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Kapitel 3 (Juni)

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Es war zum Mäusemelken. Am heiligen Sonntag und auch noch zu einer saublöden Zeit ein Mord. Das fehlte noch, dass er den Tatort im Fernseher verpasste. Heute kam sein Lieblingsteam: Klara und Perlmann vom Bodensee. Seitdem er vor einigen Jahren die Insel Mainau besuchte, liebte er dieses Team, das um Konstanz herum ermittelte. Aber er konnte sich die Sendung ja später auf dem PC reinziehen.

Oberkommissar Ägidius Habakuk Schmitt, Schmitt ohne Zusatz, das war bei diesen Vornamen nicht nötig, betrachtete aus einiger Entfernung den möglichen Tatort. Schmitt sah aus, wie der Ritter von der traurigen Gestalt. Eins neunzig, hager, fast dünn, die Schultern ein wenig nach vorn gebogen, als trüge er eine unbekannte Last. Die kupferfarbene, nicht zu bändigende Haarpracht stand wirr vom Kopf. Viele kleine Locken ringelten in die hohe Stirn. Unter buschigen Augenbrauen musterten grüne Augen die ach so unwürdige Welt, mit der er auskommen musste. Unter der geraden, fast römischen Nase verzog sich der Mund, mit den vollen Lippen, missmutig nach unten. Nicht etwa, weil es der Situation entsprach, nein, dies war der übliche Ausdruck. Das breite Kinn trug eine senkrechte Kerbe.

Das Gesicht zeigte abweisende blasierte Züge, die so gut wie jeden davon abhielten, ihn anzusprechen. Ägidius trug Jeans, aber kein Modell von Mustang oder Wrangler, sondern die Arbeitshose von van Cranenbroek, die es dort schon für unter fünfzehn Euro gab. Die Hose schlackerte um die Beine. Dazu ein blau kariertes Hemd, eben ein Arbeitshemd aus dem gleichen Laden. Die ausgelatschten Sportschuhe hatten auch schon einige Jahre auf dem Buckel.

Im Grunde war der Oberkommissar kein schwieriger Mensch. Wer ihn und seine Art zu nehmen wusste, kam gut klar. Aber wehe nicht. Wenn Zeit für den Job war, dachte er ausschließlich daran und in der Freizeit, eben an die Freizeit. Es war ganz einfach.

Mit einigen Dingen im Leben konnte er nichts anfangen. Dazu zählten vor allen Dingen Menschen. Nicht, dass er sie hasste. Nein. Sie waren ihm gleichgültig. Schon manch einer fragte sich, weshalb er Polizist wurde und für die Allgemeinheit arbeitete. Das war ganz einfach. Wenn er mit Menschen nichts anfangen konnte, bedeutete das nicht, dass er sie nicht studierte. Das gehörte zu seinen Prinzipien. Den Sachen auf den Grund gehen. Das führte dazu, dass er als junger Mensch zunächst Lehramt studierte. Für ihn war das eine Möglichkeit, die Fehler, die Lehrpersonen, nach seinem Dafürhalten, an ihm begangen hatten, für weitere junge Menschen auszuschließen. Bis zu seinem Referendariat. Er würde wohl, zumindest im Bundesland Nordrhein Westfalen, nie mehr als Lehrperson eingestellt werden.

Es war fast genauso, wie zu der Zeit, als er in einer Supermarkt Filiale einen Ferienjob annahm und das Warenordnungssystem in den Verkaufsregalen revolutionierte. Er setzte seine Vorstellung von Ordnung und Verkaufsstrategie um. Beim Supermarkt Süd hatte er Hausverbot.

Mehr zufällig geriet er in die Polizeilaufbahn. Jetzt stand er in diesem Heidedorf und musste sich mit diesem Fall beschäftigen. Schmitt kam aus Düsseldorf, weil die Aachener Kollegen eine seltsame Urlaubsregelung praktizierten. Das gesamte Kommissariat zum gleichen Zeitpunkt ausgeflogen. Beknackt.

»Halte den Penner dort auf.« Schmitt schreckte hoch. Der uniformierte Kollege wies einen anderen Beamten an, der sich dem Oberkommissar prompt in den Weg stellte.

»Schmitt«, sagte er kurz und drückte den Mann zur Seite.

