugt sich über ihn und flüstert dessen Namen.
„Erasmus, Erasmus, wie geht es dir? Fühlst du noch Schmerzen?“ Der Junge öffnet mühsam die Augen und starrt den Schatten über sich lange an. So ein Gesicht hat er noch nie hier gesehen.
„Ich bin der Hein. Ich sehe in dieser Nacht nach dir. Du kannst mir vertrauen.“ Ein schwaches Nicken. „Es ist bald halb zwölf“, fährt die tiefe Stimme in einem Singsang fort. „Draußen ist ein wunderschöner Nachthimmel für dich aufgespannt, von tausend Sternen beleuchtet. Wir haben immer noch 16 Grad. Hast du nicht Lust zu einem kleinen Spaziergang draußen an der frischen Luft?“ Erstaunen malt sich in Erasmus‘ Augen. Spaziergang ? Seine Mundwinkel wandern nach oben, er lächelt. „Du bist im Augenblick gut drauf, ich glaube, du kannst es schaffen. Nach drei Monaten sterilem Krankenhausaufenthalt wieder einmal kühle Nachtluft zu schnappen, das ist bestimmt etwas Schönes für dich.“ Wieder ein Nicken. Dieses Mal steht der Wunsch dahinter, endlich das Krankenhaus, wenn auch nur für kurze Zeit, verlassen zu können.
„Versuche dich aufzurichten, ich helfe dir.“ Erasmus schüttelt den Kopf. Er rührt sich nicht. Ob ich träume, durchzuckt es ihn. Ich kann doch nicht aufstehen. Schon lange nicht mehr.
„Ich verspreche dir eine tolle Zeit, wenn du willst.“
Von der Hand, die auf seiner Brust liegt, fühlt Erasmus Energie in seinen schlappen Körper strömen, bis in die Fingerspitzen. Er empfindet ein Wohlgefühl wie schon lange nicht mehr.
„Ja, das möchte ich wieder einmal gern.“ Erasmus ist über sich selbst erstaunt, dass er diesen Satz einfach ohne Schmerzen herausbringen kann.
„Komm, gib mir deine Hand. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich helfe dir.“ Erasmus ergreift die ausgestreckte Rechte, der Pfleger löst den Infusionsschlauch sowie alle Messgeräte. Erasmus‘ Körper beginnt wieder selbstständig zu arbeiten. Er steht schwankend auf, es dauert einen Augenblick, bis er die Balance gefunden hat. Ob er es wirklich ist, der in einer Schlafanzughose im Krankenzimmer steht, das weiß er nicht. Sein magerer Körper zeigt jede Rippe, besonders die Rippenbögen stehen entsetzlich hervor. Hein legt ihm die Hand auf die Schulter.
„Wir brauchen etwas zum Anziehen für dich. Was du vor drei Monaten getragen hast, als du hierherkamst, ist nicht mehr vorhanden. Neue Kleider sind keine hier, außer etwas Unterwäsche, und damit kannst du ja bestimmt nicht nach draußen gehen.“ Hein lächelt ihn verschmitzt an. Erasmus grinst in sich hinein: Stimmt, da hat der Hein sicherlich recht. Am liebsten hätte er dem Pfleger auf die Schulter geklopft, genau wie es Freunde immer tun, wenn sie in guter Laune sind. So wohl fühlt er sich in diesem Augenblick. Wegen der zahlreichen Krankenhausaufenthalte hat er niemals enge Freunde zum Auf-die-Schulter-Klopfen gehabt, die er aber gerne gehabt hätte.
„Ich gebe dir von meiner Pflegerkleidung. Die Größe passt in etwa, nur ausfüllen wirst du sie nicht. Es wird schon gehen, denn ihr jungen Leute lauft ja gern in solchen Schlabberklamotten umher.“
„Ob ich wirklich ein paar Stunden dort draußen durchhalten kann ohne irgendwelche Medizin?“ Erasmus zupft an seinem Kinn.
