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Kapitel 4

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05.07.2017

Erasmus lag im Bett. Er war letzten Endes wieder im Krankenhaus. Schmiedehämmer versuchten, sein Gehirn zu zertrümmern. An all seinen Gliedern hingen einhundert Kilogramm Gewichte. Brechreiz überkam ihn. Wie er es geschafft hatte, wieder ins Krankenhaus zu kommen, konnte er sich nicht vorstellen, aber er war zurück! Er atmete durch und das gestern Erlebte enthüllte sich langsam. Sein zerbombtes Gehirn arbeitete nur noch im Schneckentempo.

Bestimmt hat mich der Junge zurückgebracht, wie hieß der nur? Wie ist es überhaupt möglich, dass ich gestern Abend gesund und munter gewesen war, aber heute wieder dem Tode nahe bin. Sicherlich war es ein Traum, ein sehr schöner Traum von Klaus, den ich endlich wiedergetroffen habe. Erasmus wollte die Augen nicht öffnen, vielleicht würde er ja weiterträumen, den schönen Traum. Von weit entfernt glaubte er, Worte zu vernehmen. Es war keiner von den Ärzten, deren Stimmen kannte er alle. Es war mehr wie ein Ansager im Fernsehen oder Radio, der irgendwelche Nachrichten verlas. Woher kommt das nur? Erasmus wurde unruhig.

„Na wie geht’s dir? Warst ja gestern Nacht ordentlich besoffen.“

Erasmus bekam einen Schreck. War das einer von den anderen Ärzten, durchfuhr es ihn. Nur wer? Der neue Pfleger, der Hein, hatte eine viel tiefere Stimme gehabt und der Professor Bernhard spricht doch immer, als ob er erkältet ist. Etwa der neue Stationsarzt oder doch Dr. Frank? Also war das alles kein Traum? Ich habe wirklich das Krankenhaus verlassen und mich mit dem Typ, den ich am Bahnhof getroffen habe, betrunken. Erasmus schwitzte. Zum ersten Mal in meinem Leben betrunken ! Und das ausgerechnet jetzt, wo das doch das Letzte ist, was ich tun sollte.

Er beschloss, sich erst einmal nicht zu bewegen. Er hielt die Augen zusammengekniffen. Er musste abwarten, was passiert. Ein Donnerwetter oder eine Strafpredigt? Was würden seine Mutter und sein Vater zu der Geschichte sagen.

„Ich hab dich lieber erst mal zu mir gebracht, Muste. Ruh dich noch was aus, später bring ich dich zurück ins Krankenhaus. Du bist ja noch weiß wie ne getünchte Wand. Ich sag denen, war alles meine Schuld. Mach das schon irgendwie.“

Zu mir gebracht ? Also bin ich nicht im Krankenhaus, sondern bei dem Kerl, den ich gestern getroffen habe. Das ist doch seine Stimme, dachte Erasmus. Es war ihm, als sei die Erde umgekippt.

„Kannst was essen oder magst was trinken?“ Erasmus schüttelte den Kopf, er wusste nicht mehr ein noch aus, sein Gehirn wollte explodieren. Als Linus besorgt die Hand auf Erasmus‘ Schulter legte und er die Berührung fühlte, beschloss er, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, um sich endlich Gewissheit zu verschaffen, wo er war. Zunächst kam nur ein wenig Licht durch die Wimpern und er konnte schwach die Konturen von einem halb offenen Kleiderschrank erkennen. Schließlich, deutlich zu seinen Füßen, ein Poster von Bruce Lee mit blutigen Striemen im Gesicht sowie am Körper. Auf keinen Fall war er im Krankenhaus.

„Wo bin ich?“

„Bei mir Muste. Hab dich hierher gebracht, sonst hätts im Krankenhaus bestimmt einen Aufstand gegeben. Du warst ja total zu und das nur von den paar Biern.“

„Wie viel habe ich denn im Bahnhof getrunken?“

„Welcher Bahnhof? Wir haben uns doch zufällig vor meiner Kneipe getroffen, nich in einem Bahnhof. Oh je, dich hats ja voll erwischt.“ Linus schüttelte den Kopf.