»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank. Das ist ein Tatort und außerdem … lege dich zu deinen Kollegen dort hinten«, er zeigte auf eine kleine Baumgruppe an der Ecke Waldstraße und Panzerstraße. Der Küfenweg, auf dem sie sich befanden, endete ebenfalls dort. In dem Wäldchen, an der Kreuzung, ,rasteten‹ schon mal Obdachlose, die unterwegs waren.

Ägidius musterte den Wicht, er war nicht mehr als eins siebzig, ausdrucklos. Seine Hand schoss nach vorn und packte das linke Ohrläppchen. Er drückte fest zu und drehte es leicht. »Hat deine Mama dir nicht beigebracht, zu Fremden und insbesondere Vorgesetzten, freundlich zu sein?« Sein Bass rollte und brachte die Luft zum Vibrieren. Er fasste mit der linken Hand in die Gesäßtasche und zückte den Dienstausweis. »Schmitt«, sagte er, wobei er das Ohr festhielt. »Oberkommissar, Mordkommission.« Er drückte noch einmal zu und stieß den Polizeibeamten zurück. Ohne ihn weiter zu beachten, näherte er sich dem Toten. »War die Spurensicherung schon hier?«, fragte er.

»Wir sind fertig.« Die Frau trug einen weißen Overall und kam von der Obstwiese, deren Eingang rechts von der Hütte lag. Sie beobachtete den Vorgang mit dem uniformierten Kollegen kopfschüttelnd. »Den Bericht bekommen Sie morgen«, meinte sie kurz angebunden. Der Grobian konnte warten. »Wenn der Arzt den Tod festgestellt hat, wird die Leiche abgeholt und kommt in die Rechtsmedizin nach Köln. Aber ich bin mir sicher, da braucht man keinen Mediziner. Toter geht nicht.«

Schmitt nickte kurz und nahm die Szene mit dem Toten auf. Er konnte immer wieder auf das zurückgreifen, was er jemals gesehen hatte. Sein Gehirn besaß eine visuelle Aufzeichnungsfunktion, die jedoch nur bei Bildern funktionierte. Bei Texten klappte das überhaupt nicht. Ein Gedanke drängte sich nach vorn: Weshalb kam der Mediziner nach der Spurensicherung? Klar …, der war tot, das sah jeder. »Gibt es Augenzeugen?«, fragte er niemand Bestimmtes. Keine Antwort. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er alleine vor der Bank stand. Die anderen hatten sich abwartend hinter die Absperrung zurückgezogen. Er zuckte mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal. Da musste er durch.

Eine Bewegung hinter ihm ließ ihn dorthin schauen. Eine Frau in Joggingkleidung hob die Absperrung und schritt, ohne ihn zu beachten, zu dem Toten. Ein graubrauner Dackel zockelte hinter ihr hier.

Was sollte das schon wieder? Er fasste sie an die Schulter und wirbelte unversehens durch die Luft. Er landete unsanft auf der Schulter und vermied eine schwerere Verletzung, weil er den Körper während des Flugs automatisch entspannte. Damit hatte er nicht gerechnet, sonst wäre es ihm nicht passiert. Denn er war ein passabler Sportler, auch Kampfsportler. »Das war unnötig«, stellte er fest, indes er auf Hände und Füße rollte. Dabei verdrehte er die Augen. Wie blöd. Klassisch aufs Kreuz gelegt und dazu von einer Frau. »Verlassen Sie bitte den abgesperrten Bereich.« Er saß noch immer auf dem Boden und machte eine vage hilflose Bewegung in die Richtung, aus der sie gekommen war. Der Dackel schnüffelte an ihm und der Schwanz drehte wie ein Propeller.

Die Kollegen der Spurensicherung und Technik beobachteten das Schauspiel. Immer mehr Menschen kamen hinzu und kicherten.

Ägidius entwirrte die Knochen und stand umständlich auf. Er zückte den Dienstausweis. »Schmitt, Kriminalpolizei. Treten Sie bitte hinter die Absperrung.« Er musste keine besondere Kraft aufbieten, um sachlich zu bleiben. Auf Deutsch gesagt, ging ihm die Episode am Arsch vorbei.

Die Frau studierte die Plastikkarte und nickte. Wortlos stellte sie sich zwischen das technische Personal der Kripo und schüttelte leicht den Kopf, als jemand sie ansprechen wollte. Sie trug einen belustigten Zug in den Mundwinkeln.

