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»Und wie wurde das zufällig in die Welt gesetzte Kind für das Leben vorbereitet?« fragte Beryll. »Wurde es in einem Kindergarten erzogen?«

»Es gab damals keine Kindergärten, wie wir sie heute besitzen«, sagte Sarnac. »Man hatte sogenannte Elementarschulen, und eine solche besuchte ich, nachdem ich das sechste Lebensjahr vollendet hatte; meine Schwester Prudence brachte mich zweimal täglich hin.

Auch hier fällt es mir schwer, euch ein getreues Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. Unsere Geschichtsbücher berichten euch von den Anfängen einer allgemeinen Erziehung in jener fernen Zeit und von dem eifersüchtigen Groll der alten Priesterschaften und gewisser privilegierter Personen gegen die neue Art von Lehrern; doch können sie euch keine lebendige Vorstellung von den elend ausgestatteten Schulhäusern geben, in denen eine viel zu spärliche Zahl von Lehrpersonen wirkte, noch von der tapferen Arbeit dieser schlecht bezahlten und für ihre Aufgabe schlecht vorbereiteten Männer und Frauen, denen die Menschheit die ersten rohen Versuche auf dem Gebiete der Volkserziehung zu danken hat. In der Schule zu Cherry Gardens hatte ein hagerer, dunkelhaariger Mann, der immer hustete, die größeren Knaben unter sich, und ein sommersprossiges kleines Frauchen von etwa dreißig Jahren plagte sich mit den kleineren ab. Heute sehe ich ein, daß sie Märtyrer waren. Wie er geheißen, habe ich vergessen, der Name des kleinen Frauchens war Miß Merrick. Sie hatten riesengroße Klassen zu leiten und bewerkstelligten den Unterricht größtenteils mit Hilfe von Stimme und Gebärde und mit einer schwarzen Tafel, auf der sie mit Kreide schrieben. Ihre Ausstattung mit Lehrmitteln war erbärmlich. Die einzigen, die ihnen in genügender Menge zur Verfügung standen, waren abgegriffene schmutzige Lesebücher, Bibeln und Gesangbücher und eine Anzahl von kleinen Schiefertafeln in Holzrahmen, auf denen wir mit Griffeln schrieben, um Papier zu sparen. Zeichenmaterial hatten wir eigentlich gar nicht; die meisten von uns lernten niemals zeichnen. Ihr könnt es mir glauben! Viele normal entwickelte Erwachsene jener Zeit waren nicht imstande, auch nur eine Schachtel zu zeichnen. Es gab in jener Schule nichts, woran die Schüler hätten zählen lernen können; es gab auch keinerlei geometrische Modelle. Bilder waren nur sehr spärlich vorhanden: eines, das die Königin Victoria darstellte, und ein Blatt mit Tieren; zwei sehr vergilbte Landkarten von Europa und Asien waren um zwanzig Jahre veraltet. Die Grundregeln der Mathematik lernten wir, indem wir sie im Chor aufsagten. Wir standen in Reihen und leierten ein sonderbares Lied, das Einmaleins genannt:

›Einmalzwei–sinzwei,

zweimalzwei–sinvier,

dreimalzwei–sinsechs,

viermalzwei–sinacht.‹

Wir sangen auch im Chor – einstimmig – meist religiöse Hymnen. Die Schule besaß ein altes, aus zweiter Hand gekauftes Klavier, auf dem man unser Geheul begleitete. Als dieses Instrument erstanden wurde, gab es in Cliffstone und Cherry Gardens große Aufregung, man nannte den Kauf einen Luxus, eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen.«

»Eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen!« wiederholte Iris. »Es wird wohl stimmen. Aber es ist mir völlig unbegreiflich.«

»Ich kann euch nicht alles und jedes erklären«, sagte Sarnac. »Aber ihr dürft mir's glauben: England bedachte die Kinder seines eigenen Volkes mit einem äußerst dürftigen Unterricht und das nur widerwillig; übrigens verfuhren andere Länder ziemlich ähnlich. Man sah die Dinge damals ganz anders als heute. Die ganze Menschheit war besessen von der Idee des Wettbewerbs. Amerika, das sich eines viel größeren Wohlstands erfreute als England – so weit man in Bezug auf die damalige Zeit überhaupt von Wohlstand reden kann –, hatte wenn möglich noch schlechtere und schäbigere Schulen für die Masse des Volks ... Ja, meine Lieben! Ich sage euch, es war so. Ich bin daran, euch eine Geschichte zu erzählen, nicht euch das Universum zu erklären ... Selbstverständlich lernten wir Kinder trotz der hingebungsvollen Bemühungen so tapferer Menschen wie Miß Merrick sehr wenig und dieses Wenige schlecht. Der größte Teil meiner Erinnerungen an die Schulzeit bedeutet Langeweile. Wir saßen auf Holzbänken an abgenutzten Pulten, zahllose Reihen hintereinander. Ich sehe noch all die kleinen Köpfe vor mir – und ganz vorn stand Miß Merrick und versuchte, uns Interesse an den Flüssen Englands beizubringen:

›Tai. Weer. Tihsömber.‹«

»Hast du nun eben das getan, was man damals fluchen nannte?« fragte Salaha.

