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Tora stand mit bloßen Füßen am Kammerfenster und sah, dass das Heidekraut braun und verblüht war. Die Überreste einer regenreichen Nacht hingen wie ein ausgewaschenes Gespenst über dem Veten und dem Hesthammeren. Weit draußen an der Fjordmündung, hinter Dahls Kai, lag dichter Nebel, leblos und ewig. Die kleinen Boote in der Bucht waren wie mit einem weichen Bleistift skizziert, und Tora wusste, dass an den dicken Johannisbeeren im Pfarrhausgarten große Tropfen hingen. In der Dachrinne gluckerte es.

Sie sah die scharfe Kurve, die der Weg unterhalb des Veten um die obersten Höfe machte, bevor er den Hang hinunterführte, um erst ganz draußen am Kai zu enden.

Eine Handvoll Häuser lag am Weg verstreut am Hang. Meist alte Häuschen mit niedrigem Dachstock und kleinen, verschämten Fenstern. Die Farbe blass wie bei verblassten Papierblumen und zum Teil auch abgeblättert. Ein paar moderne Klötze mit grellem Anstrich hocherhobenen Hauptes dazwischen. Einige hatten unverputzte Mauern, die sich mit bewundernswerter Sturheit im Lehmboden festkrallten.

Wie eine Verkündigung und wie eine Erinnerung an den Quell alles Guten brach plötzlich ein Strahl durch einen Spalt in der Wolkendecke. Die Sonne. Sie ließ die Zweige der Birkenallee, die zum Hof des Lensmanns hinaufführte, golden aufleuchten. Tora verfolgte den Schotterweg mit den Augen. Fing ganz oben in Bekkejordet an und wanderte dann vorbei an den Feldern und dem fröhlichen herbstbunten Heidekraut, vorbei an den Mooren und dem Birkenwäldchen, vorbei an den Trockengestellen und dem großen Stall, der nicht mehr benutzt wurde – wo verwahrloster, brachliegender Boden überging in kleine kahle Felsen und Tang und lebendiges, nasses Meer. Links, dort wo der Weg sich zu den Kais hin teilte, flog ihr Blick zurück in ihr eigenes Kammerfenster und war daheim. Im Tausendheim. Noch war es für einen Augenblick still im Haus. Dann brach es über ihrem Kopf los. Das waren Elisifs Kinder, die aufstanden und über den Boden polterten.

Die Geräusche waren weder angenehm noch unangenehm. Scharren, Trippeln, Elisifs gottesfürchtige Stimme, von der Tora wusste, dass sie kein bisschen böse war, auch wenn sie noch so sehr vom Jüngsten Gericht redete.

Sie hörte, wie die Mutter draußen in der Küche den Kaffeekessel mit Wasser füllte. Henrik würde noch nicht aufstehen. Bevor Tora in die Schule ging, gab es nur die Mutter und sie. Wenn Ingrid in der Fabrik war, dann war Tora mit den Brotscheiben und der Wanduhr allein.

Tora wusste, dass der Stärkste bestimmte und in allen Dingen recht hatte.

Es war wichtig zu wissen, wer der Stärkste war. Henrik war der Stärkste.

Denn er hatte zwar eine Schulter, über die die Leute ein wenig lachten und die keine richtige Schulter war, aber die andere war eben furchtbar stark. Und er sprach hastig und stoßweise, mit großem, offenem Mund.

Wenn er lachte, war es kein richtiges Lachen. Es hörte sich so an, als ob er traurig wäre. Wie eine Art Blubbern oder wie ein Unwetter in den Bergen. Henrik hatte oft schlechte Tage. Dann ging er nicht zu Dahl aufs Lager.

Mamas Tage waren weder gut noch schlecht, glaubte Tora. Sie sah immer gleich aus, nur manchmal etwas blasser. Gewöhnlich waren Mamas Augen groß und grünlich, mit einem dünnen Schleier davor, genau wie die Sommergardinen bei Tante Rakel. Aber plötzlich konnten sie die Farbe wechseln, die Gardinen wegziehen und Tora hineinsehen lassen.

Sie füllten sich mit Leben. Glichen Laubbäumen im Sommer, mit vielen kleinen Vögeln und schnell wechselnden Schatten. Es flatterte und lebte da drinnen in dem Grün. So war es fast immer, wenn Tora und die Mutter allein waren.