Der Dackel wich nicht von den Füßen des Oberkommissars, was ihn sichtlich nervte. Er hob den Fuß.

»Unterstehen Sie sich«, rief die Frau, mit einer ausgesprochen weiblichen Stimme, in mittlerer Tonlage. Die blöde Kuh, die ihn vorhin aufs Kreuz legte. Er ignorierte den Hund.

»Ihren Namen bitte.« Seine Stimme grollte. Schmitt besaß, von Geburt an, einen leichten Sehfehler. Die Augen musterten einen älteren Mann, der gegen sein Fahrrad lehnte und auf den Leichnam starrte. Dabei hatte er die Frau im Visier.

»Meinen Sie mich?«, fragte der Mann und bestieg das Rad und radelte davon.

»Clarence«, flüsterte jemand verständlich, wobei die älteren lachten und die jüngeren verständnislos schauten. Daktari, mit dem schielenden Löwen, war eine andere Zeit.

Äußerlich unbeeindruckt ging der Hauptkommissar zur Absperrung. »Ich meine Sie«, sagte er zu der Frau mit dem Hund.

»Claudia Plum.«

»Sie wohnen in diesem Dorf?«

»Ja.«

»Kennen Sie den Toten?«

»Ja.«

»Hat er einen Namen?«

»Ja.«

»Können Sie mir den sagen? Stopp«, er hob eine Hand, »mein Fehler. Sagen Sie mir den Namen des Toten … bitte.«

»Rainer Sauber.« Claudia Plum überlegte, ob sie dem aufgeblasenen Ochsenfrosch sagen sollte, wer sie war. Aber nein. Das konnte warten.

»Danke«, murmelte Schmitt abwesend. Die Gedanken richteten sich auf den Toten.

»Er ist faktisch ein Ureinwohner«, fuhr Claudia fort und holte den Oberkommissar zurück. »Im Dorf ist diese Woche Schützenfest. Deshalb die Uniform.« Der Typ tat ihr leid. Was konnte er dafür, dass die Mordkommission in Aachen verwaist war. Sie zückte ihre Plastikkarte, die sie auch im Urlaub bei sich trug. »Ich befinde mich im Urlaub. Normalerweise wäre dies mein Fall.«

»Ich weiß«, entgegnete Schmitt. »Sie glauben doch nicht, dass Sie ansonsten ungeschoren davon gekommen wären, nachdem Sie mich aufs Kreuz gelegt hatten.« Er grinste und zeigte seine perlweißen Zähne, bei denen zwei Schneidezähne im Oberkiefer überflüssigerweise vorstanden. »Bevor ich vorhin hierher fuhr, habe ich natürlich Erkundigungen eingezogen. Der Tote ist tot. Also hatte ich Zeit.« Er stockte und musterte ihre Erscheinung. Was er sah, gefiel ihm. Auch, wenn der Jogginganzug, den sie trug, großen Muts bedurfte. Zumindest nach seiner Meinung. Ein knalliges Gelb mit je drei roten Streifen an den Seiten. Sie konnte es tragen.

Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Zu ihrer sportlichen Figur gehörte ein normal großer Busen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Aber das war Geschmackssache. Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig und eins siebzig groß. Die grauen Augen musterten ihn spöttisch. Aber das kannte er und wiederholte sich bei den vielen Springereinsätzen. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er über sie wusste.

Die Hauptkommissarin wurde vor etwa zwei Jahren nach Aachen versetzt und übernahm dort das Dezernat für Tötungsdelikte. Trotz ihres jungen Alters konnte sie zu diesem Zeitpunkt auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurückblicken. In zwei spektakulären Mordfällen, die längere Zeit bei den Akten lagen, gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin fehlte die entsprechende Planstelle. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen. Das war die offizielle Geschichte. Schmitt lächelte innerlich, hielt diese Gemütsbewegung jedoch verschlossen. Ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte das, belustige Funkeln im Hintergrund der Augen, bemerkt. In Wahrheit uferte das Verhältnis zu einem verheirateten, vorgesetzten Kollegen aus, sodass es angebracht schien, den Berufsstandort zu wechseln.

Gleich bei ihrem ersten größeren Fall, traf sie, im platten Hinterland Aachens, auf einen Menschen namens Kurt Hüffner, der die Liebe ihres Lebens wurde.

