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Kapitel 3
Оглавление27.09.2017
Erasmus wundert sich, dass er so einfach aus dem Krankenhaus entweichen kann. Die Gänge sind alle menschenleer. Am Empfang wünscht man ihm lediglich eine gute Nacht, ohne dabei aufzublicken. Die Uhr über dem Eingang zeigt
27-09-2017 0:01.
Alleine im Park herumzulaufen macht ihm Angst. Hat Hein nicht gesagt, es gibt einen Bahnhof in Sichtweite. Nach einigen Minuten beschließt er, mit einem Taxi zum S-Bahnhof zu fahren, denn er fühlt sich immer noch schwach und unsicher. Doch vor dem Krankenhaus warten keine Taxen.
Nach etwa einer Minute erscheint ein Taxi und hält vor der Notaufnahme. Noch ehe er dorthin laufen kann, fährt es schon wieder ab. Er sieht nur noch die Rückleuchten. Ein Schatten betritt eilig das Krankenhaus. Für einen Augenblick kommt ihm die Silhouette bekannt vor.
Er wendet sich nach links, wie ihm Hein geraten hat, und erblickt schon bald das Zeichen der S-Bahn. Erasmus ist erleichtert und erstaunt, dass es ganz in der Nähe eine S-Bahnstation gibt, denn seine Mutter hatte bei ihren Besuchen immer über die schlechte Verkehrsanbindung geklagt. Lediglich ein paar Autos sind unterwegs, Fußgänger keine. Das Schwindelgefühl, das ihn seit dem Aufstehen begleitet hatte, lässt allmählich nach.
Tatsächlich ist der Himmel wolkenlos. Die Zahl der Sterne hat der gute Hein doch leicht übertrieben, lächelt Erasmus in sich hinein. Die Luft ist angenehm kühl. Es dauert nicht lange, bis er die sterile Atmosphäre im Krankenzimmer vergessen hat, die frische Luft genießt und Hunger verspürt.
Ob ich im Bahnhof um diese Zeit noch etwas zu essen bekomme? Wenn ja, was soll ich mir kaufen? Wie wäre es mit einer Pizza oder einem Big Mac. Alles ungesundes Zeug, aber nach dem faden Gesundheitsessen im Krankenhaus darf ich das sicher einmal. Erasmus‘ Laune verbessert sich im Sekundentakt. Was wird es für eine Freude sein, spinnt er seine Gedanken weiter, endlich einmal etwas Ordentliches zwischen die Zähne zu bekommen. Vielleicht eine Riesencurrywurst mit viel Pommes, einem Berg Tomatenketchup und noch Mayonnaise obendrauf.
Als er den S-Bahnhof betritt, ist er zunächst erstaunt, freut sich jedoch, in der Halle einen Currywurststand zu erblicken, wie er es sich gewünscht hatte. Genüsslich studiert er die Speisekarte und entscheidet sich für eine Riesencurrywurst ohne Darm mit extra viel Pommes und Mayonnaise. Er kann es kaum erwarten, die Bestellung endlich in der Hand zu halten. Sein Zittern kommt dieses Mal von der Aufregung, nicht von seiner Krankheit. Es ist ein angenehmes Zittern, wie in Erwartung einer großen Sache. Als er den Pappteller endlich in den Händen hält, angelt er sich sofort mit Daumen und Zeigefinger eine Pommes und taucht sie in den Ketchup. Wie das schmeckt! Darauf noch eins und noch eins, während er zu einem Stehtisch geht und sich die Finger ableckt.
„Scheinst ja voll zu verhungern.“ Eine junge Stimme mit Berliner Lokalkolorit. Erasmus blickt auf. Ein Typ um die dreiundzwanzig mit zerzausten blonden Haaren und offenem Gesicht lächelt ihn vom Nebentisch an. Ein kurzärmliges hellblaues Hemd umspannt den muskulösen Oberkörper, die oberen drei Knöpfe sind offen. Eine etwas zu große, ehemals sicherlich weiße Arbeitshose, die inzwischen der Leinwand eines mit viel Farben experimentierenden modernen Künstlers gleicht, rundet die Gestalt ab. Die Stimme, die blonden Haare und sein Gehabe kommen Erasmus bekannt vor. Woher nur? Erasmus blickt den Jungen nachdenklich an, kennt er ihn, ehe er dem Fremden antwortet.