„Na klar, kein Problem. Du brauchst keine Medizin mehr. Über dieses Stadium bist du schon längst hinaus. Mache dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, du wirst eine schöne Zeit da draußen verleben.“
Als Erasmus fertig angezogen ist, müssen beide über sein Aussehen lachen. Der Pfleger legt erschrocken den Finger auf die Lippen und flüstert: „Pssst, leise, wir wollen hier niemanden aufwecken.“ Und mit Glucksen sagt er: „Na ja, du schaust ja beinahe wie eine Vogelscheuche aus. Wenigstens ist alles sauber.“
„Ich brauche unbedingt meine Mütze, ich will nicht wie ein Skinhead unter Leute. Ist sie noch hier?“
„Ja, aber ich habe dir eine Rib-Mütze von Tommy Hilfiger besorgt. Die ist smarter als deine alte mit Rentieren drauf und mit ner Bommel dran. Mit der schaust du cool aus. Es stört keinen, wenn du sie aufbehältst. Die kannst du bis tief über die Augenbrauen herunterziehen.“
„Danke Hein, du kommst doch mit? Was schlägst du vor, wohin wollen wir gehen?“
„Nein,“ antwortet der Pfleger mit fester Stimme. „Ich muss hierbleiben, aber du musst mir unbedingt versprechen, bis fünf Uhr morgen früh wieder hier im Zimmer zu sein. Du hast demnach noch knapp fünf Stunden Freigang. Nutze die Zeit aus. Hier hast du meine Smartwatch, pass gut auf sie auf. Vergiss die Zeit nicht!“
„Ich habe alleine Angst. Ich bin schon lange nicht mehr auf der Straße gewesen, ich bin immer noch schwach. Wo soll ich denn hin? Ich finde mich bestimmt nicht zurecht, es ist ja noch dunkel.“
„Keine Angst Erasmus. Du bist siebzehn Jahre alt, da kommst du in der Welt schon zurecht. Ich gebe dir fünfzig Euro, die kannst du ruhig diese Nacht verbraten. Es ist ein Geschenk von mir. Es ist sowieso besser, wenn du mit leeren Taschen zurückkommst. Für den Notfall hier noch deine Bankkarte. Ich habe sie aus dem Safe genommen, er war nicht abgeschlossen. Mache es gut. Erasmus, lebe ! Finde Freunde und habe viel Spaß. Denke dabei bitte immer daran, dass du wieder zurückkommen musst.“
„Ja, natürlich, wo sollte ich denn sonst hin?“ Er versteht nicht, wozu eine Kreditkarte mitten in der Nacht gut sein sollte, aber er steckt sie sich ein. Beide umarmen sich fest und klopfen sich gegenseitig einige Male auf den Rücken. Erasmus fühlt sich so kribblig, als wäre er wieder dreizehn und hätte mit einem Schulfreund erfolgreich ein krummes Ding gedreht, worüber sie sich beglückwünschten.
Richtig kann er immer noch nicht an die Sache glauben. Das Krankenhaus verlassen? Spazieren gehen? Ist das nicht alles nur ein Traum, durchfährt es ihn, die letzten Zuckungen meines strahlenzerbombten Gehirns?
„Du kannst im Park vor dem Krankenhaus etwas umherspazieren. Wenn es dir langweilig wird, gehe links vom Krankenhaus die Straße entlang, bis du das S-Bahnzeichen siehst. Um diese Zeit fahren die Züge noch. Du triffst dort bestimmt jemanden, mit dem du sprechen und dir die Zeit vertreiben kannst.“
Erasmus zögert. „Was ist, wenn ich wieder einen Anfall bekomme, mich die Schmerzen zerreißen und ich nicht mehr weiß, was mit mir los ist? Hein, komm bitte lieber mit.“
„Nein, Erasmus, du bekommst keinen Anfall mehr, nie mehr. Gerade eben, das war dein letzter Kampf. Du hast es geschafft, du hast alle deine Leiden überstanden. Es ist zu Ende. Nun rede hier nicht lange herum, haue endlich ab, nutze die Zeit, aber versäume nicht, morgen früh um fünf zurück zu sein. Ich erwarte dich hier.“