Читать книгу Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain - Herbert Seibold - Страница 6
PROLOG
ОглавлениеDer Geschäftsführer Doktor Muniel wachte aus einem bösen Albtraum auf. Im Traum hatte er sich im dichten Nebel verirrt. Er befand sich nahe einer Schlucht, die in einen dunklen Schlund führte. Plötzlich stand vor ihm eine weiße Gestalt mit einem Zauberstab, die auf ihn zeigte und ihn mit roten Schlangenaugen anstarrte. Mit einem Schrei wachte er auf und erschrak zugleich ein zweites Mal. Sein Blick nach links und rechts versetzte ihn sogar in Panik. Er sah Infusionsständer und hörte stampfende Geräusche wie von Respiratoren. Das kam ihm zwar bekannt vor, beruhigte ihn aber nicht. Sein Herz begann heftig zu rasen, als die Tür aufging und ein Schwarm von Ärzten direkt an sein Bett trat. „Diese Weißkittel“, stöhnte er sogleich, als er mehrere Gesichter erkannte. Schlagartig war er wach. Er, der große Geschäftsführer dieser Klinik, lag jetzt wohl selbst als Patient vor seinen ihm unterstellten Mitarbeitern wie – so fand er – ein Ausstellungsstück im Bett. „Es ist zum Wahnsinnigwerden! Das Letzte, was mir passieren durfte!“, stöhnte er schon etwas lauter.
Die „Weißkittel“ drehten alle gleichzeitig die Köpfe zu ihm. Einige rückten ihre Lesebrillen zurecht, einige hoben nur ihre Augenbrauen, wieder einige blickten zu Boden, andere kramten geschäftig in den Akten. Visite, für ihn eine beunruhigende, ja unwirkliche Situation. Dazu roch es wie üblich nach Desinfektionsmitteln und Urin. Er griff an seinen Mund. Zum Glück hatte er keinen Beatmungsschlauch im Hals stecken. „Gott sei Dank“, flüsterte er fast lautlos.
An seinem Unterarm hing eine Infusionslösung – es handelte sich um das Medikament Wabo, das bei drohendem Leberversagen und Leberkoma eingesetzt wurde.
Sein irrender Blick fixierte jetzt die Visitenteilnehmer. Eine ganze Menge. In der hinteren Ecke entdeckte er einen unrasierten Pfleger mit einem Vollmondgesicht und Halbglatze mit Dauergrinsen, wie er ihn kannte. Der heißt doch Mario! Den habe ich doch erst kürzlich am Vordereingang der Klinik zur Rede gestellt, warum er den ganzen Tag nichts täte, außer zu rauchen! Mario indessen schäkerte ungeniert mit der Stationsschwester Erika, einer vierzigjährigen, früh ergrauten Frau mit ältlicher und irgendwie farbloser Ausstrahlung. Ich werde ihm jetzt endgültig eine Abmahnung schicken! Ruhe würde ich am liebsten brüllen und Benehmt euch gefälligst!
Der Geschäftsführer verkroch sich jetzt aber lieber unter der Decke und stöhnte: „Was ist denn nur mit mir passiert?“ Er lauschte seiner inneren Stimme und redete mit sich selbst.
Professor Pfeiferlich, ein eleganter, schlanker, fünfzigjähriger, leicht ergrauter Arzt mit bunter Krawatte erläuterte mit leiser Stimme seinen Mitarbeitern die Befunde und die Differenzialdiagnosen. Doktor Muniel hob leicht die Decke an und wollte doch wieder zuhören. Das beruhigte ihn aber auch nicht – er zitterte jetzt sogar. Muniel murmelte unüberhörbare, aber unverständliche Sätze.
„Halluziniert der?“, mokierte sich Pfleger Mario hinter vorgehaltener Hand. Der Geschäftsführer streckte jetzt den Kopf wieder ganz aus der Decke. In den Gesichtern konnte er nichts Erhellendes lesen. Vielleicht wirkten sie jetzt eher verstört. Sie spürten wohl seine aufkommende Wut.
„Es ist zum Kotzen“, hörten ihn jetzt die Vorderen. „Hat mir jemand ein falsches Medikament gegeben?“
Professor Pfeiferlich runzelte bedenklich die Stirn und unterbrach seine erklärenden Worte. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich und unsicher und das bei seiner Chefvisite!
Doktor Muniel setzte noch eins drauf, als er jetzt laut losbrüllte: „Herr Professor Pfeiferlich! Reden wir ab jetzt Klartext.“ Seine Stimme klang wie gewohnt unangenehm kalt und hart. Seine Augen starrten dabei ins Leere. Das Knistern und Rascheln der Akten verstummte unmittelbar. Nichts war zu hören außer seiner eigenen Eisesstimme: „Ich bin wohl das, was Sie einen komplizierten Fall nennen. Nichts für ein Provinzkrankenhaus. Ich sehe hier vor mir nur ein Kaleidoskop des Schreckens. Oder haben Sie etwa wie das berühmte blinde Huhn schon des Rätsels Lösung meines ‚Falles‘ gefunden? Wollen Sie wirklich wochenlang nutzlose und kostspielige Untersuchungen bei mir durchführen und mich am Ende dann doch moribund in die Universitätsklinik verlegen? Kommt gar nicht infrage!“
„Herr Doktor Muniel“, erwiderte der Chefarzt der Inneren Abteilung mit dem Schwerpunkt Magen-Darm- und Lebererkrankungen und straffte demonstrativ den Rücken: „Lassen Sie mich zuerst etwas prüfen. Geben Sie mir bitte Ihre Hand.“ Er ergriff Muniels Hand und überstreckte sein Handgelenk. In einem flatternden Rhythmus bewegte es sich.