„Ja, ich verhungere auch fast. Ich habe mich gefreut, endlich mal wieder eine Currywurst zu essen.“ Noch beim Sprechen stopft Erasmus sich mit einer kleinen Plastikgabel ein aufgespießtes Stück Wurst in den Mund. Sein Gegenüber hat eine Pappschale vor sich stehen, darauf eine schon halb gegessene Currywurst sowie unter Ketchup begrabene Pommes. Daneben eine Zigarettenschachtel.
In diesem Augenblick erinnert er sich. Sieht der nicht aus wie Klaus, den ich letztes Jahr im Krankenhaus getroffen habe? Der mit dem Herzfehler, der gar nicht wie ein Kranker aussah. Sie waren sich einige Male bei den Toiletten begegnet, wo Klaus verbotenerweise rauchte. Er hatte immer etwas Witziges auf Lager, und der Tag war für Erasmus gerettet, wenn er ihn sah. Eines Vormittages war er wie vom Erdboden verschluckt. Was ist wohl aus ihm geworden? Ob ich jetzt von ihm träume, alles nur träume? Immer wieder hatte er an Klaus gedacht, wenn er wieder ins Krankenhaus musste und gehofft, ihn dort zu treffen. Er war zwei oder drei Jahre älter als er. Bereits nach ein paar Tagen waren sie Freunde geworden.
„Du, ich bin Linus. Ich hol mir grad noch ein Bier und eins bring ich dir mit. Ich bin grad gut drauf, geb dir einen aus, hab was zu feiern.“ Das offene Gesicht des Fremden strahlt ihn an. „Du bist der Erste, den ich getroffen hab. Deswegen hast du den ersten Preis gewonnen.“ Damit verschwindet er zum Tresen.
Erasmus denkt an Hein und an seinen Satz: Dort triffst du bestimmt jemanden, mit dem du sprechen kannst. Es läuft also ganz gut. Bier, ob ich das vertragen kann? Erasmus kratzt sich am Hinterkopf.
Wenn er zur Erholung zu Hause war und es ihm gut ging, trank er abends mit seinen Eltern schon mal Weinschorle, höchstens zwei Gläser, und schon drehte sich alles um ihn. Er war an Alkohol nicht gewöhnt. Bier hatte er vom Geschmack her eigentlich nie gemocht. Erasmus schaut auf Heins Uhr. Die Zeiger sind auf halb eins vorgerückt.
Ich habe nur noch viereinhalb Stunden, und ich muss zurück sein, seufzt er in sich hinein. Sonst trödelt die Zeit immer, wenn ich nutzlos im Bett liege und vor Schmerzen keine Gedanken fassen kann. Endlich, wo es mir wieder gut geht und ich etwas erleben will, läuft sie mir wie im Hundertmetersprint davon.
Linus kehrt mit zwei Dosen Krombacher zurück, stellt sie auf den Tisch und beginnt seine aufzudrücken. Erasmus kommt nach dem Anheben der Lasche mit dem Runterdrücken der Verschlusskappe nicht zurecht. Linus wartet geduldig, bis sein Gegenüber endlich die Lasche nach unten gedrückt hat. Als der das geschafft hat, hält Linus die Bierdose in Richtung Erasmus.
„Also Prost! Wie heißt du eigentlich?“
„Erasmus, aber in der Schule nennen mich alle nur Muste“, schiebt er eilig hinterher, denn sein Name ruft immer Stirnrunzeln hervor oder dummes Gelächter.
„Cool, Muste, das ist genau son blöder Nick wie meiner. Mich haben sie Nuss genannt. Darauf trinken wir jetzt einen. Prost, Muste.“
Das Bier schmeckt Erasmus nicht. Als er jedoch die zufriedene Mine seines Gegenübers sieht, ringt er sich zu einem: „Das tut gut“ durch. Irgendwie findet er es aufregend, gelogen zu haben, auch wenn es eine Notlüge war.
„Und was hast du nun zu feiern, deinen Geburtstag?“
„Nein das nich. Also, ich bin heute aus dem Betrieb geschmissen worden. Na eigentlich kein richtiger Betrieb. Es gibt nur den Boss, noch einen anderen Blöden und mich.“
„Das feierst du, dass du gekündigt wurdest?“
„Ja, weil ich mit mir selbst total zufrieden bin und darauf Prost, Muste.“ Sie stoßen die Bierdosen kreuzweise gegeneinander. Das kennt Erasmus nur vom Fernsehen. Er ist froh wie ein kleines Kind bei der Bescherung, es einmal selbst machen zu dürfen. Leben besteht aus vielen Einzelheiten, sinniert er. An allen sollte man sich erfreuen, solange man kann. Solange ich es noch kann. Für einen Augenblick überwältigt ihn seine Situation. Ich will die Zeit ausnutzen, die mir Hein geschenkt hat, schwört er sich. Ohne ihn wäre ich nicht hier und vielleicht schon im Bett gestorben.
