Читать книгу Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells - Страница 5
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ОглавлениеEs regnete die ganze Nacht und auch den nächsten Morgen bis gegen Mittag, dann heiterte sich das Wetter auf. Am Nachmittag wanderte die kleine Gesellschaft weiter, das Tal aufwärts gegen die Berge, die bestiegen werden sollten. Man ging gemächlich und gönnte sich einen und einen halben Tag für eine Strecke, die eigentlich leicht an einem Tag zurückgelegt werden konnte. Der Regen hatte alles erfrischt, und eine Fülle von Blumen war aufgeblüht.
Der folgende Tag war heiter und sonnig.
Am frühen Nachmittag gelangten sie zu einer von Asphodillen besäten Wiese auf einem Plateau und lagerten sich dort, um den mitgebrachten Proviant zu verzehren. Sie waren nur zwei Stunden von dem Schutzhaus entfernt, in dem sie die Nacht verbringen wollten, es bestand darum kein Grund, gleich weiter zu wandern. Sarnac war träge und gestand, daß er Lust verspüre, zu schlafen. Er hatte in der Nacht etwas Fieber gehabt, und Träume von verschütteten und durch Giftgas getöteten Menschen hatten ihn gequält. Die anderen waren belustigt über den Einfall, am hellen Tag schlafen zu wollen, Heliane aber sagte, sie werde seinen Schlummer behüten. Sie suchte ihm einen Platz im Gras, Sarnac legte sich neben ihr nieder und schlief, an sie gelehnt, so plötzlich und vertrauensvoll ein wie ein Kind. Und wie die Wärterin eines Kindes saß sie an seiner Seite und bedeutete den anderen, keinen Lärm zu machen.
»Nach diesem Schlaf wird er gesundet sein«, sagte Beryll lächelnd und stahl sich mit Iris davon, während Salaha und Stella in die andere Richtung gingen, um einen nahegelegenen Felsvorsprung zu erklettern, von wo aus sie einen umfassenden und vielleicht sehr schönen Ausblick auf die Seen unten zu gewinnen hofften.
Einige Zeit lag Sarnac ganz still, dann begann er sich im Schlafe unruhig hin und her zu bewegen. Heliane neigte ihr warmes Antlitz aufmerksam zu dem seinen hinab. Er wurde wieder ruhig, bewegte sich aber bald aufs neue und murmelte etwas, doch waren keine Worte zu unterscheiden. Dann warf er sich heftig herum, schlug mit den Armen um sich und sagte: »Ich kann es nicht ertragen. Nein, ich kann nicht! Es ist aber nicht mehr zu ändern. Du bist beschmutzt und entehrt für alle Zeit.« Heliane faßte ihn sanft und legte ihn wieder bequem zurecht, wie eine Mutter ihr Kind. »Liebste«, flüsterte er und griff im Schlafe nach ihrer Hand ...
Als die anderen zurückkamen, war er eben erwacht.
Er saß aufrecht mit verschlafenem Gesicht, und Heliane kniete neben ihm, die Hand auf seiner Schulter. »Wach auf!« sagte sie.
Er sah sie an, als ob er sie nicht kennte, dann blickte er verdutzt auf Beryll. »Es gibt also noch ein Leben!« sagte er schließlich.
»Sarnac!« rief Heliane und schüttelte ihn. »Kennst du mich denn nicht?«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ja«, sagte er zögernd. »Dein Name ist Heliane. Ich weiß schon. Heliane ... nicht Hetty – – nein. Obgleich du Hetty sehr ähnlich bist. Sonderbar! Und ich – ich heiße Sarnac.
Ja, gewiß! Ich bin Sarnac.« Er lächelte Salaha zu. »Ich meinte aber, ich sei Harry Mortimer Smith. Wahrhaftig! Vor einem Augenblick noch war ich Harry Mortimer Smith ... Harry Mortimer Smith.«
Er blickte um sich. »Berge,« sagte er, »Sonnenschein und weiße Narzissen. Jawohl – wir gingen heute vormittag hier herauf. Bei einem Wasserfall spritzte Clelia mich an ... Ich erinnere mich ganz genau ... Trotzdem lag ich eben in einem Bett – erschossen. Ich lag in einem Bett ... Ein Traum? ... Dann habe ich ein ganzes Menschenleben geträumt, ein Leben, das sich vor zweitausend Jahren abspielte!«
»Was meinst du nur?« fragte Heliane.
»Ein ganzes Leben – Kindheit, Jugend, Mannesalter. Und Tod. Er tötete mich. Der arme Teufel! – Er tötete mich!«
»Ein Traum?«
»Ja, ein Traum – aber ein äußerst lebendiger Traum. Der wirklichste der Träume, den man sich denken kann. Wenn es ein Traum war ... Nun kann ich alle deine Fragen beantworten, Heliane. Ich habe ein ganzes Leben durchlebt in jener alten Welt. Ich weiß ...
Es ist mir immer noch so, als wäre jenes Leben die Wirklichkeit und dieses hier nur ein Traum ... Ich lag im Bett. Vor fünf Minuten noch befand ich mich in einem Bett. Ich lag im Sterben ... Der Arzt sagte: ›Es geht zu Ende.‹ Und ich hörte noch, wie meine Frau durchs Zimmer auf mich zukam ...«
»Deine Frau!« rief Heliane.
»Ja – meine Frau – Milly.«
Heliane blickte mit hochgezogenen Augenbrauen und hilflosem Ausdruck zu Salaha hinüber.
Sarnac starrte sie in traumhafter Verwunderung an. »Milly«, wiederholte er ganz leise. »Sie stand am Fenster.«
Einige Augenblicke lang sprach niemand.
Beryll stand, den Arm um Iris' Schulter gelegt.
»Erzähle uns mehr davon, Sarnac. War es schlimm, zu sterben?«
»Es war mir, als sänke ich hinab, immer tiefer, in einen ganz stillen Raum – und dann erwachte ich hier oben.«
»Erzähle es uns, solange es noch als lebendige Wirklichkeit vor dir steht.«
»Wollten wir nicht das Schutzhaus vor Anbruch der Nacht erreichen?« sagte Salaha mit einem Blick nach der Sonne.
»Fünf Minuten von hier entfernt steht ein kleines Gästehaus«, meinte Iris dagegen.
Beryll setzte sich neben Sarnac. »Erzähl' uns deinen Traum gleich. Wenn dir die Erinnerung daran schwindet oder deine Erzählung uns nicht interessiert, gehen wir weiter; fesselt sie uns aber, so hören wir dich hier zu Ende und übernachten in dem kleinen Hause. Der Platz hier ist schön, die grauvioletten Felsen mit dem leichten Nebeldunst in den Spalten sind so herrlich, daß ich sie eine Woche lang betrachten könnte, ohne zu ermüden. Erzähl' uns deinen Traum, Sarnac.«
Er schüttelte den Gefährten. »Wach auf, Sarnac!«
Sarnac rieb sich die Augen. »Es ist eine so seltsame Geschichte. Und so vieles wird zu erklären sein.«
Er dachte eine Weile nach.
»Es ist eine lange Geschichte.«
»Das versteht sich, wenn sie einen ganzen Lebenslauf schildert.«
»Ich will erst für uns alle Rahm und Obst aus dem Gästehaus herbeiholen,« sagte Iris, »dann möge Sarnac mit seiner Erzählung beginnen. Fünf Minuten nur, und ich bin wieder da.«
»Ich komme mit«, sagte Beryll und eilte ihr nach.
Was nun folgt, ist die Geschichte, die Sarnac erzählte.