Er wusste, dass Frau Plum stets um Distanz bemüht war und viele schreckte, die sich ihr näherten. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie, sie betrat. Dabei war sie immer um Perfektion bemüht und verdeckte ihre, dadurch entstehenden Unsicherheiten perfekt. Das Dossier, das ihm zu ihrer Person zur Verfügung gestellt wurde, enthielt Hinweise auf eine emphatische Veranlagung, was sie als hinderlich ansah. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen ihres Umfeldes. Die Kollegen des Teams, mit denen sie zusammenarbeitete, verdrehten die Augen, wenn ihr Bauchgefühl zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus, nur teilweise. Letztendlich war es der analytische Verstand, der Fakten und Gefühle, zu erfolgreichen Ergebnissen fügte. Schmitt wusste, dass sie sich keinesfalls aus dem Fall heraushalten würde. Das war auch letztendlich die Spekulation, weshalb ihm kein Personal zur Verfügung überlassen wurde. Sein Erscheinen rief an jeder Dienststelle die gleichen Abläufe auf den Plan. Die ortsansässigen Beamten rissen sich den Arsch auf, den Fall vor ihm zu lösen. Die Vorgesetzten wussten mit Rationalisierung umzugehen. Bisher wurde er zu Urlaubsvertretungen in ein Team abkommandiert. Doch hier fehlte die gesamte Mannschaft … bis jetzt. Vielleicht wurden die anderen Kollegen auch auf den Plan gerufen. Ihm sollte es recht sein.

Vor einem Jahr heiratete Plum ihren Hinterwäldler und lebte mit ihrem Kurt in diesem Heidedorf. Dort wo sich Fuchs und Gans Gute Nacht sagten … dort, wo die Gehwege jeden Abend hochgeklappt wurden, damit niemand stolperte. Nicht, dass jemand einen Bürgersteig benötigte. Grundsätzlich liefen die Dörfler mitten auf der Straße, sei es mit Kinderwagen oder Schubkarre.

Für die Kollegin bedeutete es sicherlich einen großen Schritt, aus der Großstadt heraus, in dieses verlassene Kaff. Schmitt erfuhr aus den Unterlagen, dass hier die Uhren anders tickten. Zeit war relativ, besonders hier. Immer wieder blieben Minuten für eine kurze Unterhaltung, die den alltäglichen Tratsch zum Inhalt hatte. Zeit, die sie nicht besaß und dennoch aufbringen musste.

»Was wollen Sie jetzt tun?« Claudias Stimme holte ihn aus den Überlegungen.

»Ich?«, fragte er und schüttelte den Kopf. Klar er, wer sonst. »Ich habe mir den Tatort angesehen und erwarte die Berichte der Spurensicherung und der Mediziner. Aber das wissen Sie alles.« Er musste mit den Gedanken allein sein. Die vielen Leute und vor allem die beurlaubte Kollegin störten ihn.

»Ich muss jetzt zuerst ins Präsidium und mich dort melden. Der Anruf zu diesem Einsatz erreichte mich auf der A46. Als ich mich auf dem Rastplatz, über das iPad informierte, fand ich alles, nur nicht Ihre Adresse. Die bekomme ich in Aachen. Vielleicht melde ich mich bei Ihnen.« Sagte es und trabte zum Fahrzeug, das am Hintereingang des Friedhofs parkte.

»Thilo. Was war das für einer?« Sie wandte sich an den Gerichtsmediziner, der mit den Kollegen abseits des Geschehens stand.

»Das war Schmitt … mit te te. Ich habe von ihm gehört. Ein unruhiger Geist, der sich in keine Schublade packen lässt. Ein kluger Verstand und sehr guter Ermittler. Er braucht den Freiraum. Ein typischer Einzelgänger. Sein Ruf eilt ihm voraus und seine Spezialität: Anderen vor den Kopf stoßen.« Der hagere Kollege spulte sein Wissen herunter.

»Mir soll es egal sein«, meinte Claudia. »Ich habe Urlaub. Kurt und ich wollen heute nach Palenberg. Da ist Kaiser Karl Fest.«

»Ich denke, hier ist Schützenfest.« Thilo wirkte fast empört. Wie konnte jemand ins Nachbardorf gehen, wenn hier etwas los war?