„Erzähle über was du zufrieden bist, obwohl du doch deine Arbeit verloren hast.“ Erasmus hat inzwischen die Currywurst sowie alle Pommes heruntergeschlungen. Er fühlt sich super und hat Appetit auf mehr. „Du, Nuss,“ und im gleichen Augenblick verzieht sich seine Miene über die lustige Anrede zu einem Lachen. Ein Lachen, wie schon seit Monaten oder noch länger nicht mehr. „Ich glaub, ich hol mir noch eine Portion Currywurst. Das schmeckt hier sehr lecker.“
Linus grinst ihn an. „Mach das du Vielfraß. Bring uns noch zwei Bier mit, es wird eine lange Geschichte.“ Als Erasmus zum Currystand kommt, ist schon alles weggeräumt, als hätte es hier nie einen Currystand gegeben. Erasmus kommt enttäuscht zurück. „Der Currystand hat sich in Luft aufgelöst.“
„Dann eben nicht“, ärgert sich Linus. „Wenn du willst, kannst den Rest von mir bekommen, ich hab keinen Hunger mehr, aber du klapperdürres Halloweengerippe brauchst was Speck auf die Brust.“ Linus schiebt seine Pappschale mit noch zwei Stückchen Currywurst und ein paar von Tomatenketchup triefenden Pommes zu Erasmus, der sich darüber hermacht. Erasmus schämt sich wegen des klapperdürren Halloweengerippes. Aber gemein war es nicht gemeint, das fühlt er.
„Mach zu Muste, trink dein Bier aus. Wir gehen dann eben zu meiner Stammkneipe. Dort machn wir weiter, der Tag hat ja grad erst angefangen und heute brauch ich nicht zur Arbeit gehen, hab ja keine mehr. Oder hast du noch etwas vor?“
Ins Krankenhaus will Erasmus auf keinen Fall zurückkehren, noch ist es viel Zeit und die will er bis zur letzten Sekunde auskosten. Was würde Hein sagen, wenn ich schon wieder aufkreuze, besonders weil ich im Augenblick so super drauf bin. Ich gehe mit dem lustigen Kerl zu seiner Stammkneipe. Stammkneipe klingt ja stark. Ich war noch nie in einer!
„Ja okay, Nuss, ich komme gerne mit. Ist es weit?“
„Nö, zehn bis fünfzehn Minuten und schon sind wir da.“ Erasmus kann sich nicht genug über den Spitznamen Nuss amüsieren und kichert wie ein albernes Mädchen. Er versucht, den Rest des Bieres herunterzustürzen, doch es gelingt ihm nicht, er muss absetzen.
„Mann, Muste, musste ja nich gleich alles aussaufn, hat doch keine Eile.“ Linus lacht über sein Wortspiel. „Wir haben jede Menge Zeit. Wir bleiben hier, solange es uns gefällt.“ Er nimmt ohne Eile die zerdrückte Schachtel West vom Tisch, klopft sich eine Zigarette heraus und steckt sie sich zwischen die Lippen. „Willst?“
„Nein, ich rauche nicht.“ Als Kind hatte er schon mal probiert zu rauchen, heimlich mit Freunden hinter der Turnhalle. Es hatte ihm jedoch nicht geschmeckt. Mit zwölf Jahren war er zu jung dafür gewesen und später verbot es sich von selbst wegen der beginnenden Wucherungen.
Im Bahnhof rauchen? Krass. Erasmus zieht die Stirn in Falten. Träume ich nicht von Klaus, kommt es ihm wieder in den Sinn. Der rauchte auch im Krankenhaus, obwohl es verboten war und war ganz cool dabei.
„Dass du nicht rauchst, Muste, ist eine prima Sache. Du sparst eine Menge Geld und man lebt auch länger.“ Seinen Seufzer und den Spruch: Allerdings nicht jeder, kann Erasmus mit Mühe unterdrücken.
