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Ein verhängnisvoller Vormittag

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Der Geschäftsführer konnte den beginnenden Wonnemonat Mai nicht genießen. Doktor Muniel hatte anstrengende Tage hinter sich gebracht. Ein Treffen mit dem Krankenkassenvertreter war fast ein Desaster gewesen. Der Vorstand hatte ihn von einer angetretenen Dienstfahrt zurückbeordert und ihn wegen seines angeblich harschen Führungsstils noch am selben Abend gemaßregelt. Als er am späten Abend nach Hause gekommen war, hatte im Schlafzimmer das Fenster an der Feuerleiter offen gestanden. Ein Schatten war weggerannt, von dem er nicht wusste, ob er einem Liebhaber oder einem wilden Tier gehörte. Seine Frau hatte ihn mit unschuldigem Gesicht angelächelt und amüsiert geflüstert: „Das war doch nur ein Wildschwein Kurt.“

„Ich wusste nicht, dass du neuerdings mit Wildschweinen schläfst“, hatte er aggressiv geantwortet und ihr den Rücken zugedreht. Kein Wunder, dass er katastrophal geschlafen hatte, als am nächsten Morgen um sieben Uhr wie gewöhnlich der Wecker klingelte. Er nahm nur einen Espresso zu sich, weil er keinen Appetit hatte und Amalie noch fest schlief. Sie kam aber doch kurz darauf in die Küche und machte ihm einen Tee. Als sie jedoch anfing, ihm wegen der falschen Farbe der Krawatte Vorwürfe zu machen, ergriff er die Flucht, während sie sich am Kühlschrank zu schaffen machte.

Er wusste wirklich nicht, was heute mit ihm los war. Die Last der zu erwartenden Aufgaben ließen seine Beine schwer werden. Sein Gang war schleppend – als wenn Bleigewichte an seinen Beinen hingen. Gewöhnlich hüpfte er elastisch die Treppen zu seinem Büro hoch – er wusste ja schließlich, dass ihn viele Augen beobachteten.

Frau von Hess-Prinz, seine Sekretärin, blickte erstaunt auf und war zugleich erschrocken, als sie sein finsteres, übernächtigtes Gesicht sah. „Herr Doktor Muniel, da sind Sie ja. Sie haben mir so leidgetan, als ich Ihnen in Fritschles Auftrag die SMS zuschicken musste. Waren Sie schon in Rostock?“

„Leider erst in Lübeck. Ich war wie vom Schlag getroffen, als mich diese verdammte SMS erreichte.“

„Ich bringe Ihnen gleich einen Espresso“, versuchte sie ihn zu trösten und drehte sich zur Espressomaschine um.

„Ich brauche eher einen Grappa oder zwei“, seufzte er und verschwand in seinem Büro. Kurz darauf klopfte die Sekretärin an und setzte ihr Sonntagsgesicht auf, um ihn aufzuheitern, was aber diesmal nicht gelang, obwohl der Espresso in ihrer Hand sehr verführerisch duftete.

Er warf einen verstohlenen Blick auf sie. Frau von Hess-Prinz konnte ihn schließlich doch tatsächlich etwas von seiner trüben Stimmung befreien. Sie strahlte Ruhe und Würde aus. Eine gepflegte Erscheinung mit blond-roten glatten Haaren, die nicht gefärbt waren, sie hatte ein leicht rundes freundliches Gesicht ohne Falten – mit ihren vierzig Jahren jung geblieben. Ihre Hüften waren bemerkenswert einladend und weiblich. Ihr Gang war jugendlich und etwas kokett – jeder dachte, dass sie wahrscheinlich eine gute Tänzerin war und im Bett eine wunderbare Gespielin. „Danke, Frau von Hess-Prinz, Sie sind ein Schatz.“

Die Sekretärin reagierte auf dieses Kompliment nur, indem sie energisch die Zuckerdose auf den Tisch stellte. Sie dachte bei sich, dass diese Bemerkung nur so dahingeworfen war und ohne äußeren Anlass oft schon in kühle distanzierte Zurechtweisung umgeschlagen war. Wenn er dauernd so charmant wäre und nicht nur zehn Sekunden am Tag, könnte ich mir unaussprechliche Dinge mit ihm vorstellen. Aber so?, dachte sie, merkte aber nur kühl an: „Herr Doktor Muniel, darf ich Sie an die Termine erinnern, die Sie heute haben?“

