Читать книгу Deutschenkind - Herbjørg Wassmo - Страница 10

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Deutschenkind! Sie hatte das Wort oft gehört. Es lag etwas Schlimmes darin. Ein Urteil.

Henrik hatte das Wort auch benutzt, nicht direkt ihr gegenüber, aber es war durch die dünnen Holzwände gedrungen. Sie hatte die Mutter fragen wollen, aber das Wort blieb ein Teil der Gefahr. Deshalb verdrängte sie es absichtlich, sie hätte es sonst nicht ausgehalten. Es konnten Wochen und Monate vergehen, ohne dass sie das Wort hörte.

Aber es kam immer wieder. Da hatte sie ein Gefühl wie damals, als die Jungen von Været sie hinterlistig dazu überredeten, auf Skiern einen steilen Hang hinunterzufahren, und sie nicht wusste, dass die Jungen mitten im Hang eine Schanze gebaut und den Aufsprung mit mehreren Eimern Wasser schön vereist hatten. Es gab keinen anderen Weg, wenn man erst einmal in der Luft war. Nur viel Sog und leeren Raum rundum. Das Einzige, was man wusste, war, dass man irgendwann landen musste.

Auf der Straße draußen galt ein eigenes Gesetz. Es war nicht immer dasselbe wie das der Erwachsenen. Und es war auch nicht dasselbe wie drinnen in der Küche.

Aber der Schmerz war von kurzer Dauer. Wie bei einem eingeklemmten Finger oder einer Schürfwunde. Es tat weh, so dass die Tränen liefen, egal. Das ging vorüber. Man brauchte sich nicht zu grämen, denn alle kamen an die Reihe.

Ole war der Stärkste und Größte, aber nicht der Schlimmste. Er hatte seine Schwächen. Er pinkelte nachts ins Bett. Und ab und zu roch es so, als ob er nicht genügend Zeit hätte, sich sauberzumachen, bevor er in die Schule ging. Der große Junge! Tora sammelte Schwächen – von anderen.

Sie sagte es ihnen nicht, denn das hätte nur zu Unfrieden geführt. Aber sie dachte daran.

Manchmal träumte sie davon, dass sie es ihnen zurückgeben würde, genau an der Stelle, wo sie am verletzlichsten waren. Aber es wurde nie etwas daraus. Tora war dünn und unansehnlich und klein. Das Einzige, wozu sie Kraft hatte, war der Ballweitwurf. Sie lief auch schneller als alle anderen, wenn es sein musste. Oder sie schlich sich fort, ohne dass jemand es merkte. Dann stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Sie bekam ihren Anteil von all den Schlägen, die auf der Straße ausgeteilt wurden. Aber die waren anders als die Prügel, die sie von Henrik bezog.

Auf dem gegenüberliegenden Ufer der Bucht, wo Heidekraut und niedriges Gehölz beinahe bis an den Wegrand wuchsen, konnte Tora das alte Jugendheim sehen. Es war eigentlich nicht alt, nur sehr verwahrlost. Einst war es rot angestrichen gewesen. Vor dem Krieg. Der Krieg war schon sehr lange her, aber Tora wusste, dass sie ein Teil von ihm war.

Sie hatte viele Geschichten über den Krieg gehört. Aus allem, was sie hörte, wuchs die schreckliche Erkenntnis, dass auch Mama ein Teil von ihm war.

Wenn Henrik vom Krieg sprach, ging Mama ans andere Ende des Zimmers und drehte denen, die gerade anwesend waren, den Rücken zu. Henrik verfluchte den Krieg mehr als jeder andere, denn er hatte ihm beinahe die linke Schulter abgequetscht und sie halbwegs in die Lunge gedrückt.

»Die verdammten deutschen Schweine!«, sagte er und bekam tiefe Furchen zwischen den buschigen Augenbrauen.

Alle waren einer Meinung mit ihm, trotzdem sahen sie weg und warfen Ingrid verstohlene Blicke zu, wenn sie Henriks Ausbruch miterlebten. Mama sprach niemals vom Krieg. Tante Rakel hatte einmal angedeutet, dass Toras Geburt die Großmutter das Leben gekostet habe. Das war nicht für Toras Ohren bestimmt gewesen, deshalb konnte sie auch nicht fragen. Tora fand es seltsam, dass ihre Geburt an Großmutters Tod schuld sein sollte, denn sie konnte sich noch deutlich an sie erinnern, an ein bleiches und mageres Gesicht auf einem weißen Kissen, drinnen in der Kammer bei Tante Rakel und Onkel Simon auf Bekkejordet. Tora wusste, dass alles rationiert gewesen war, so dass die Menschen wenig zu essen und anzuziehen hatten. Vielleicht hatte sie sich verhört, und die Tante hatte gesagt, dass dies die Großmutter das Leben gekostet habe.

Tora stellte sich öfter vor, wie Almar aus Hestvika während der Rationierungszeit auf dem Deck seines klobigen Fischkutters nackt und ausgehungert umhergewandert war. Das musste ein kalter und wunderlicher Anblick gewesen sein. Tora sah immer Almar vor sich und keinen anderen.

Auf der Heide stand also das Jugendheim. Es war auch ein Teil vom Krieg.

Dort hatte man einmal Mamas Haar bis zu der schneeweißen Kopfhaut abgeschnitten.