Nachdem Linus die Zigarette aufgeraucht und den Stummel auf dem Fußboden zerdrückt hat und Erasmus‘ Dose ebenfalls leer ist, verlassen beide den Bahnhof. Es ist kühler geworden, aber Erasmus ist vom Alkohol aufgeheizt. Ob ich schon betrunken bin, geht es ihm durch den Kopf, denn er glaubt zu sehen, wie der Bahnhof sich hinter ihnen wie ein Kreisel dreht und sich allmählich im Nichts auflöst. Es dauert einen Augenblick, bis er sich wieder gefasst hat und sich Linus zuwendet.
„Was war nun bei deiner Arbeit los? Wieso bist du entlassen worden?
„Also, heute nach unsrer Arbeit, wir malen einen Neubau aus, fragte mich mein Boss mit seinem immer so schmierigen Grinsen, ob ich mir noch son Hunderter oder zwei dazuverdienen mag. Also einfach so auf die Hand. Ich ahnte schon, was es wieder einmal gibt, aber ich hatte keine Lust mehr, bei seinen Schweinereien mitzumachen.“
„Schweinereien?“
„Ja, halt abräumen, einsacken, klauen eben.“ Für Erasmus eine unbekannte Welt. „Ist halt so. Auf dem Bau wird schon mal was abgestaubt, kommt vor. Mal ne Bohrmaschine, die jemand liegengelassen hat, oder Werkzeug. Auch mal Isolationsmaterial oder ne Rolle elektrische Kabel. Kleinkram halt. Doch ein restauriertes Treppengeländer vom Erdgeschoss rauf bis zum vierten Stock einsacken und woanders verscherbeln, ist schon was anders. Es gehörte zu einem abgerissenen Altbau, war bestimmt über hundertfünfzig Jahre alt, hatte ich gehört. Es sollte in dem Haus aufgestellt werden, wo wir arbeiten. Lag in Folie verpackt im Erdgeschoss. Das bringt schon einige Riesen. Klauen schon mal, aber Diebstahl? Da hört es bei mir auf.“ Linus wirft die Zigarette, die er angeraucht hat, ärgerlich im hohen Bogen von sich. Erasmus ist sich nicht sicher, ob es einen Unterschied zwischen Klauen und Diebstahl gibt. „Ich bin doch kein beschissener Krimineller!“ Linus spuckt der Zigarette hinterher. „Der andre wollte unbedingt mitmachen, ist sowieso gehirngeschädigt. Der stand schon mit unserm Kleinlaster vorm Haus. Hat mich am Arm festgehalten und mich angeschrien, ich soll ja mitspieln, wäre ja sonst nich zimperlich beim Klauen. Da hab ich ihm eine voll in die Fresse gehaun.“
„Uii, toll Nuss, das hätte ich genauso gemacht“, lobt ihn Erasmus, obgleich er selbst sicherlich niemals jemanden schlagen würde und schon gar nicht ins Gesicht.
„Ja, später kam noch mein bepisster Boss dazu und die Schlägerei hätte beinahe begonnen. Na, wer sich mit mir anlegt, der hat schon von vornherein verloren. Das haben die beiden dann wohl auch eingesehen.“ Die Armmuskeln blicken bedrohlich aus dem kurzärmligen Hemd hervor. Linus lacht laut auf. Erasmus kann sich vorstellen, wie die Schlägerei ausgegangen wäre.“
„Ich bin einfach abgehaun vollgestopft mit Wut über die verkehrte Welt, in der es immer lediglich die Scheißer zu etwas bringen und ich Blödian einen Hunderter oder mehr ausgeschlagen habe, wegen Ehrlichkeit oder son Scheiß, was es sowieso nich gibt. Aber ich war mit mir zufriedn und hatte mir grad ne superscharfe Currywurst und ein Bier zum Runterkühlen gegönnt, als ich dich traf.“ Linus Miene ist hart geworden, seine Augen sprühen Feuer.
„Bei so etwas hätte ich auch bestimmt nicht mitgemacht. Ich find das richtig gut von dir“, versucht Erasmus den Aufgebrachten zu beruhigen. Dabei legt er Linus als Bestätigung vorsichtig die Hand auf die Schulter. Es ist das erste Mal, dass er jemandem die Hand auf die Schulter legt. Das tut gut. Allerdings kann er sich nicht vorstellen, überhaupt jemals in eine derartige Situation zu geraten. Alles eine fremde Welt für einen, der allein das Krankenhausleben kennt.