Sie begann, sie aufzuzählen: „Der Controller wollte Sie heute kurz vor Mittag sprechen. Aber der leitende Oberarzt der Anästhesie und Intensivstation, Herr von Risseck, diesmal schon um neun Uhr dreißig. Sie haben ja gehört, dass der zweite Oberarzt aus der Abteilung gekündigt hat. Vielleicht können Sie den ja mit Ihrem diplomatischen Geschick umstimmen, ohne ihm zusätzliche Boni zu versprechen!“ Herr Muniel sah dabei nicht, wie sie zynisch und ein bisschen theatralisch die Lippen schief verzog. „Herr von Risseck wäre jedenfalls ein wichtiger Verbündeter, um die Stimmung unter den Mitarbeitern zu verbessern“, zeigte sie ihm ihre Besorgnis um das Klima in der Klinik.

Muniels Gesicht verzog sich augenblicklich frostig und blaffte sie kalt und laut an: „Sind Sie jetzt auch noch meine strategische Beraterin?“

Seine Reflexe hatte er auch diesmal nicht im Griff. Da war sie wieder, seine berüchtigte uncharmante, ja auch verletzende Art, die wie ein kalter Windstoß aus dem Nichts kam. Jetzt war sie froh, dass sie auf seine Komplimente vorhin cool reagiert hatte. Therapeutische Distanz war ihre Devise geworden. Sie blieb deshalb auch diesmal verbindlich und sachlich.

„Sie wissen, dass ich in einer halben Stunde einen Arzttermin habe und dann einen freien Nachmittag, also gehe ich jetzt schon“, hauchte sie, lächelte ihn sogar wieder an und schwebte aus dem Büro. An der Türschwelle ergänzte sie: „Ich stelle gleich noch eine Kanne Kaffee und ein Glas Mineralwasser für Sie hin und verabschiede mich dann. Ich muss vorher nur noch schnell wohin.“

„Danke, Sie Engel“, murmelte der Chef, scheinbar etwas besser gelaunt.

Abrupt blieb sie stehen, legte die Hand auf den Bauch, schluckte, atmete tief ein, um den Engel zu verdauen, und wartete kurz an der Tür, um noch einmal einen prüfenden Blick in ihr Büro zu werfen. Als sie sich umdrehte, sah sie im Spiegel ihr Gesicht mit einem Blick, als würde sie gleich losweinen.

Die Putzfrau Margot war nicht geplant aufgetaucht und verkündete lauthals, dass sie heute etwas früher den ständigen Kampf gegen den Staub und die Blätter aufnehmen wolle. Auf dem Boden lagen tatsächlich drei welke Blätter. Was beide aber nicht sahen, war ein Mann hinter der wuchtigen Säule neben den Topfblumen. Der Mann, noch ohne Gesicht, zuckte sichtlich zusammen und duckte sich noch tiefer.

„Liebe Margot, gerade heute, an diesem Vormittag, ist der Kampf gegen den Staub sehr ungünstig, da der Chef gleich mehrere frühe Termine hat. Außerdem ist er so schlecht gelaunt, dass er dich hochkant aus dem Zimmer werfen würde.“

„Ist ja gut, Veronika. Dann gehe ich halt noch in die Kantine und mache nachher gleich die Geriatrie-Station. Auf dem Gang dort scheint die Inkontinenz gewütet zu haben, wenn man Schwester Ilse glauben darf.“

Margot nahm den Kübel und winkte der Sekretärin zu, während Veronika von Hess-Prinz noch schnell zum WC hastete. So übersahen beide die Gestalt hinter der Säule im Gang und den zwei dichten Zimmerpalmen, die Frau von Hess-Prinz schon längst entfernt haben wollte. Das Gewächs ärgerte sie, weil dauernd Blätter am Boden lagen. Sie war gegenüber dem Hausmeister, dem Herrn Schränklein, ganz gegen ihre Art sogar zynisch geworden: „Wir brauchen hier keinen Urwald, mein Herr. Oder haben Sie hier Gorillas herumlaufen sehen?“

Dem blieb nur der Mund offen und er schüttelte verwundert den Kopf. Schlagfertigkeit war nicht sein Ding. Es war auch bekannt, dass er sich beim Fasching am liebsten als Gorilla verkleidete und auch sonst etwas tollpatschig daherkam.