Claudia zuckte mit den Schultern. Doch sie wusste nicht, was mit Kurt war, der partout nichts mit den Schützen zu tun haben wollte. Nur so viel, dass es mit seinem Heimatdorf Teveren zusammenhing. Was genau … jedoch nicht.

»Was mach ich jetzt?« Sie fragte rein rhetorisch.

»Am besten ins Auto setzen und nichts wie weg.« Thilo grinste, weil er wusste, dass das nie eintreten würde. »Ich schicke dir den Bericht parallel nach Hause. Damit du auf dem Laufenden bist«, sagte er spöttisch.

»Das ist gut«, meinte Claudia, die den ironischen Tonfall bemerkte. »Man kann eben nicht aus seiner Haut heraus.«

»Sag ich doch.« Thilo winkte und wandte sich der Arbeit zu.

Ein trockener bellender Husten ließ Claudias Kopf herumfahren. »Thilo, der lebt«, rief sie und stürzte zu dem angeblich Toten. »Verdammte Schlamperei«, fluchte sie. Rainer Sauber bewegte die Glieder und versucht von der Bank aufzustehen. »Bleiben Sie sitzen. Sie sind angeschossen.« Er stierte sie ungläubig an und fiel zurück.

»Angeschossen?«, krächzte er kaum verständlich und hob erst den rechten und dann den linken Arm, als zöge jemand daran. Er schüttelte den Kopf. »Blödsinn.« Er stand schwerfällig auf und wankte. Sein Finger fuhr zum Loch in der Jacke und zog den Hohen Bruderschaftsorden darüber. »Bin in dem blöden Ast dahinten hängen geblieben.« Er nickte vage in Richtung Dorf. »Und die Flecken sind Currysoße. Ich wollte mir ein frisches Hemd anziehen.« Er fuhr mit der Hand über die Stirn. »Wie ich hierher komme, weiß ich jedoch nicht. Sie sind Kurts Frau«, er stieß mit dem Finger auf sie. »Bringen Sie mich nach Hause.« Der Ton war befehlend und ließ keinen Widerspruch zu.

»So wie ich das sehe, können Sie alleine gehen. Haben Sie getrunken?« Sie hob in Abwehr beide Hände und trat einen Schritt zurück.

»Klar habe ich getrunken. Es ist Schützenfest. Drei oder vier Bier über Stunden hinweg. Im Grunde könnte ich Auto fahren. Ich bin kein Säufer.« Sauber setzte sich. »Es ist die blöde Krankheit. Früher hatte ich noch epileptische Anfälle. Dann haben die mir ein Loch in den Schädel gebohrt.« Er stierte blicklos in die Gegend. »Jetzt habe ich alle paar Monate diese Aussetzer. Irgendwann wache ich in einem Sarg auf. Das ist verdammte Scheiße.« Er hieb auf das Knie.

»Ihnen geschieht das öfter?« Claudia sah ihn fassungslos an.

»Öfter?« Er winkte ab. »Das war jetzt das vierte Mal. Im Grunde kann ich damit leben.«

»Und du hast den Tod festgestellt«, sagte sie bitter zu Thilo.

»Ich?«, fragte er entrüstet. »Ich habe ihn nicht angefasst. So weit war ich noch nicht. Mir wurde gesagt, er sei erschossen. Was sollte ich mich beeilen. Er konnte ja nicht weglaufen.« Die hagere Gestalt bebte vor Empörung.

Claudia winkte ab und wollte gehen, als sie das Fahrrad bemerkte, das in sagenhaftem Tempo von der Panzerstraße herauf auf sie zufuhr. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Das war Kurt, und wenn er so raste, bedeutete das nichts Gutes. Edgar entdeckte einen Moment früher als sie, wer ihnen entgegen radelte und schoss wie eine Rakete kläffend auf die Straße. Er lief seinem Herrchen entgegen, der ein Ausweichmanöver startete, um den Dackel nicht zu überfahren. Kurt machte einen Schlenker und knallte mit dem Vorderrad in den Stacheldrahtzaun. Er hob die Schwerkraft für sich auf und segelte in die Wiese. Er knallte wie ein nasser Sack zu Boden. Als sei nichts geschehen sprang er auf die Beine und lief zu Claudia.