Tora hatte oft und von vielen davon gehört. Aber sie glaubte vor allem Sols Geschichte: Sie hätten der Mutter das Haar abgeschnitten, weil Tora im Krieg geboren worden war.

Tora dachte indessen, dass sie es sicher deshalb getan hatten, weil sie neidisch auf Mama waren. Denn sie konnte gut sehen, dass auch die neuen Haare ungewöhnlich dunkel und dicht waren. Mama hatte das schönste Haar in ganz Været. Aber dass die Leute so gemein sein konnten? Einmal hatte sie Tante Rakel gefragt.

Da hatte die Tante sie in den Arm genommen und gesagt, dass der Krieg viele Menschen schlecht gemacht habe und dass Tora die Mutter nicht quälen und nicht danach fragen solle.

Aber jedes Mal, wenn Tora an dem Jugendheim vorbeiging, war ihr, als ob sich unsichtbare Hände nach ihr ausstreckten und ihr Böses tun wollten. Das Haus hatte ängstliche kleine Fensteraugen und ein schiefes Muster auf den ausgeblichenen Gardinen, deshalb war es seltsam, dass sie solche Gefühle hatte. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeiner von den Menschen, die sie auf der Straße, in Ottars Laden oder auf dem Kai sah, die Mutter so gehasst haben könnte, dass er ihr das Haar abgeschnitten hatte. Da musste eher das Haus die Schuld tragen.

Dort war es passiert. Und dort konnte es nun stehen, allein mit seinem immer störenden, zum Moor hin niedergedrückten Drahtzaun und seinen ungestrichenen Wänden, sichtbar für alle Welt! Die Mutter ging niemals mit ihr dorthin. Am 17. Mai und an den Weihnachtsfeiern nahm Tora nicht wie die anderen Kinder teil, bevor sie in die Schule ging.

Tora bildete sich ein, wenn »das Haus« der Mutter nicht die Haare abgeschnitten hätte, dann würden sie bis zu den Hüften hinunterreichen. Sie konnte die Mutter vor sich sehen, im Wind über den Fluss gebeugt, während sie die Wäsche ausspülte. Das Haar schwamm zwischen den Steinen im Fluss direkt hinaus ins Meer. Sie erzählte es Sol.

Aber Sol war zwei Jahre älter und nahm das nicht ernst. »Keine bekommt so lange Haare. Das gibt’s nur im Märchen.«

Sol und der Rest von Elisifs Kindern wohnten genau über Toras Kopf. Morgens rauschte es lange und kräftig in den Rohren da oben. Es waren eben viele, die die Waschschüsseln füllen und sich waschen mussten, gebückt über die Torfkiste beim Ofen und bewacht von Elisifs strengen Augen.

Es scharrte und klopfte und hustete und weinte da oben. Und das musste auch so sein.

Aber es gab natürlich genug Leute, die meinten, es sei doch zu verrückt, dass Elisif die vielen Kinder hatte. Sie waren gezeugt von einem kleinen grauen Mann, der nie mit den Türen schlug oder zur Unzeit ein tadelndes Wort sagte. Ein sanfter Schatten, mit dem niemand an der Seite der starken, dominierenden Elisif rechnete. Indessen standen die Männer rundum an den Wänden in Ottars Laden und grinsten und überlegten, ob bei Elisif auch in diesem Jahr wieder vor Weihnachten etwas Kleines ankommen würde. Das war nicht immer so. Jørgen war jedenfalls am 18. Mai geboren. Tora schien es ein Trost, dass die Leute es für verrückt hielten, dass Elisif jedes Jahr ein Kind bekam. So war sie im Unglück nicht allein.

Als Tora klein war, saß sie bei Ebbe öfter unten am Strand und sah das Licht aus dem Grau und Blau aufsteigen und seinen Schein direkt in den Himmel hineingeben.

»Es ist der Himmel, der dem Meer und der Erde Licht gibt«, sagte Ingrid, als Tora versuchte, ihr verständlich zu machen, was sie sah. Sie saßen oft an der Flussmündung und aßen, während die Wäsche in dem mächtigen Waschkessel zwischen den Steinen kochte. Kaffeemulde nannten die Leute die Stelle. Dort konnte man im Kessel frisches Wasser aus dem Fluss holen und außerdem auf das Meer hinausschauen.

Tora glaubte nicht richtig, was die Mutter vom Licht und vom Himmel sagte. Denn das Meer war doch so unendlich tief. Ganze Schiffe und jede Menge Menschen konnte es verstecken wie nichts. Und doch war es so groß, dass es noch Platz hatte für alles andere, Fische und Tang, Netze und Steine.

Aber sie widersprach der Mutter nicht, sah nur verwundert auf das Glitzern dort unten im Brackwasser, folgte mit den Augen den Strömungen und Wirbeln bis dorthin, wo es das graue Salzwasser erreichte und unter zitternden Schaumkronen grünlich schimmerte. Tora hatte einmal Salzwasser getrunken, weil sie nicht begriffen hatte, dass ein Unterschied zwischen Meer- und Flusswasser besteht. Seitdem vergaß sie den Geschmack nie mehr. Deswegen hatte sie Angst, im Meer zu baden. Sie zog die Kolke im Fluss vor, auch wenn sie kälter waren. Und wenn sie hörte, dass jemand im Meer ertrunken war, hatte sie immer den salzigen, widerlichen Geschmack im Mund. Somit wusste sie ein wenig vom Sterben.

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