Der Mann hinter der Säule hatte alles mitbekommen und atmete auf. Er wusste, dass er ein sehr gewagtes Spiel trieb. Der „Urwald“ war nicht dicht genug! Er wusste aber auch von früher, dass die Sekretärin mittwochs immer am frühen Vormittag ging und vorher den Chef mit Kaffee und Mineralwasser versorgte. Auch, dass sie mit dem Auto über vierzig Minuten nach Hause brauchte. Sie wohnte in Sulzschlirf, nicht gerade um die Ecke.

Die geduckte Gestalt hatte darauf gehofft, dass sie vorher auf die Toilette ging. Dies war Teil ihres Planes. Der Mann kannte diese Gewohnheit von seinem Vorstellungsgespräch und weil er fünfmal um die gleiche Zeit zum sogenannten Rapport beim Geschäftsführer gerufen worden war. Die Toilette war zirka zehn Meter von der Säule entfernt am Ende des Ganges. Die Tür zum Vorzimmer und zur Toilette hatte er immer im Blick. Die Bürotür stand offen. Als er die knarrende Tür zur Toilette schließen hörte, huschte der Mann ins Vorzimmer, goss ein weißes Pülverchen ins volle Mineralwasserglas auf dem Tablett und versteckte sich wieder hinter der Säule. Hoffentlich kommt sie nicht auf den Gedanken, auch noch die Zimmerpalmen zu gießen – das wäre das Ende meines Plans!, dachte das Schlossgespenst. Da hörte es auch schon die Tür schlagen, sah Frau von Hess-Prinz vorbeihuschen und im Vorzimmer verschwinden. Nach einer Minute kam sie wieder heraus und eilte die Treppe hinab. Der Verborgene hörte, wie sie auf der Treppe mit ihrem Freund telefonierte. An sein Ohr drangen allerdings nur Bruchstücke des Gesprächs und sporadisches Gekicher. Eine Tür schlug ins Schloss und weg war sie. Dem unheimlichen, breitschultrigen Gespenst blieben dreißig Minuten Zeit, gerade genug für den Wirkungseintritt der Tropfen – es war kein Süßstoff.

Was war mit den frühen Terminen?, durchzuckte es ihn noch eiskalt, sofort aber schob er die Bedenken weg und kroch hinter der Säule hervor, öffnete leise das Vorzimmer und sah, dass das Tablett mit dem Wasser verschwunden war. Gott sei Dank – bis jetzt nur Fast-Pannen, dachte er und ging wieder in Deckung – für alle Fälle. Auf seiner Uhr waren erst drei Minuten vergangen.

Doktor Kurt Muniel trank das Mineralwasser in einem Zug aus, danach gönnte er sich eine Tasse Kaffee. Frau von Hess hatte ihn kurz vor ihrem Abgang frisch gebrüht zu ihm gebracht. Dem Geschäftsführer blieben gerade noch dreißig Minuten bis zum ersten Besucher. Er sah seine Hauspost durch, wofür er heute nicht ganz eine halbe Stunde brauchen würde. „Heute Nachmittag um fünfzehn Uhr“, las er auf dem Terminzettel, „haben Sie noch eine Besprechung mit dem Finanzdirektor des Klinikums und dem Rechtsberater.“ Er schaute auf die Uhr. Ach, da hab ich ja noch Zeit. Er aß ein Sandwich aus dem Lunchpaket und schaute seine Privatpost durch, die seine Sekretärin separat gelegt hatte. Zur Ablenkung griff er sich die Frankfurter Rundschau, legte sie aber weg, weil er sich nicht konzentrieren konnte.

„Veronika ist wirklich ein Schatz, ich verstehe nicht, warum ich sie manchmal so anschnauze.“ Er erinnerte sich, wie sein Vater regelmäßig seine Mutter angefaucht hatte, die dann stundenlang wie betäubt herumgelaufen war. Seine Sekretärin schien das besser wegzustecken.

Beim Lesen bemerkte er seine Angespanntheit. Er verstand nur nicht, warum er allmählich auffallend müde wurde wie sonst nur nach einem ausgiebigen Lunch mit Weißwein im Urlaub. Er zwang sich mit Mühe, weiterzulesen.