»Ach nein! Das ist Geographie. Und Geschichte war so:

›Willemdaroberer – tausendsechsundsechzig

Willemrufiß – tausendsiebnundachtzig.‹«

»Was hat das bedeutet?«

»Für uns Kinder? Ziemlich dasselbe, was es für euch bedeutet – Kauderwelsch. O die Stunden, diese nicht endenwollenden Stunden der Kindheit in der Schule! Wie endlos lange sie schienen! Habe ich gesagt, ich hätte in meinem Traume ein ganzes Leben durchlebt? In der Schule durchlebte ich Ewigkeiten. Selbstverständlich erfanden wir allerlei, um uns zu unterhalten. Wir zwickten oder pufften zum Beispiel unseren Nachbarn und sagten: ›Gib's weiter.‹ Oder wir spielten verstohlen mit kleinen Kugeln. Es ist komisch, wenn ich bedenke, daß ich nicht durch den Rechenunterricht, sondern durch das verbotene Kugelspiel zählen lernte, addieren, subtrahieren, und so weiter.«

»Aber was leisteten Miß Merrick und der hustende Märtyrer nun eigentlich?« fragte Beryll.

»Ach, sie konnten ja nicht, wie sie wollten. Sie waren in eine Maschine eingespannt. Es gab regelmäßige Inspektionen und Prüfungen, um festzustellen, ob sie sich an die Vorschriften hielten.«

»Der Singsang ›Willemdaroberer‹ und so weiter,« sagte Heliane, »das bedeutete doch etwas? Dem lag doch, wenn auch verborgen, irgendeine vernünftige oder halbwegs vernünftige Idee zugrunde?«

»Wohl möglich«, meinte Sarnac nachdenklich. »Ich habe sie aber nie entdecken können.«

Iris versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. »Du sagtest, es sei Geschichte gewesen ...?«

»Ja, ja«, bestätigte Sarnac. »Ich glaube, die Kinder sollten Interesse am Tun und Treiben der Könige und Königinnen von England gewinnen. Wahrscheinlich war das eine der langweiligsten Reihen von Monarchen, die die Welt je gesehen hat. Interessant wurden sie uns nur zeitweise, wenn sie Gewalttätigkeit an den Tag legten. Es gab da besonders einen Herrscher, den wir gerne mochten, Heinrich VIII. hieß er; der hatte eine derartige Liebesgier in sich und besaß dabei so viel Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe, daß er seine Gemahlin jeweils ermordete, bevor er die nächste nahm. Und dann gab es einen gewissen Alfred, der Kuchen backen sollte – ich weiß nicht, warum – und sie anbrennen ließ, was seinen Feinden, den Dänen, auf irgendeine rätselhafte Weise Schaden brachte.«

»Aber das kann doch nicht alles gewesen sein, was man euch an Geschichte lehrte!« rief Heliane.

»Königin Elisabeth von England trug eine Halskrause, und Jakob der Erste von England und Schottland küßte seine Günstlinge.«

»Aber Geschichte!«

Sarnac lachte. »Ja, es ist absonderlich. Nun, da ich wieder wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir's aber glauben, mehr wurde uns nicht gelehrt.«

»Erzählte man euch nichts über Anfang und Ende des Lebens, nichts über seine unendlichen Freuden und Möglichkeiten?«

Sarnac schüttelte den Kopf.

»In der Schule nicht«, sagte Stella, die offenbar noch gut wußte, was in ihren Lehrbüchern gestanden hatte. »Das geschah in der Kirche. Sarnac vergißt die Kirchen. Ihr müßt bedenken, daß jenes Zeitalter eines intensiver Religiosität war. Es gab allenthalben Stätten der Andacht. Ein ganzer Tag von sieben wurde der Betrachtung des Menschheitsschicksals und dem Studium der göttlichen Absichten gewidmet. Der Arbeiter feierte an diesem Tage. Von einem Ende des Landes bis zum andern war die Luft erfüllt vom Klange der Kirchenglocken und vom Gesang der Gläubigen. Lag darin nicht eine gewisse Schönheit, Sarnac?«

Sarnac lächelte sinnend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Unsere Geschichtsbücher bedürfen in dieser Hinsicht einer kleinen Revision.«

»Aber man sieht doch zahllose Kirchen und Kapellen auf alten Photographien und kinematographischen Bildern. Auch besitzen wir ja noch eine Menge der damaligen Kathedralen. Manche von ihnen sind recht schön.«

»Sie mußten allesamt gestützt, die Mauern mit Stahlklammern zusammengeheftet werden,« sagte Heliane, »weil sie nachlässig oder gewissenlos erbaut worden waren. Und sie stammen nicht aus Sarnacs Zeit.«

»Mortimer Smiths Zeit«, verbesserte Sarnac. »Sie wurden Jahrhunderte früher erbaut.«

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur

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