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Der Herbst war die Zeit der Reisig- und Torffeuer. Die Leute bereiteten sich auf den Winter vor und waren im Haus beschäftigt.

Alle warteten mehr oder weniger auf die große Geschäftigkeit, wenn der Fisch an Land kam.

Da waren Nerven und Glieder angespannt, und man fragte nicht nach Tag oder Nacht, nach Arbeitslust oder Müdigkeit. Einige standen in der Fischfabrik oder in der Gischt. Andere standen am Küchenfenster oder mit dem Ohr dicht am Radio. Kinder weinten, und das Vieh musste gefüttert und der Stall ausgemistet werden, auch wenn die Frauen allein waren. Sie beklagten sich nicht. Es war wichtig, möglichst viel aus der Fischsaison herauszuholen. Da bekamen viele diese Chance zum Geldverdienen. Das war aber auch alles. Ottar und Grøndahl mussten ihr Geld für die Nahrungsmittel bekommen, die vielleicht schon als Mist ausgebreitet auf den kleinen, steifgefrorenen Äckern lagen oder an heimlichen, versteckten Stellen zwischen Tangbüscheln an der Flutgrenze schaukelten. Die Kinder brauchten neue Stiefel und Skihosen und Kleider für drinnen, damit sie sich sehen lassen könnten, wenn es Weihnachten wurde.

Den Torf nahm man nur zum Feueranmachen, dann kam der Kohlenhändler zum Zug. Wer später im Jahr schlachtreife Schafe im Stall hatte, konnte sich freuen, wer aber das Fleisch kaufen musste, konnte bluten. Solchen Leuten blieb nichts anderes übrig, als den Kopf über Wasser zu halten und das Leben weitergehen zu lassen. Schweinefleisch sollte der Teufel essen. Denn nur bessere Leute und solche mit einer tüchtigen Frau im Hause, die ein Schwein zu mästen verstand, konnten sich diesen Luxus leisten. Simon auf Bekkejordet behauptete, dass eine ordentliche Frau der halbe Lebensunterhalt sei.

Damit habe er recht, meinten alle, die Rakel kannten. Alle wussten, dass sie das Zeug zu mehr in sich hatte, als sich nur völlig zu verausgaben.

Rakel verwaltete Simons Besitz und seine Schulden. Ab und zu beschummelte sie ihn auch ein wenig. Aber niemals aus Bosheit. Nur um ihm das Bitten und Betteln um Geld zu ersparen, für Dinge, von denen er einfach nicht begriff, dass sie nötig waren.

Rakel hatte ihre Notgroschen in einer Schatulle. Mit der Zeit waren das übrigens nicht gerade wenige.

Wenn sie etwas davon nahm, so musste das sein, und sie trauerte dem Geld nicht nach. Aber sie war nie blank. Sie hatte schon schlechtere Zeiten erlebt als jetzt bei Simon. Simon erlaubte es sich, über Rakels Schatulle zu lächeln, er mischte sich jedoch in ihre Angelegenheiten nicht ein. Sie ihrerseits ließ ihn niemals merken, dass sie über Geschäft, Mannschaft und Boot Bescheid wusste.

Es gab auf Bekkejordet auch einen verborgenen Brunnen. In diesem Brunnen wäre Simon einmal beinahe ertrunken. Da war Rakel aus der warmen Stube herausgekommen und hatte ihn aus der Kälte geholt.

Im tiefsten Herzen wusste Simon, dass Rakel als Letzte untergehen würde, wenn etwas Schlimmes passierte und sie Schiffbruch erlitten. Rakels Stärke verwirrte und überraschte ihn, gerade deswegen, weil sie nicht in den Fäusten lag. Rakels Stärke war unantastbar.

Das hatte er vor allem begriffen, als sie aus der Stadt kam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne. Sie hatte in dem neuen, großkarierten Mantel dagestanden und mit den Händen gestikuliert.

Der Doktor hatte es gesagt: nach siebenjähriger Ehe keine Hoffnung mehr auf Kinder. Da hatte sie sich eben einen Mantel gekauft. Sie sagte das ebenso verbissen und tränenlos, wie sie es hinnahm, dass sie noch einmal putzen musste, wenn die Arbeiter nach der Kartoffelernte da gewesen waren. Kein Kind! Es lag an ihr.

Sie hatte unten im Betrieb in der blauen Bürotür gestanden. In seinem Reich hatte sie sein Versagen auf sich genommen.