Es war neun Uhr achtzehn, als es an der Tür klopfte. „Guten … Tag, Herr Direktor! Entschuldigen Sie bitte die Störung.“

Das Wort blieb Muniel im Hals stecken, als er den zu frühen Besucher sah und unerwartet nicht den Oberarzt verfrüht eintreten sah, sondern einen Menschen, der ihn entfernt an einen vor einem halben Jahr von ihm entlassenen Arzt erinnerte. Ist es der gar selbst?, durchzuckte es ihn. Er wusste um seine Schwäche, Namen zu behalten und Gesichter zu erkennen.

„Wer sind Sie denn?“, stöhnte Doktor Muniel.

„Oh, ich bin guter Arzt und komme gerade aus Moskau. Keine Angst – ich Ihnen helfen wollen.“

Habe ich eine Halluzination? Und warum bin ich so hundemüde? Ich müsste doch jetzt wegen der Überraschung hellwach sein!, durchzuckte es Muniel. Ich werde noch einen Espresso trinken.

Er schaute auf die Uhr und wunderte sich, dass die Ziffern verschwommen waren und ihm etwas schwindelig war. Das machte ihm jetzt wirklich Angst. Manchmal fangen so Schlaganfälle an – ich muss den Blutdruck messen, dachte er panisch. Erst, als er die Stimme hörte und die langsamen Bewegungen des etwas bärenhaft wirkenden Mannes sah, dämmerte langsam die Erinnerung auf. Diese Typen aus dem Osten sehen aber auch alle gleich aus. Er wunderte sich nur, dass sein Herz so heftig schlug. Warum verdammt fing sein Herz just auch noch unregelmäßig an zu schlagen?

Er versuchte sich krampfhaft zu konzentrieren und begrüßte den Arzt mit Handschlag. Im gleichen Augenblick dämmerte ihm der Grund der Panik. Sein Besucher trug OP-Handschuhe. „Was soll das denn?“

„Oh, Herr Direktor, ich Ekzem habe an Hand – ich mich schämen.“

Muniel versuchte seine Panik zu überwinden und wollte jetzt Zeit gewinnen, bis der Oberarzt kam. Betont langsam schenkte er dem Besucher gegen seine Gewohnheit einen Kaffee ein. „Wenigstens zum Kaffeetrinken ziehen Sie die Handschuhe aus! Ansonsten trinke ich nicht mit Ihnen“, sprach er schon mit schwerer Zunge, was der Besucher befriedigt registrierte. Die bärenhafte Gestalt war mit sich und dem Fortschritt ihrer Aktion sehr zufrieden.

„Sehr gern, Herr Direktor“, sagte der Besucher und zog den rechten Handschuh aus. In diesem Augenblick dachte er nicht daran, dass er dadurch Spuren hinterlassen könnte. Er war aufgeregt.

Kurt Muniel versuchte sich mühsam zu konzentrieren und holte jetzt – schon leicht schwankend – die Kaffeekanne vom Büffet, wobei er einen Spritzer auf den Boden schüttete und dem Besucher dreißig Sekunden lang den Rücken zudrehte. Zur Verstärkung der Dosis konnte so der Mann noch einmal Tropfen ins Glas schütten. Die Gläser hatte die Sekretärin immer an den Platz gestellt, für alle Fälle.

„Warum sind Sie bei mir aufgekreuzt, ohne sich anzumelden?“

„Oh, Herr Direktor, ich sehr spontaner Mensch und sehr flexibel.“ Der harte russische Akzent war nicht zu überhören. „Darf ich melden Ihnen, warum Überraschungsbesuch? Ich bin Arzt aus der Ukraine, ursprünglich Donezk, komme aber jetzt von berühmter Klinik für Organverpflanzung aus Moskau. Chef in Donezk halten großes Stück auf mich. Deshalb geschickt mich nach Moskau! Wir können machen jetzt Kooperation und ich bringe mit Oberarzt von dort und wir stellen hier im Klinikum Buchenhain um auf Nierentransplantation. Habe schon geredet mit reichen Weißrussen und Ukrainern, die alle gern hierher als Patienten kommen würden“, schwadronierte der unheimliche Besucher drauflos.

„Heute habe ich wirklich keine Zeit und auch keine Lust, mir noch dazu Ihr schlechtes Deutsch anzuhören. Was soll denn überhaupt dieser ganze Überfall? Unverschämtheit!“ Muniel wunderte sich sehr, dass ihm das Sprechen so schwerfiel, als hätte er zu viel getrunken. Schimpfen fiel ihm noch am leichtesten. „Gleich kommt der nächste Besucher. Haben Sie vielleicht etwas mit meiner Müdigkeit zu tun?“

„Es tut mir leid, wenn ich ermüde Sie, Herr Direktor“, stammelte der unheimliche Besucher scheinbar zerknirscht.

