Читать книгу Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells - Страница 4
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ОглавлениеJene Ruinen waren gut zweitausend Jahre alt.
Sie waren die Überreste einer kleinen alten Stadt, die ein Eisenbahnknotenpunkt von einiger Bedeutung gewesen war, und eines Eisenbahntunnels durchs Gebirge. Der Tunnel war eingestürzt, aber man war bei den Ausgrabungen hindurchgedrungen und hatte mehrere zerstörte Züge gefunden, die offenbar dicht von Soldaten und Flüchtlingen besetzt gewesen waren. Die Überreste dieser Menschen, von Ratten und anderm Ungeziefer zernagt, lagen in den Eisenbahnwagen und auf den Schienen. Augenscheinlich war der Tunnel mit Sprengstoffen verbarrikadiert gewesen und hatte die Züge samt den Insassen begraben. Später war die Stadt selbst und alle ihre Einwohner durch ein Giftgas vernichtet worden; welche Art von giftigem Gas man dabei verwendet hatte, sollte von den emsig arbeitenden Forschern erst festgestellt werden. Es hatte eine ungewöhnlich konservierende Wirkung ausgeübt, so daß viele der Leichname mehr Mumien als Skelette waren; und in vielen Häusern fanden sich Bücher, Papiere, Gegenstände aus Papiermaché und Ähnliches recht gut erhalten vor. Sogar wohlfeile Baumwollstoffe waren unversehrt geblieben, nur hatten sie alle Farbe verloren. Nach der Katastrophe war die Gegend offenbar einige Zeit hindurch ganz unbewohnt geblieben, und ein Erdrutsch hatte den tiefer gelegenen Teil des Tales versperrt, das Gewässer abgedämmt und Stadt und Tunnel unter einer Schlammschicht begraben. Nun hatte man die Erd- und Schlammmassen durchbrochen und dem Flußlauf seine ursprüngliche Richtung wiedergegeben, und dabei waren die Spuren eines der charakteristischen Unglücksfälle aus der letzten Kriegsperiode der Menschheitsgeschichte ans Tageslicht gefördert worden.
Auf die sechs Ferienwanderer machte die Besichtigung des Ortes einen starken, ja fast allzu erschütternden Eindruck. Sarnac besonders, der immer noch an Übermüdung litt, fühlte sich tief ergriffen. Man hatte das in der Stadt gesammelte Material geordnet und in einem aus Glas und Stahl erbauten Museum untergebracht. Viele der Leichname waren vollständig erhalten; eine kranke alte Frau, durch das Gas mumifiziert, war in das Bett zurückgelegt worden, aus dem die Wasserfluten sie herausgeschwemmt hatten; das eingeschrumpfte Körperchen eines Säuglings lag in einer Wiege. Die Bettlaken und Decken waren ausgebleicht und verfärbt, doch konnte man sich ganz gut vorstellen, wie sie einst ausgesehen haben mochten. Die Leute waren offenbar überrascht worden, während sie das Mittagsmahl zubereiteten; in vielen Häusern war eben der Tisch gedeckt gewesen. Nun hatte man die alten maschinengewebten Tischtücher und die plattierten Eßbestecke, die zwei Jahrtausende unter Schlamm, Schilf und Fischen verborgen gelegen hatten, wieder hervorgeholt und auf den Tischen geordnet; es waren große Mengen solchen traurigen, verfärbten Geräts aus dem entschwundenen Leben der Vergangenheit zu sehen.
Die Ferienwanderer gingen nicht sehr weit in den Tunnel hinein. Der Anblick, der sich hier bot, war ihnen zu schrecklich; Sarnac stolperte über eine Schiene und zerschnitt sich an den Scherben eines zerbrochenen Waggonfensters die Hand. Die Wunde schmerzte ihn später und heilte nicht schnell genug. Offenbar war irgend ein Gift in sie gedrungen, und sie ließ ihn nachts nicht schlafen.