»Unten am Kreuz liegt ein Toter«, rief er aufgeregt. Die mittelblonden Haare standen vom Fahrtwind in die Höhe. Die eins neunzig große Gestalt mit den breiten Schultern schien in Ordnung. Der Sturz blieb also ohne Folgen. »Was ist hier los?«, fragte er.

»Falscher Alarm«, meinte sie lakonisch. »Wo ist ein Toter?« Sie musterte ihn misstrauisch. Was war heute los? Das konnte doch nicht von dem beknackten Schützenfest herrühren.

»Am Kreuz.« Er kniff die grünen Augen zusammen und über das ansprechende jungenhafte Gesicht zog ein verständnisloser Ausdruck. »Wieso noch ein Toter?«

»Das ist eine Geschichte, die ich dir später erzähle.«

»Doch nicht Reiner?« Kurts Zeigefinger stach in Richtung des Schützen und wieherte los. »War der wieder einmal scheintot? Das weiß doch jeder.«

»Und wieso ich nicht?« Sie baute sich vor Kurt auf und legte den Kopf in den Nacken, um in seine Augen zu sehen. Sie war zwar keine kleine Frau, aber vor ihm wirkte sie zierlich.

»Später. Sag deinen Kollegen Bescheid. Der Typ dahinten ist wirklich tot. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen.« Er fasste sie bei der Hand und zog sie den Weg hinunter. Kurt arbeitete freiberuflich an der RWTH. Nicht so ganz, denn er war zusätzlich in einem Institut angestellt, wo er einige Stunden ableisten musste. Ansonsten verfügte er über die berufliche Zeit frei. Kurt besaß einen Hang zum Mystischen. Geprägt von der Landschaft und den Menschen, die ihn umgaben. Dabei war er unkonventionell und unglaublich neugierig. Er ging allem und nichts auf den Grund. Sehr zum Missfallen seiner Umgebung, der er damit auf den Keks ging.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Claudia ahnungsvoll, auf dem Weg zum Wegekreuz. In einigen ihrer Fälle hatte sich Kurt als Leichenspürhund erwiesen. Die Toten zogen ihn an.

»Das war Zufall.« Er blieb stehen und suchte den Augenkontakt. »Ich wollte dir entgegen fahren. Ich hielt am Kreuz an und überlegte, wo du wohl jetzt aushängst. Dann sah ich die Turnschuhe im Gras der Wiese. Du weißt, die dem Peter gehört. Der mäht ja so gut, wie nie. Jetzt steht sie kniehoch. Ich wollte die Dinger holen und in den Müllbehälter neben der Bank werfen. Wie der Teufel es wollte, hingen da noch Beine dran. Erst da fiel mir die Bescherung auf.«

»Erschlagen sagst du?«

»Nehme ich an. Der Kopf ist voller Blut. So genau hab ich nicht mehr geguckt. Von dir weiß ich ja, dass viele Spuren zerstört werden können.« Er nickte und setzte den Weg fort, der linker Hand von dichten Hecken gesäumt wurde, die einen Einblick in die Grundstücke verwehrte. Rechts dehnten sich die Felder bis nach Teveren. Sie gelangten zum Wegekreuz.

Claudia ließ ihren Blick kreisen. Plattes Land, so weit das Auge blickte. Im Rücken lag der Waldsaum, der das Heidegebiet begrenzte, das aus den Niederlanden herüberzog und mit Unterbrechungen bis zum Niederrhein reichte. Hier am Kreuz liefen sechs Wege zusammen. Zwei direkt ins Dorf. Der eine war der Küfenweg und der andere die Waldstraße. Die befestigte breite Straße kam direkt von der Fliegerhorst Straße und führte über die Kreuzung zum Heiderand. Sie wurde im Volksmund Panzerstraße genannt und wurde auf dem Navi mit Reitweg bezeichnet. Die Verlängerung der Waldstraße kam ebenfalls von der Heide. Der letzte Weg führte gerade zur niederländischen Grenze. Eine bekannte Landschaft, die sie jeden Tag während ihres Spaziergangs mit Edgar sah. Doch jetzt, kurz bevor sie mit dem Tod konfrontiert wurde, nahm sie andere Dinge auf, die ihr ansonsten entgingen. Jeder dieser Wege unterschied sich von den anderen. Nicht, was die Richtung anging. Nein. Sie unterschieden sich im Ausbau. Jeder war zwar für Pkw befahrbar, doch zwei besaßen keine befestigte Verbindung zu anderen Straßen. Sie führten in die Heide. Auf dem langen Wirtschaftsweg zur Weberkiesstraße fiel faktisch jeder auf, der hier fuhr. Der Küfenweg war für landwirtschaftliche Fahrzeuge zugelassen und die Waldstraße eine Anliegerstraße. Blieb die Panzerstraße als einziger eventueller schneller Fluchtweg. Doch aus eigener Erfahrung wusste sie, dass hier niemand Verkehrszeichen beachtete. Die Waldstraße wurde mehr und mehr zu einer Durchgangsstraße.