Denn es war kein Leben in Simon Bekkejordets Samen. Er war oft nahe daran gewesen, es ihr zu sagen, aber er brachte die Worte einfach nicht heraus. Wusste, dass sie sich sehnlichst ein Kind wünschte. Er überlegte genau, was er sagen wollte. Aber wenn der Augenblick kam, wurde es doch nicht gesagt. Es ging einfach nicht. Zuletzt bedrückte es ihn so, dass er anfing, sich von ihrem Bett fernzuhalten. Er machte sich mehr und mehr im Betrieb zu schaffen, so dass sie eingeschlafen sein musste, wenn er nach Hause kam.

Vielleicht hatte sie deshalb die Schatulle aufgeschlossen und war in die Stadt gefahren.

Rakel verwaltete das, was Simon nicht hatte, genauso gut wie das, was er hatte, so sah es jedenfalls aus.

Da hatte sie nun in dem neuen Mantel gestanden und ihm mit den ehrlichsten Augen der Welt ins Gesicht gelogen. »Ich kann keine Kinder kriegen, Simon. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen oder kinderlos bleiben.«

Am Abend hatte er sie genommen, erst etwas schamhaft wie ein dankbarer Hund. Da hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihn so nicht haben wollte. Und er hatte sich tief in sie hineingegraben und die Sicherheit gefühlt, einen Menschen bei sich zu haben, der ihm mindestens ebenbürtig war im Körper und im Willen. Sie waren wach beieinander, bis der Tag kam und die Arbeit mit dem großen Vorschlaghammer vor dem Bett wartete. Beide lebten voller Wärme und Nähe füreinander. Beide wussten.

Rakel schaffte sich eine Katze an.

Der Regen hatte sie überfallen, und unter den Bergkämmen lag der Nebel, dicht wie alte Bosheit.

Die Berge im Süden gehörten nicht mehr zur sichtbaren Welt. Die Leute heizten ein, schlossen die Haustüren und maulten über die undichten Fenster. Sie suchten Wolljacken und -hosen hervor und grausten sich vor dem notwendigen Geschäft in dem kleinen Häuschen.

Man knöpfte alles gut zu, wenn man hinausging. Die Gesichter lugten weiß und leuchtend aus den Kleiderbündeln, wenn man unterwegs Menschen traf.

Am liebsten hockten sie dicht beieinander in den eigenen vier Wänden. Hielten Abstand zu allem, was außerhalb war. Da gab es kein Rufen mehr über Gartenzäune, von denen die Farbe abgeplatzt war, und über rostige, quietschende Wäschegestelle. Die Kartoffeln waren im Haus. Die paar Johannisbeeren, die noch an den Sträuchern hingen, sollten in Gottes Namen die kleinen Vögel fressen.

Einige Laken und Kissenbezüge hingen dort draußen zwischen den Unterhosen und tanzten im Wind. Aber am Morgen knackte es gewöhnlich in ihnen, wie sie da so in Reih und Glied hingen und sich steif hin und her bewegten. Sie baumelten wie vergessene Leichen in dem eisigen Luftzug.

In Bezug auf die Unterwäsche besteht ein großer Unterschied zwischen einem Nordnorweger und einem Südnorweger.

Der Wintermensch hat bedeutend weniger in sich, ist aber umso besser ausgerüstet.

Das Leben am Kai verlief träge. Es war, als ob beim Winterfischfang an Treibstoff gespart würde. Auf ihren Booten gingen die Männer rund um die Ladeluken und hatten nichts zu tun. Große Hände schlenkerten an der Ölhose entlang oder pusselten ein wenig mit dem Tabak und der Pfeife herum.

Ab und zu rissen die Männer sich zusammen und schlugen in rasendem Tempo die Arme über der mit der Arbeitsbluse bekleideten Brust zusammen, bis die Hände von der stärkeren Durchblutung und vom Frost glühten.

»Was treibst du dich denn hier rum?«, konnten die Männer irgendein Kind anschreien, das den Südwest nicht respektierte, sondern einen Spaziergang zwischen den Hütten oder hinter den Bootsschuppen machte.

Aber viele Männer waren auch um diese Zeit gutmütig und hatten nicht vergessen, dass sie selbst einmal jung gewesen waren. Diese Männer hatten oft leisen Spott im Auge und ein Scherzwort im Mundwinkel, wenn Tora und die Tausendheimbande vorbeikamen.

Regennasse, glühende Gesichter und quatschende Schuhe an dem einen Tag, eiskalte, schmerzende Finger und triefende Nase am anderen. So war das eben.

Galoschen mit einem Einmachgummi über dem Rist an dem einen Tag und dicke Socken am anderen.