Muniel schimpfte weiter: „Außerdem habe ich Zweifel, dass Ärzte aus Osteuropa erfolgreiche und gute Ärzte sind. Die Erfahrung mit einem Ukrainer – ich glaube, Doktor Cerebellinowitch hieß der – war nicht sehr vielversprechend. Dieser Herr sah Ihnen übrigens ähnlich. Wissen Sie, was der Name übersetzt heißt? Kleinhirnchen, haha – was ja alles sagt.“ Trotz der Benommenheit konnte er seinen bösen Sadismus nicht bremsen.

„Oh, Kleinhirnchen ist gut, sehr gut sogar – Kleinhirnchen macht Hände vom Chirurg flink und geschickt, wenn operiert, braucht nicht viel Großhirn. Großhirn bremsen nur dabei“, konterte der dem früheren Doktor Kleinhirnchen ähnlich sehende Arzt erstaunlich selbstbewusst.

Der Geschäftsführer trank einen großen Schluck Kaffee. Muniels Geduldsfaden war schon längst gerissen. Er war sich allerdings unschlüssig, ob er den Besucher rausschmeißen oder das Gespräch bis zum Auftauchen des Oberarztes hinauszögern sollte. Er brüllte los: „So, jetzt raus! Es reicht jetzt. Lassen Sie sich einen Termin geben.“

Der Besucher dachte aber gar nicht daran, zu gehen. Doktor Muniel starrte ihn unentschlossen an. Äußerlich glich der wirklich dem ehemaligen Assistenten – oder war der es selber? Sein Herz raste weiter und er geriet immer mehr in Panik. Er war nicht mehr Herr über seinen Körper und sein Bewusstsein. Die blauen Augen des unheimlichen Besuchers blickten träge und gleichgültig unter den buschigen Augenbrauen hervor. Irgendwie wirkte er auf den ersten Blick naiv tapsig wie ein sibirischer Bär, aber nicht gefährlich. Muniel dachte nicht wirklich, dass er seinen Mörder vor sich haben könnte. Immerhin hörte er noch, wenn auch undeutlich, wie der Besucher sagte: „Oh, ich brauchen nicht viele Zeit für mich, ich flinke Hände – Sie werden wundern sich oder auch nicht mehr!“

Doch den letzten Satz hörte der Geschäftsführer tatsächlich schon nicht mehr richtig. Er sah ein fratzenhaftes Gesicht vor sich mit vielen Farben, die sich wie ein Kaleidoskop des Schreckens bewegten, bevor alles weiß wurde und sein Bewusstsein schwand. Sein Kopf sank nach vorn.

Zuvor hatte der Arzt die Unterarme freigemacht und zwanzig Milliliter einer klaren Flüssigkeit in die Vene injiziert. Die verwendete Kanüle war kleinkalibrig, was den Injektionsvorgang zwar leicht verzögerte, aber den Einstich praktisch unsichtbar machte. Die Nadel entfernte er, ohne die Einstichstelle abzudrücken. Es trat nur ein Tropfen dunkles Blut heraus, den er mit dem Handschuh abwischte. Mit dem Ärmel wischte er kurz an seiner Tasse, drehte sich auf dem Absatz um, lief die Treppe herunter und verschwand in den Keller. Es hatte den Anschein, als kenne der Fremde sich im Verwaltungsschlösschen aus.

Er schaffte es in weniger als einer Minute, das Gebäude unbemerkt zu verlassen. Doktor Unheimlich war natürlich nicht so dumm, den Haupteingang zu benutzen, sondern verschwand durch den Lieferanteneingang im Untergeschoss in einem angrenzenden Waldstück. Wie durch ein Wunder war der Hausmeister nicht unterwegs gewesen. Vom Klinikgebäude aus konnte dieser Eingang nicht eingesehen werden. In der Umgebung des Schlösschens standen schon seit hundert Jahren neben knorrigen Eichen breitstämmige Buchen und dichtes Unterholz. Ein Specht klopfte beim Abgang des flüchtenden Arztes – es hörte sich an wie ein Trommelwirbel. Fast wie im Triumph schlich er in den Wald und verschwand zu seinem Auto, einem grauer Skoda, der ein paar Straßen unterhalb der Schlossklinik stand.

Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain

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