Henrik schlug härter als jeder andere, den Tora kannte. Mit der gesunden Hand. Es kam schon mal vor, dass Mama ihr eins mit der flachen Hand hintendrauf gab. Einen kleinen Klaps. Sie wollte Tora zu verstehen geben, dass sie traurig war. Die Klapse taten nicht weh. Mama schlug auch nicht oft. Nur wenn es sein musste. Tora durfte weinen, wenn die Mama schlug.

Wenn Henrik schlug, schrumpfte Tora ein. Wand sich gleichsam wie ein Lappen um seine Hand.

Sie hatte das Gefühl, keine Füße mehr zu haben, und es drückte so, dass sie beinahe Pipi gemacht hätte. Bis jetzt war es immer gut gegangen, denn sie erinnerte sich ja an die Tobiashütte.

Sie war wie die zerrupfte Katze, die die Jungen von Været zu Tode gequält hatten, weil sie niemandem gehörte. Sie hatten sie an einem Zaun gekreuzigt. Die Katze schrumpfte ein. War zum Schluss nur noch Fell und Pfoten.

Die Krähen hackten ihr schon am ersten Tag die Augen aus. Tora überlegte oft, ob die Katze genauso gefühlt hatte wie sie, dass sozusagen kein Platz zum Weinen da war. Es war alles zum Zerplatzen gespannt, aber es kam nichts heraus. Es war alles zu eng. Die Mutter sagte immer wieder, dass Henrik nicht böse sei. Tora hatte niemals gedacht oder gesagt, dass Henrik böse sei, deshalb verstand sie nicht, wieso die Mutter das sagte.

Es war, als ob sie Tora streng ansah und ihr in Erinnerung rief: »Henrik ist nicht böse!« Aber für Tora war Henrik weder böse noch gut, er war Henrik.

Tora zog Rock und Strümpfe an. Es war kalt in der Kammer, obwohl die Herbstsonne tat, was sie konnte. Aber es war noch früh am Morgen. Tora musste das Gesicht unter den kalten Wasserstrahl halten. Sie passte den Augenblick ab, da die Mutter mit irgendetwas draußen auf dem Gang beschäftigt war, dann brauchte sie nicht die Blechschüssel zu füllen. Ingrid war damit so genau. Sie sprachen beim Frühstück nicht viel. Aber die Stille war nicht bedrohlich, wie sie es wurde, wenn er dabei war. Wenn Henrik mit ihnen zusammen frühstückte, dann hielt Tora immer die Augen auf den Tisch gesenkt. Sie wusste, dass er sie beobachtete. Darauf wartete, dass sie etwas umstieß oder sonst etwas falsch machte. Sie hatte sich angewöhnt, nur das Allernötigste zu essen, wenn er dabei war. Und sie gab niemals Zucker oder Marmelade auf ihr Brot. Damit könnte sie doch kleckern. Käse war gut. Der klebte an der Butter fest, auf den war Verlass.

Das Milchglas war eine Heimsuchung. Sie hatte das Gefühl, dass es schon umkippte, wenn sie nur daran dachte. Als ob Henriks Augen ihre Hand dazu bringen konnten, alles Mögliche umzuwerfen.

Aber heute waren die Mutter und sie allein, und da nahm Tora sich Zeit und ließ ihre Augen wandern, wohin sie wollten. An einem solchen Morgen konnte Ingrid ihre Hand behutsam über Toras Schulter gleiten lassen, wenn sie mit dem Pappranzen fertig für den Schulweg dastand. Später sah Ingrid vom Fenster aus das magere kleine Mädchen mit den roten Zöpfen, die hinter ihr herwippten, an der Wegkreuzung verschwinden, zusammen mit den Kindern von Elisif und mit Rita vom ersten Treppenaufgang. Und Ingrid fühlte etwas wie Ohnmacht gegenüber allen Dingen.

Tora und Sol saßen im Laufe des Nachmittags in dem blau gestrichenen Klo, wenn die Erwachsenen Mittagsschlaf hielten oder mit ihren Dingen beschäftigt waren, so dass die Klobesuche nachließen. Die Mädchen schwatzten oder lasen Zeitung.