Den ganzen Oktober und November war es grau und neblig, aber die Nächte waren trotzdem eiskalt und schlimm und hatten einen tückischen Mond, der für den nächsten Tag gutes Wetter versprach und log. Denn lange bevor die Hühner draußen im Schuppen der Kampfertropfen-Anna zu rumoren anfingen und allmählich an den Tag glaubten, goss es von einem lebensfeindlichen Himmel herunter und gluckste und rann in den morschen Dachrinnen vom Tausendheim. Die Männer trafen sich in dem neuen Laden in Nordvika oder in der alten, dunklen Hütte von Ottar. Sie schwatzten und blieben hängen. Nach ein paar Stunden kam vielleicht der eine oder andere darauf, dass er noch einkaufen musste. Das brauchte dann auch seine Zeit und hatte keine große Eile.

Ottar stand hinter dem Ladentisch und wog ein bisschen und maß ab. Er rechnete und beteiligte sich an den Klagen über das Wetter, wenn er gerade nichts anderes zu tun hatte.

»Der Teufel soll das Wetter holen«, konnte er ehrlich überzeugt und mit mühsam unterdrücktem Zorn sagen, wenn er den Südwester aufsetzen musste, um nach draußen zum Lager zu gehen und Heringe oder Sirup zu holen. Denn Ottar hatte einen »Scheitel«.

Die dünnen Haare von unbestimmter Farbe waren sorgfältig gekämmt, mit einem Scheitel auf der rechten Seite. Das hätten sie damals in Bodø so gehabt, als er dort als Verkäufer gearbeitet hatte, erklärte er stolz.

Bei den täglichen Anforderungen hatte er natürlich nicht die Zeit, sich dauernd zu kämmen, deshalb benutzte er einen großen Südwester, wenn er nach draußen musste. Dieser hing stets griffbereit auf einem Nähgarnröllchen hinten bei der Tür mit dem abgesprungenen Emailleschild, das die Aufschrift PRIVAT trug.

Aber lästig war es sowohl mit dem Südwest, der draußen wütete, als auch mit dem Südwester, der drinnen am Haken hing. Es konnte ihm passieren, dass er schon am Kai war, bevor er sich an seine Kopfbedeckung erinnerte. War es windig, was sehr oft der Fall war, dann war der ganze Scheitel zum Teufel. Dann musste er hinauf ins Private eilen und seine Haare in Ordnung bringen, während kostbare Verkaufsminuten sich in Luft auflösten. Denn die heimliche kleine Glatze musste vertuscht werden, koste es, was es wolle.

Das Wetter war nicht dazu angetan, dass ein armer Teufel wegen eines Mittagessens nach draußen schleichen mochte. Gute Mächte schienen zu meinen, sie sollten mit den Händen im Schoß dasitzen und sich zu Tode hungern, obwohl die Speisekammer gleich vor dem Kai lag. Die Männer spuckten in den großen Napf an der Tür, ob sie nun Tabak kauten oder nicht, und waren sich einig.

Tora saß auf einer Tonne hinten in der dunkelsten Ecke und wartete. Sie hatte eine Liste mit dem wenigen, was sie einkaufen sollte.

Die Wollstrümpfe kratzten. Die Mutter hatte sie ihr auch dieses Jahr wieder aufgezwungen. Jedes Mal, wenn jemand kam oder ging, spürte sie den Luftzug langsam herangleiten und genau die Stelle finden, wo die Hosenkante aufhörte und die bloße Haut zum Vorschein kam, weil sie im letzten Sommer so gewachsen war, dass die Strümpfe zu kurz geworden waren. Sie merkte die Kälte nicht sofort, die schlich gleichsam lauernd, wie mit Eisnadeln, die Schenkel herauf.

Ihr graute vor dem Augenblick, da Ottar ihr zunicken würde und sie an der Reihe wäre, denn sie hatte auch heute kein Geld mit. Nur den Zettel, feucht von den schweißnassen Händen und dem Regen. Auf dem Zettel stand in Ingrids Schrift:

¼ kg Kaffee

1 kg Margarine

1 kg Weizenmehl

100 g Hefe

1 l Sirup

Kannst du das bitte anschreiben, bis ich herunterkomme?

Ingrid

Ottars Gesicht warf Falten in der verkehrten Richtung und wurde ein wenig dunkler, als sie ihm den Zettel gab. Er räusperte sich und holte ihr die Waren. Danach nahm er das große, dicke Buch, das einmal grün gewesen war und ein marmoriertes Muster in allen Farbschattierungen aufwies.