Inzwischen sind die beiden vor einem heruntergekommenen, mit Graffiti beschmierten Eckhaus angekommen, an dem im Untergeschoss die Neonwerbung ‚Bei-Bernd‘ flackernd leuchtet. Die erhellten Fenster verbreiten eine wohlige Gemütlichkeit. Beim Betreten wird Linus vom Wirt mit einem Hallo begrüßt. Erasmus kann den Geruch nicht identifizieren, der ihn umgibt, nur Pizza ist herauszuriechen. Er bekommt gleich wieder Appetit.
„Zwei Bier, aber sauber gezapft und zwei mega kalte Steinhäger“, schleudert Linus zur Theke und schiebt Erasmus dabei auf eine Eckbank. „Es ist leider eine Tatsache, Muste. Die Reichen werden immer reicher und wir arme Schlucker immer ärmer. Der Chef von Amazon verdient pro Stunde rund vier Millionen Dollar. Das hab ich vom Fernsehen.“ Linus ist immer noch bei den Ungerechtigkeiten der Welt. „Mann, sogar wenn der pennt! Stell dir das mal vor! Und ich krieg noch nich mal den scheiß Minimallohn, weil ich unbezahlte Überstunden machen muss. Denk mal, was ich für meine Bruchbude hinlegen muss? Vierhundert Riesen kalt. So was Beschissenes, aber der Vermieter fährt nen dicken Mercedes.“ Während sich Linus immer weiter ereifert und einen roten Kopf bekommt, werden die zwei Biere und die Steinhäger vor ihnen vom Wirt auf den Tisch gestellt.
„Hier kommt schon euer Frühschoppen, zum Wohle!“, grinst er die beiden an.
„Es ist nun mal so, die Welt kann man bloß noch besoffn ertragen. Prost Muste!“ Als Erasmus das eiskalte Steinhäger-Glas in der Hand hält, weiß er, dass er den Inhalt nicht vertragen wird, aber er kippt das Nass mit Todesverachtung hinunter, wenn ihm auch nur kleine Schlucke gelingen. Ob ich hier abkratze, denkt er trotzig, oder im Krankenhaus, das ist mir egal. Tot ist tot, doch hier machts wenigstens Spaß. Ihm wird schwarz vor Augen. Linus schaut seinen neuen Freund besorgt an.
„Mach ruhig langsam, wir haben alle Zeit der Welt und erzähl mal was von dir.“
„Also weißt du, ich bin heute Abend einfach vom Krankenhaus abgehauen. Der Erste, den ich getroffen habe, warst du. Eigentlich sollte ich bloß etwas spazieren gehen, um frische Luft zu schnappen, und nun bin ich bei dir hängen geblieben. Lustig, denn deine Story ist nämlich ähnlich wie meine. Du bist der Erste, den ich getroffen habe.“
„Mann, Muste, is ja saucool. Bist krank? Was haste denne? Ich hab gleich gemerkt, mit dir stimmt was nich. Du, ich finds geil, dass du vom Krankenhaus abgehaun bist. Son Krankenhaus ist ja wohl auch die langweiligste Sache der Welt. War da mal etwa eine Woche, als ich bei der Arbeit von der Leiter gefallen war, jede Menge Prellungen und ne Gehirnerschütterung hatte. Mir war zwei Tage sauschlecht. Ich durfte drei Tage lang kein Fernsehen oder was lesen.“
„Ja, du hast recht, krank sein verdirbt einem die Freude am Leben.“ Erasmus stürzt den Rest vom Steinhäger mit Todesverachtung herunter, und als er Bier hinterherschüttet, schmeckt es sogar etwas.
„Woher hast eigentlich die verrückten Klamotten, sind das deine?“
„Nein, die habe ich von meinem Pfleger, der mich aus dem Krankenhaus herausgelassen hat.“
„Hast denn keine eignen?“
„Nein, nicht mehr“, seufzt Erasmus. „Meine Eltern haben mir anscheinend keine neuen mehr ins Krankenhaus gebracht und die alten sind wohl in der Wäsche.“
„Na ja, für ein paar Stunden ists ja okay, Prost Muste.“ Erasmus blickt verstohlen auf Heins Uhr. Halb vier! Wie schnell die Zeit vergeht. Wie weit ist es wohl von hier bis zum Krankenhaus? Erasmus beginnt zu rechnen. Bis zum S-Bahnhof waren es etwa fünf Minuten und bis hierher beinahe fünfzehn. Also alles noch nicht mal eine halbe Stunde. Wenn ich in einer Stunde aufbreche, reicht es bestimmt.