Erasmus blickte zu Heins Uhr an seinem Handgelenk, das Display verschwamm vor seinen Augen.

„Wie spät ist es?“

„Beinahe zwölf, du Langschläfer.“

„Mann, ich muss schnell zurück ins Krankenhaus“, stammelte Erasmus. „Meine Mutter kommt immer gegen elf. Die letzten Tage war ich weggedöst, habe sie nich bemerkt. Sie ist bestimmt auch heute wieder gekommen. Und ich bin nicht da!“ Ihm war, als raste ein ICE auf ihn zu und er war an die Schienen gekettet.

„Keine Panik, Muste, ich regele das schon.“ Erasmus wurde es noch schlechter. Er fand sich nicht mehr zurecht. Als sein Blick auf der Uhr neben dem Bett hängen blieb, erstarrte er. Was er da blinken sah, konnte er nicht glauben. Aber sooft er auch hinsah, es blieb dabei: 05 – 07 – 2017.

Am fünften Juli war er ins St. Georg Krankenhaus eingeliefert worden, an einem Mittwoch. Was gestern für ein Tag war, wusste er nicht, er war die letzte Zeit oft nicht bei Bewusstsein gewesen. „Ist heute Mittwoch?“

„Ja, wieso. Gestern war Dienstag und ich Dussel hab meine Arbeit verloren. Den Tag werd ich so schnell nicht vergessen.“

„Etwa Juli?“

„Ja, was denn sonst.“

Nein! Das konnte nicht wahr sein. Erasmus begann zu fiebern. „Mache bitte das Radio oder den Fernseher lauter, was reden die gerade?“

„Also, sone Bande, wohl aus Osteuropa, hat nachts Kabel von der S-Bahn abmontiert, paar hundert Meter. Der halbe S-Bahn-Verkehr war heute Morgen für paar Stunden zusammengebrochen. Das ist absolut krank so was.“ Davon hatte Erasmus zwei Tage nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus erfahren, als die Metalldiebe gefasst wurden. Oder war es eine ganz andere Sache. Oder doch nicht?

„Die Metalldiebe hat die Polizei schon zwei Tage später gefasst,“ kam es unvermittelt über Erasmus‘ Lippen.

„Was spinnst du da?“

„Egal. Es ist mir einfach rausgerutscht. Ich bin noch nich ganz klar im Kopf“, brachte er stotternd als Entschuldigung hervor.

Wenn die übermorgen gefasst werden, werde ich wahnsinnig. Bin ich etwa drei Monate in der Zeit zurückgerutscht? Was ist nur passiert? Er schloss die Augen und legte sich wieder flach ins Bett. Er wollte nichts mehr hören oder sehen, aber die Aufregung ließ ihn nicht in Ruhe.

„Du, Linus, kannst du bitte noch mal das heutige Datum sagen.“

„Mann, Muste, dich hats ja mega erwischt. Also heute ist Mittwoch der fünfte Juli zweitausendsiebzehn. Schau selbst.“

Linus warf ihm eine Bildzeitung aufs Bett.

„Damit du‘s endlich schnallst, Muste. Die ist von heute Morgen. Hab ich grad erst geholt, als du noch gepennt hast. Und lies auch, was ganz unten steht, darüber hab ich mit dir gestern gesprochen.“

Über dem roten Rechteck mit dem weißen Bild-Logo stand das Datum, ebenfalls in Rot: MITTWOCH, 5. JULI 2017 und daneben schreierich wie immer aufgemacht:

Der Ruin einer Legende! Boris-Freund fordert 36,5 Millionen

Erasmus legte die Zeitung weg. Um diese Zeit vor drei Monaten hatte er mit seinem Vater am Küchentisch gesessen, beide hatten kaum etwas gegessen und sahen sich schweigend an, während seine Mutter alles für seinen bestimmt schon über zwanzigsten Krankenhausaufenthalt vorbereitete. Die Stimmung war gedrückt gewesen. Wenn es dieses Mal keinen Erfolg gibt, dann …, lag in der Luft. Genau in diesem Augenblick befand er sich betrunken im Bett eines Fremden! Wenn er hier war, war das Bett im Krankenhaus jetzt leer und alle suchten nach ihm? Nein, das kann nicht sein, denn um diese Zeit saß ich zusammen mit meinem Vater am Tisch und war noch gar nicht im Krankenhaus, erinnerte sich Erasmus. Kann ich an zwei Orten zugleich sein, am Tisch mit meinem Vater und zugleich im Bett bei einem fremden Kerl? Das war zu viel.