Das Dorf selbst war ein Straßendorf durch das sich die, etwa zwei Kilometer lange, Corneliusstraße schlängelte. Etwas über dreihundert Haushalte. Jeder kannte jeden. Geschäfte gab es keine, wenn sie den Gastronomiebetrieb Jägerhof ausklammerte. Faktisch die Dorfkneipe mit einem angegliederten Restaurant. Sie schüttelte die Gedanken ab.

»Wo liegt er?«, fragte sie und starrte zum Wegekreuz.

»Wir müssen näher heran. Keine Sorge, ich bleibe auf der Straße, damit deine Spuren nicht zerstört werden.« Er machte ein betretenes Gesicht, weil er sie damit immer aufzog.

Claudia machte die Schritte zum Straßenrand und sah den Sportschuh einer bekannten Firma. Ein teures Stück, wenn auch altes Modell, dachte sie. Ihre Mutter trug seit Jahren, die gleichen, und schwor darauf. Das führte dazu, dass sie sich im Internet zehn Paare bestellte, bevor sie nicht mehr auf dem Markt waren. Die, den Schuhen anhängende, Gestalt lag im hohen Gras und wurde durch einen Strauch verborgen. Sie zückte ihr Smartphone.

»Thilo? Jetzt haben wir tatsächlich eine Leiche.« Sie beschrieb ihm den Weg und überlegte, ob sie das Präsidium benachrichtigen sollte. Das konnten die Kollegen tun.

»Frau Plum. Das war ein niederländisches Fahrzeug. Gestern Abend. Ich dachte, es wäre wieder Müll. Wer konnte ahnen, dass hier ein Mensch abgekippt wurde.

Die junge Frau, die sie ansprach, wohnte drei Häuser von Ihrem Haus auf der anderen Seite der Waldstraße. Sie sprach ihren Namen unsicher aus. Denn neu für das Dorf war, dass sie ihren Mädchennamen behielt. Für eine Zugezogene war das nicht tragisch. Sie brachte das dynastische Gefüge und die Besitzverhältnisse der Einheimischen nicht durcheinander.

»Einen Augenblick bitte.« Der Name der Nachbarin fiel ihr nicht ein. »Meine Kollegen sind jeden Moment hier.« Sie zuckte entschuldigend die Schultern. »Urlaub. Ich darf nicht arbeiten.« Sie wandte sich Kurt zu. »Wir gehen«, flüsterte sie. »Sonst kann ich meinen Urlaub vergessen.«

Er nickte und nahm sie am Arm. Kurt werkelte an dem alten Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Zwischen dem Saum des Waldes und der Grundstücksgrenze lagen keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen alten Kuhstall zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf dem Grundstück entsprachen der Norm. Es konnten auch manchmal vier oder fünf sein. Der Job ließ ihm im Grunde wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten. In dieser Hinsicht war er eigensinnig nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Erst seit dem er Claudia kannte, ging er den Alltag geruhsamer an. Na ja … ganz so freiwillig kam das Kürzertreten nicht. Kurt steckte seine Nase immer wieder in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit brachte ihn fast um. Ein Gutes entwuchs aus dieser Angelegenheit: Ihm wurde klar, dass es mehr im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er die feste Beschäftigung bei der RWTH reduzierte. Jetzt erledigte er viele berufliche Aufgaben von zu Hause. Das wiederum gab ihm Flexibilität, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia beobachtete die Entwicklung mit zwiespältigen Gefühlen. Zudem war Kurt ein Leichenspürhund. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, stolperte er darüber. Was nicht immer ohne Komplikationen blieb.

*

Verhängnisvolles Testament

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