An das Bier hat er sich etwas gewöhnt, eine Riesenpizza, die sie sich teilen wollen, ist bestellt und die nächste Runde Bier geht auf ihn. Er hat ja das Geld von Hein. Von seiner Krankheit will er nicht sprechen, dafür hört er gerne, was sein Freund alles treibt. Der erzählt von seiner Arbeit als Maler, wie er seine Freizeit mit Freunde treffen oder Fußball verbringt und berichtet stolz vom Muskeltraining.
„Das mache ich zur Selbstverteidigung. In der Schule bin ich oft verkloppt worden, das soll mir nicht mehr passieren. Außerdem stehn die Frauen auf nen Sixpack. Ich hatt schon eine beste Freundin, aber die hat mich vor Kurzem verlassen. Oder ich sie“, grübelt er. „Hast du ne Freundin, Muste?“
Das war ein wunder Punkt bei Erasmus. Er mochte Mädchen, jedoch hatte es noch nicht bis zu einer wirklichen Freundin gereicht, dafür war er zu oft im Krankenhaus gewesen. Wenn es ihm gut ging, schämte er sich wegen seiner verschwundenen Haare und seiner erbärmlichen Gestalt. Nein, attraktiv für Mädchen war er wirklich nicht. Da blieb er lieber zu Hause.
„Schon, im Augenblick aber nichts Festes.“
„Macht nix, gibt genug davon.“ Linus erzählt von seinem Traum, Malermeister zu werden, und was dabei alles nicht wirklich einfach ist, wenn man nur den Hauptschulabschluss hat. „Ja, umsonst ist es eben auch nicht. Da braucht man schon echt Knete, um es zum Meister zubringen. Und die habe ich nicht.“ Die Pizza kommt und sie schmeckt beiden. „Wann musste denn wieder im Krankenhaus sein? Ich bring dich lieber nachher hin, sonst findest du‘s nicht mehr.“ Das vernimmt Erasmus nur wie durch einen Schleier. Warum, dass weiß er nicht, er kann nicht mehr richtig artikulieren. Der Unterkiefer will nicht mehr. Alles verschwimmt um ihn und es scheint, als gleite er immer weiter weg von Linus.
„Nein, ich habe noch Zeit, unterhalten wir uns noch etwas. Erzähle mal von deiner Verflossenen. Wie war die so im Bett?“, bringt er gerade noch mit Stottern hervor. Ein Mädchen neben mir im Bett, ein Traum, der für mich ausgeträumt ist. Doch hören möchte ich gerne davon, möglichst viel, damit ich mir wenigstens vorstellen kann, wie das so ist, denkt Erasmus.
„Oh Mann, was du für Fragen stellst. Hoffentlich bekommst keine Probleme nachher im Krankenhaus, wenn du dort voll besoffn ankommst.“
Erasmus lächelt. Er ist seit ewiger Zeit wieder glücklich. Es ist wunderbar, wie sich alles um ihn zu drehen beginnt, erst langsam, bald immer schneller. Dazu noch in Farbe. Er will seinen neuen Freund neben sich fühlen, ihn nicht verlieren. Obwohl ihm die Worte immer mehr wegrutschen, versucht er weiter zu sprechen, auch wenn es nur noch ein Stammeln ist. „Egal. Die im Krankenhaus können warten, bis sie schwarz werden. Heute will ich mich endlich einmal besaufen.“ Besaufen hat er zum ersten Mal in den Mund genommen, denn er weiß, wie es weitergeht, wenn er wieder im Krankenhaus ist. Das will er unbedingt vergessen. Nie wieder Krankenhaus, schwört er sich. In diesem Augenblick erinnert er sich an Hein und an sein Versprechen. Doch er muss zurück. Aber noch nicht sofort. „Noch eine Runde du, Nuss, du Haselnuss, dann muss ich wirklich los.“ Es ist ein letztes Stolpern über Worte. Er hört noch, wie Linus die Order zum Wirt ruft und fühlt, wie sich dessen Arm um seine Schultern legt. Er will noch etwas zu ihm sagen, jedoch entgleitet ihm die Sprache endgültig.
Nur etwas ausruhen, bevor das Bier kommt, sagt er sich, während Linus leise weiterspricht, bis sich die Worte allmählich irgendwo verlieren.