Den ganzen Tag sprachen die sechs von den Schrecken der letzten Kriege, die die Welt gesehen hatte, und von dem Elend des Daseins in jenem Zeitalter. Iris und Stella meinten, das Leben damals müsse kaum zu ertragen gewesen sein, müsse von der Wiege bis zum Grabe aus nichts als Haß, Schrecken, Mangel und Unbehagen bestanden haben. Beryll hingegen vertrat die Ansicht, daß die Menschen damals nicht unglücklicher und nicht glücklicher gewesen seien als er selbst. Es gebe, behauptete er, in jedem Zeitalter einen Normalzustand; jede Erhebung des Gefühls oder der Hoffnung darüber hinaus bedeute Glück, jedes Hinabsinken unter das Durchschnittsmaß Unglück; es komme dabei nicht darauf an, wie der Normalzustand beschaffen sei. »Jene Menschen erfuhren in der einen wie in der andern Hinsicht starke Erschütterungen«, sagte er. Wohl habe es in ihrem Leben mehr Dunkelheit und mehr Schmerz gegeben, trotzdem seien sie alles in allem nicht unglücklicher gewesen. Heliane neigte zur gleichen Ansicht.
Salaha jedoch erhob Einwände gegen Berylls psychologische Betrachtung. Sie sagte, ein kranker Körper oder ein Leben unter verhaßtem Zwang könne ein andauerndes Niedergedrücktsein des Gemüts verursachen. Es könne vorwiegend unglückliche Geschöpfe geben, so wie es vorwiegend glückliche gebe.
»Gewiß,« warf Sarnac dazwischen, »sobald sie nämlich einen Idealzustand zu erstreben beginnen.«
»Warum nur führten sie solche Kriege?« rief Iris. »Warum taten sie einander so Schreckliches an? Sie waren doch Menschen wie wir.«
»Nicht besser«, sagte Beryll, »und nicht schlechter. So weit es sich um die natürliche Veranlagung handelt. Keine hundert Generationen trennen uns von ihnen.«
»Sie hatten einen ebenso großen und ebenso wohlgeformten Schädel wie wir.«
»Die Ärmsten in dem Tunnel!« sagte Sarnac. »Wie schrecklich, auf solche Weise in einem Tunnel eingeschlossen zugrunde zu gehen! Dabei scheint mir, es müsse sich damals jeder dauernd so gefühlt haben, als sei er in einem Tunnel eingeschlossen.«
Inzwischen war ein Gewitter heraufgezogen, das ihr Gespräch unterbrach. Sie wollten über einen nicht sehr hohen Gebirgspaß zu einem Gästehaus am oberen Ende des Sees und gerieten unweit der Paßhöhe in das Unwetter. Es gab einige heftige Donnerschläge, und keine hundert Schritt von ihnen entfernt wurde eine Tanne vom Blitz getroffen. Sie jubelten bei dem herrlichen Anblick. Der tosende Aufruhr der Elemente erfüllte sie mit Freude. Der Regen peitschte ihre kräftigen, nackten Körper, ein Windstoß um den andern machte sie taumeln, lachend und atemlos waren sie immer wieder genötigt, stehen zu bleiben. Es war nicht leicht, den Weg zu finden; eine Zeitlang hatten sie die an Bäumen und Felsen angebrachte Markierung verloren. Das Unwetter ging schließlich in einen gleichmäßigen Regenguß über, und sie platschten stolpernd den von Gischt bedeckten Felsenpfad hinunter, ihrem Ziel entgegen. Erhitzt und naß, als ob sie eben aus dem Bade gestiegen wären, langten sie an; nur Sarnac, der mit Heliane hinter den andern zurückgeblieben war, fühlte sich müde und fror. Der Leiter des Gästehauses schloß die Fensterladen, machte ihnen mit Holz und Tannenzapfen ein Feuer an und bereitete ein warmes Nachtessen.
Bald kam das Gespräch wieder auf die ausgegrabene Stadt und die eingeschrumpften Leichname, die nun im Scheine des elektrischen Lichtes innerhalb der Glaswände des stillen Museums lagen, gleichgültig fortan gegen den Sonnenschein wie gegen die Stürme des Lebens.
»Ob sie jemals lachten wie wir?« fragte Salaha. »Einfach aus Freude zu leben?«
Sarnac sprach wenig. Er saß dicht am Feuer, warf von Zeit zu Zeit Tannenzapfen in die Glut und betrachtete sie, wie sie aufflammten und knisternd verbrannten. Nach einer Weile erhob er sich, sagte, er sei müde, und ging zu Bett.