Das Phantom reitet auf seinem weißen Pferd durch den Dschungel, um Sala zu suchen. Die Trommeln haben gesagt, wo sie ist. Sol murmelt halblaut, während sie den gestreckten Zeigefinger gegen das Zeitungspapier und die Natur direkt unter dem molligen Hintern drückt. Es bläst oft sehr frisch dort unten. Bei Flut kommen kleine Wellen schmatzend den Hang hinauf, und der Kot fällt direkt ins Meer.

Bei Ebbe hört man beim Lesen kleine Plumpse und das Papier flattert heimatlos herum, bis es sich besinnt und seewärts zieht. Tora kann es nicht über sich bringen, sich mit Zeitungen abzuwischen, die nicht mehr als eine Woche alt sind. Sie können bei vielen Klobesuchen gelesen werden. Es gibt allerlei Sphären und Welten in den Zeitungen, die noch ergründet werden müssen, bevor die Zeitungen kassiert werden.

Hygieneartikel in geheimnisvollen Annoncen. Gabardinemäntel zu herabgesetzten Preisen.

Aber vor allem sind da das Phantom und Sala. Und Tora faltet die Zeitungen sorgfältig zusammen und legt sie zuunterst in den Stoß der Ablage. Unter die uralten Illustrierten, die zu steif sind, um sich damit abzuwischen. Unter die glitzernden Sommertitelseiten und eine Nummer von Allers von vorigem Ostern, wo das Küken auf dem Titel in zwei Teile zerrissen ist. Ab und zu reißen sie ein Bild heraus und befestigen es an der Wand. Aber es gibt nicht genug Reißnägel.

Das Klo war in grauer Vorzeit einmal weiß gewesen. Es hatte zwei Türen mit dreieckigen Fenstern, um Licht und Luft hereinzulassen, aber die Fenster waren in züchtiger Höhe angebracht, die einen Einblick unmöglich machte.

Ursprünglich waren das Pfarrhausklo und das Tausendheimklo beide weiß gestrichen und majestätisch gewesen. Nun lag über Letzterem eine wehmütige, abgeblätterte Größe – wie jemand, der schon auf bessere Klos gegangen war, schnell feststellen konnte. Die eine Klotür war für Männer, die andere für Frauen und kleine Kinder.

Das Männerklo wurde gelegentlich mit dem Schlauch vom Fischereibetrieb abgespritzt. Er wurde mit großer Aufregung und viel Geschrei den leicht geneigten Hang von der Anlegestelle bis zum Tausendheim hinaufgezogen. Das geschah nicht oft. Erst wenn es so fürchterlich war, dass die Männer freiwillig nicht mehr hingingen.

Die Frauen hatten ein Stück von einer alten Gardine vor dem Dreiecksfenster und einen Sack auf dem Boden. Im Sommer standen manchmal Glockenblumen und Margeriten in einer Blechbüchse auf dem Brett über den Sitzen. Es gab ein kleines Loch und zwei große. Ab und zu waren alle drei gleichzeitig besetzt. Besonders an späten Herbstabenden und wenn die Winterstürme und die Polarnacht Körper und Seele am schlimmsten belasteten.

Es war, als ob die Kälte weniger zubiss, wenn man in der Dunkelheit ein entblößtes Hinterteil und eine Stimme neben sich hatte. Es war der gleiche menschliche Geruch und der gleiche warme Dampf aus dem Inneren und Versteckten; das tröstete und schuf eine gewisse Gemeinschaft, über die man nicht zu reden und von der man kein Wesen zu machen brauchte.

Man klopfte diskret an die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, flüsterte ein paar Worte durch den Türspalt zu der einen oder anderen. Und schon war die schwesterliche Gemeinschaft besiegelt, und der Gang zum Klo war klar. Geflüsterte Weltanschauungen, vertrauliche Mitteilungen aus dem Reich der Absonderungen oder über die unbändige Bosheit des Herzens gehörten dazu. Da wurden nicht nur die Abfallstoffe der Natur ausgeschieden. Auch Seelsorge und Trost wurden während der Dunkelzeit in dem kalten Kloraum gespendet. Die Menschen spürten den Wind, der vom Meer her in die offenen Löcher wehte, nicht so sehr, wenn sich mehrere Hinterteile dort niederließen.