„Was ist das, Doktor Gscheidle?“
„Flapping tremor, Herr Professor“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ein Zeichen von Leberversagen.“
„Richtig, mein kluger Schwabe“, kommentierte der Chefarzt, sich zu seinen anderen Assistenten umdrehend. Er fuhr zu Doktor Muniel gewandt fort: „Der Wunsch des Patienten ist immer unser oberstes Gebot. Wir Ärzte können und müssen uns in andere Menschen hineinversetzen, anders, als wir es von gewissen Bürokraten, nicht nur bei den Behörden und den Politikern, gewohnt sind.“ Der Chefarzt verzog dabei keine Miene. Er wirkte jetzt wie eine Führungskraft, die keinen Widerspruch duldete, aber auch ein wenig gekränkt.
Kurt Muniel hingegen zuckte kurz zusammen, hob die Augenbrauen, schwieg aber, so überrascht war er ob der versteckten Unverschämtheit.
Der Chefarzt fuhr fort: „Zugegeben, auch ich würde nicht so gern im eigenen Krankenhaus behandelt werden. Sie haben ja vor Ihrem Studium der Betriebswirtschaft ebenfalls Medizin studiert, sodass wir jetzt ganz wie unter uns Pfarrerstöchtern sprechen können. Sie leiden an einer seltsamen und sehr ungewöhnlichen Lebererkrankung. Nach dem Ultraschallbefund, auf dem ich unspezifische Veränderungen mit lokalen Fettansammlungen in den Leberzellen und Verdichtungen sah, deren Ursprung länger zurückliegen dürfte, kommen mehrere Differenzialdiagnosen in Betracht. Die Befunde der Blutuntersuchung legen eine infektiöse Hepatitis C nahe. Aber wegen der Unwahrscheinlichkeit einer Ansteckung durch Hepatitis-Viren – Sie geben ja niemandem die Hand – und da Sie auch keine Blutübertragungen bekommen haben, ziehe ich eine weite Palette von Möglichkeiten in Betracht, selbst eine Vergiftung mit toxischen Substanzen ist möglich. Ihre Gereiztheit – Ihre heute besonders heftige Gereiztheit – und die extreme Müdigkeit haben mit einem drohenden Leberversagen zu tun. Der Ammoniakgehalt im Blut war stark erhöht, weil die Leber die Substanz verzögert in Harnstoff umwandelte. Mein Privatassistent hier Doktor Gscheidle aus Ulm kam vor zwei Tagen zu mir und sprach von einem ‚Läbergeruch‘. Sie waren kurz vor einem Leberversagen. Deshalb die speziellen Infusionen am Arm. Es scheint mit Ihnen aber objektiv aufwärtszugehen, die erhöhten Leberwerte im Blut gehen schon zurück. Alles wird wahrscheinlich gut. Um auf Ihr Anliegen zurückzukommen: Wenn Sie einverstanden sind, verlege ich Sie zu meinem Kollegen und Freund an der Universität Frankfurt am Main, Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Prätorius, einem exzellenten Leberspezialisten von internationalem Ruf. Ich würde Ihnen dringend raten, dort in Frankfurt eine Leberpunktion machen zu lassen.“ Professor Pfeiferlich hielt einen Moment inne. „Obwohl die minimale Verweildauer weit unterschritten ist, was ja – das brauche ich Ihnen nicht zu erklären – vom Standpunkt der Verwaltung ökonomisch schlecht ist, machen wir das für Sie.“
Doktor Muniel hatte bei der Erwähnung der unökonomischen Verweildauer sichtbar mit den Mundwinkeln gezuckt. „Danke Ihnen, Herr Professor Doktor Pfeiferlich. Ich behaupte ja nicht, dass die Ärzte hier alle Pfeifen sind, besonders nicht Sie, Herr Professor, und Ihr Oberarzt Doktor von Risseck. Mit Aussicht auf Verlegung ist mir aber viel wohler, weil ich einfach Angst habe, dass meine Erkrankung, weil so komplex, die Möglichkeiten des Hauses übersteigen könnte.“
Der Assistent Doktor Gscheidle aus Ulm grinste jetzt amüsiert, verdrehte die Augen und schaute zur Decke. Muniel verschwieg ihnen, dass er den Medizinern, wie er die Ärzte nannte, misstraute, weil er ja – das realisierte er sehr wohl, trotz seines leicht benebelten Gehirns – so unbeliebt war und manche ihm sogar den Tod wünschen könnten.
Am nächsten Tag wurde der Patient in deutlich besserem Zustand in die Uniklinik verlegt, womit auch dem Chef der Inneren Abteilung ein kleiner Stein vom Herzen fiel. Zurück ließ er nachdenkliche und bei einigen Mitarbeitern auch zufriedene Gesichter. Kurt Muniel war alles andere als ein leichter Patient. Als Mensch schwierig, als Diagnose eine harte Nuss.
„Den sind wir vorerst los“, brummte der Pfleger Mario, der immer aussprach, was andere nur dachten. Er wünschte dem Geschäftsführer wirklich nicht die Genesung. Mit seinem Freund und Kollegen Odoku, dem Sohn eines Zauberers aus Kamerun, hatte er sich schon einen Voodoo-Zauber ausgedacht. Tief in der Nacht legte er eine tote Katze mit heraushängender Leber vor das Gartentor der Muniel’schen Villa! Der finstere Groll gegen den Geschäftsführer steckte wohl ganz tief in ihm. Er glaubte auch, dass er sich damit in guter Gesellschaft mit gar nicht so wenigen anderen Mitarbeitern befand.