„Hast du etwas gegen Kopfschmerzen?“ Erasmus musste sich konzentrieren, irgendetwas war aus der Bahn gelaufen.

„Ich hab Aspirin, kannst haben, wenn du willst. Ich bring dir gleich ein Glas Wasser.“

Erasmus betrachtete die Uhr am Handgelenk. Dass es nicht seine war, war hundertprozentig sicher. Er besaß eine Seiko-Uhr und dies war eine Smartwatch. Die hatte ihm sein Pfleger Hein gestern gegeben. Hatte er nicht gesagt, nutze die Zeit aus, als er sie mir übergab. Die Datumsanzeige flimmerte vor seinen Augen, dieses Mal konnte er sie mit Mühe erkennen:

5:00 27-09-2017 .

Ist das nicht der Zeitpunkt, an dem Hein auf mich wartet? Das wäre heute Morgen gewesen, aber heute ist erst der fünfte Juli, der Tag, an dem ich ins Krankenhaus eingeliefert worden bin. Ein eisiger Schauer durchströmte seinen Körper. Beinahe drei Monate lagen zwischen beiden Daten. So ist das also. Hein hat mir Zeit geschenkt, bis ich ihn wieder im Krankenhaus treffen muss. Nicht nur ein paar Stunden, sondern fast drei Monate. Damit gab Erasmus sich erst einmal zufrieden, obwohl er alles überhaupt nicht verstand.

„Was ist nun mit dem Aspirin?“, erkundigte sich Linus gedehnt. „Brauchst du es nicht mehr?“

„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich gehe lieber kalt duschen, wenn‘s ok ist. Du hast doch hier eine Dusche oder?“

Linus nickte mit dem Kopf nach links zur Kochnische. Erasmus stand auf, seine Knie waren immer noch schwach, und er begann sich langsam auszuziehen. Linus hatte ihn in Kleidern aufs Bett gelegt und zugedeckt. Als er in Unterhosen im Zimmer stand, schämte er sich, aber er fühlte sich besser.

„Geht’s dort zur Dusche?“

„Ja genau. Willst etwa mit deiner Mütze aufm Kopf duschen gehen?“

Wie lang sind meine Haare vor drei Monaten gewesen, wenn überhaupt höchstens etwas Flaum. Erasmus zögerte, schließlich zog er die Mütze ab. Es war die Tommy Hilfiger Mütze von Hein. In der ihm verbleibenden Zeit wollte er ehrlich bleiben. Für einen Moment hörte man im Zimmer nur das feine Rauschen von Linus‘ Notebook-Ventilator, ehe er sich erschrocken meldete.

„Du bist doch nich etwa son rechter Glatzkopfidiot, oder?“ Da war sie wieder, seine Krankheit, die ihn überallhin begleitete, ihm sein ganzes Leben verdarb. Er würde ihr nicht entrinnen können, das wusste er. Wenigstens gab es einen Aufschub.

„Nein, das kommt von meiner Krankheit. Strahlen und Chemo haben mich so zugerichtet, aber es hat alles nichts geholfen.“ Wieder Stille, die nur vom Rauschen des Ventilators erfüllt war, dieses Mal annähernd eine Ewigkeit.

„Krebs?“

„Ja.“ Es war raus. Erasmus fühlte sich freier.

„Ist okay. Zieh dir vorher lieber noch deine komischen Unterhosen aus, oder hast du das unten auch schon verloren?“ Beide versuchten vergeblich ein Lachen und Linus gab Erasmus endlich einen Schubs in Richtung Dusche.

„Ich geb dir nachher Boxershorts von mir. Sind gewaschen. Du brauchst dich nich zu schämen, ich schaue nicht hin. Gibt bei dir ja wirklich nichts zu sehen. Die Duschkabine ist sehr eng, darin kannst nix lassen, es wird alles nass. Du musst dich schon hier ausziehn.“

Nach dem Duschen ging es Erasmus besser, das Brummen im Kopf war schwächer geworden.