Die Männer dagegen hatten einen einsamen Klogang. Aber sie hatten eine andere Gemeinschaft, von der die Frauen ausgeschlossen waren. Nämlich den Schwatz und das Schnäpschen auf den Dachböden der Fischerhütten und den Spaziergang in Været an Sonn- und Feiertagen.

Sie zeigten ihre Angst vor der Dunkelheit nicht so offen, die Kerle.

An dem Tag, als Einar in die Dachstube über der Veranda gezogen war, hatte er kritisch nacheinander beide Klotüren geöffnet. Und nachdem er festgestellt hatte, dass das Frauenklo gemütlicher und einladender war, ging er dort hinein und verriegelte vorsichtshalber die Tür. Das war ein großer Fehler, den Einar da im Tausendheim machte. Er wurde ihm nie richtig verziehen.

Als er wieder auf die Klotreppe hinaustrat, ohne sich die Hose anständig zugeknöpft zu haben, waren bereits drei Fenster zum Hof hin aufgerissen worden.

Drei Frauengesichter kamen zum Vorschein. Das eine erboster als das andere. Elisif war die Erste gewesen. Sie hielt die Strickjacke mit festem Griff über der üppigen Brust zusammen und öffnete den Mund zu einem spitzen Trichter. Ihr weißes Gebiss funkelte bedrohlich, und die Worte kamen wie Peitschenhiebe an diesem lichtblauen Tag.

»Was machste aufm Frauenklo, wenn ich fragen darf?«

Einar stand halb abgewendet auf der schiefen Holztreppe, die rechte Hand am Hosenlatz und die linke am Türhaken. Sein Unterkiefer klappte einen Augenblick herunter, als er den Kopf drehte und die drei Frauenköpfe an der unsauberen Hauswand entdeckte. Drei unversöhnliche, weiß gemeißelte Gesichter vor dem gespenstisch grauen Hintergrund.

Einar schluckte. Dann fasste er sich, zog blitzschnell die rechte Hand aus dem Hosenlatz und versteckte sie hinter dem Rücken. Er wagte nicht einmal, sie in die Tasche zu stecken, so verdutzt war er über diese enorme Kuckucksuhr von Haus, wo gleichzeitig drei Köpfe mit weit aufgerissenen Schnäbeln draußen waren und schrien. Einar schluckte noch einmal, bevor ihn der Zorn wie ein stechender Frostschmerz überfiel und er schwer atmend und mit rauer Stimme rief: »Was zum Teufel krähste da oben? Darf man hier nicht mal mehr scheißen?«

»Du warst aufm Frauenklo! Ich hab dich gesehn!« Elisif kannte keine Gnade. Eine strafende Donnerstimme in hoher Tonlage.

Aber Einar hatte sein Selbstvertrauen wiedergewonnen. »Ist da ein Unterschied zwischen Männer- und Frauenklo? So fein wie hier in Stranda war’s nicht mal beim Pastor, wo ich herkomm. Dem Pastor seine hatte keinen so piekfeinen Arsch, dass sie ein Klo für sich haben musste wie die Weiber hier im Tausendheim.« Und ohne sich weiter um Elisifs Gekeife zu kümmern, schritt er über den Hof und betrat den mittleren Eingang. Er schloss die Verandatür mit einem Knall und stapfte wütend die alte Holztreppe hinauf, so dass die Messingbeschläge ganz außen an jeder Stufe leicht zitterten.

Kurz darauf saß Einar auf seinem Sofa und blinzelte unfreundlich die Wand an. Der Teufel sollte die Weiber holen. Er wollte sich selbst nicht eingestehen, dass er immer noch Herzklopfen hatte.

Er benutzt das Frauenklo nie mehr. Trotzdem guckt er jedes Mal böse auf Elisifs Fenster, wenn er über den Hof geht, um seine Notdurft zu verrichten. Und wenn er irgendwo im Haus ihre hohe, dünne Stimme hört, bekommt er ab und zu ein ganz unangebrachtes Herzklopfen, dessen er nicht Herr wird. Das macht ihn rasend. Denn Einar ist ein Mensch, der in jeder Beziehung allein im Leben zurechtkommt. Er fürchtet weder Pastor noch Weiber.

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