„Wolln wir noch kurz was frühstücken, ehe ich dich zum Krankenhaus bringe“, fragte Linus besorgt.

„Ja, gute Idee, aber mit dem Krankenhaus hat es noch etwas Zeit.“

„Wenn du meinst, super. Ich lauf schnell runter und hol uns ein paar Schrippen und du suche dir ausm Schrank was anzuziehen, siehst ja voll bescheuert aus mit den Klamotten von deim Pfleger.“

Als Erasmus alleine war, überdachte er seine Situation. Was es auch immer war, er schien gesund zu sein und drei Monate jünger. Wenn ich am siebenundzwanzigsten September um fünf Uhr morgens nicht hingehe? Werde ich einfach weiterleben? Und mein anderes ich? Ich müsste zum Krankenhaus gehen und sehen, ob ich heute tatsächlich eingeliefert worden bin. Falls es so ist? In diesem Fall gibt es mich zweimal!

Erasmus kam nicht weiter und betrachtete, um sich abzulenken, die Bild-Zeitung. Was hatte Linus wohl damit gemeint, und lies, was ganz unten steht, darüber habe ich mit dir gestern gesprochen . Erasmus fand sofort, worauf Linus angespielt hatte:

Bundeskriminalamt hat „Panama Papers“ gekauft.

Es ging wieder um die Reichen, die immer reicher werden und den anderen bleibt nichts. Um Geld hatte sich Erasmus noch nie gekümmert, er hatte immer genug Taschengeld gehabt. Das Problem war vielmehr das Ausgeben gewesen, denn dazu war er wegen der vielen Krankenhausaufenthalte kaum gekommen. Seine Eltern hatten ihrem kranken Sohn immer alles geschenkt, was er haben wollte.

Es müsste schon eine ordentliche Summe auf meinem Konto zusammengekommen sein, überdachte Erasmus seine Situation. Mit all dem Geld zu Weihnachten und zum Geburtstag, das ich nicht ausgeben konnte. Sowie dem Taschengeld, das ich da gebunkert habe. Wenn ich nur drankommen könnte, denn für die drei Monate brauche ich Geld. Sein Kopf wurde immer klarer. Er wusste seine Geheimnummer und könnte sich am Bankautomaten Geld ziehen. Niemand würde etwas merken und er hätte genug Geld zum Leben. Warum ihm Hein nachts die Bankkarte zugesteckt hatte, verstand er endlich. Der hat einen längeren Ausflug geplant, grinste Erasmus zufrieden in sich hinein. Und das werde ich ausnutzen.

Linus hatte frische Brötchen gebracht. Sie schmierten sich Erdbeermarmelade aus einem Glas darauf und es gab Cornflakes mit Milch. Dazu machte Linus zu Feier des Tages, wie er schmunzelnd bemerkte, noch eine Dose Ananas auf. Solch ein schmackhaftes Frühstück hatte Erasmus schon lange nicht mehr gegessen. Wie die vier Brötchen waren ebenso die Kopfschmerzen im Nu verschwunden und an seinen Krebs dachte er schon gar nicht mehr.

„Du, Linus, ich hätte Lust, heute mal Berlin unsicher zu machen. Was meinst du? Vielleicht könnten wir uns hier irgendwo Fahrräder ausleihen, etwa ein Lidl-Bike, und damit quer durch Berlin kreuzen.“

„Kannst ruhig Nuss zu mir sagen, das mag ich lieber. Klar können wir uns Fahrräder ausleihen, aber was ist mit dem Krankenhaus, oder willst du da etwa heute nicht mehr hin? Und deine Mutter? Wartet sie nicht dort auf dich?“ Linus schaute Erasmus entgeistert an.

„Ach was, das habe ich einfach so hingesagt, mache dir damit nich den Kopf voll. Ich habe einfach Lust, mal was anzustellen. Das Krankenhaus kann warten. Ich war schon lange nicht mehr draußen, in Freiheit. Außerdem muss ich mir Geld vom Automaten besorgen und ich lade dich heute für den ganzen Tag ein.“

Erasmus

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