Langsam und traurig suchte er Ingrid Tostes Namen, den Zeigefinger drohend vor sich haltend. Dann fügte er den neuen Betrag zu den vielen anderen, die schon dastanden. Zuletzt schlug er das Buch mit einem Knall zu und seufzte halblaut.

In dieser ganzen Zeit war Tora von einem Fuß auf den anderen getreten und hatte das Gefühl gehabt, Ameisen zwischen ihren Kleidern und dem Körper herumkrabbeln zu spüren.

Dauernd hätte sie Pipi machen können. Obwohl sie sich, bevor sie in den Laden gegangen war, noch hinter den hohen Holzzaun gehockt hatte.

Aber die Waren bekam sie, wie immer.

Es war noch nie vorgekommen, dass Ottar Lebensmittel verweigert hätte, die man zum Brotbacken brauchte.

Tora schlich sich zwischen den Männern durch, deren Gesichter hoch oben zusammenflossen. Augen und nochmals Augen. Münder, die kauten, Münder, die sich um den Pfeifenstiel zwischen gelben Zähnen schlossen oder halboffen und neugierig über ihr standen. Wenn die Messingglocke an der Tür leise klingelte, war das sowohl ein gutes als auch ein schlechtes Zeichen für Tora. Es kam darauf an, in welche Richtung ihre Nase und ihre Zehen zeigten. Hinein oder hinaus.

Zitternd und außer Atem hielt sie so schnell wie möglich hinter dem Holzzaun an und erleichterte sich. Dann eilte sie die Straße entlang und den Hang hinunter zum Tausendheim. Sie sprang über die Pfützen, und die Waren schlugen ihr gegen die Beine. Der alte schwarze Regenmantel hing wie ein Segel hinter ihr, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, ihn zuzuknöpfen.

Eigentlich wusste sie nicht, was passiert wäre, wenn sie nicht mehr rechtzeitig aus dem Laden gekommen wäre, nachdem Ottar die Waren im Buch notiert hatte. Hier hörte die Phantasie auf. Und Ottar vom Laden wurde gleichsam Jesus und Gott und der Pastor und der alte Lehrer und Henrik in einer Person. Das hielt sie nicht aus. Sie musste fliehen.

Als sie nach Hause kam, schimpfte die Mutter nicht, weil sie die Treppe heraufgepoltert war und die Stiefel noch in der Wohnung anhatte. Sie nahm nur die Einkäufe entgegen und berührte Tora flüchtig mit der freien Hand. Sie lächelte schwach, als ob sie noch etwas sagen wollte.

Aber Tora rannte die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße zu den anderen, die struppigen roten Zöpfe wie gefärbte Sisalstummel hinter sich und eine wunderbare, flüchtige Freude in sich. Sie war gerettet. Auch diesmal. Sie konnte die nächste Einkaufstour mit gutem Gewissen verdrängen. Runter in den Bauch damit!

Sicher, sie fühlte sie manchmal wie eine Ratte nagen, wenn der Tag sich näherte. Besonders wenn sie in der einsamen, warmen Dunkelheit ihres Bettes lag. Aber in dem Augenblick, wenn der Einkauf vorüber war, gab es keine Sorgen mehr.

Als sie abends mit steifen Händen und roten Ohrläppchen nach Hause kam, roch es im ganzen Treppenhaus nach Brot. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und sie sauste die Treppe hinauf. Ihre dünnen, geraden Beine waren unglaublich stark, wenn es darauf ankam. Die Brote lagen noch zum Abkühlen auf dem Küchenschrank. Nichts war dem Geruch von Mutters Brot vergleichbar. Sogar Henrik bekam ein gutes Gesicht, wenn er das Brot witterte. Er konnte sich dann neben den Küchenschrank setzen und seine Finger mit irgendetwas beschäftigen. Er war mit der einen Hand, in der er Kraft hatte, außerordentlich geschickt, und er half mit der anderen, soweit er es vermochte. Aber nur, wenn er wollte.

Tante Rakel meinte, dass er, geschickt wie er war, mit dem Reparieren von Netzen sehr wohl etwas verdienen könnte, wenn er nur nicht eine Frau hätte, die alles herbeischaffte, was sie brauchten. Aber Ingrid antwortete nie auf solche Bemerkungen. Sie stellte sich ganz einfach taub. Tora wusste, ohne Tante Rakel hätte es in den Zeiten, als die Mutter arbeitslos gewesen war, nicht sehr gut bei ihnen ausgesehen.

Abends waren sie allein, die Mutter und sie. Henrik saß unten in der Arntsen-Hütte. Tora hatte seine Stimme durch das offene Fenster gehört, als sie mit den anderen Kindern zwischen den Tonnen Versteck spielte und an dem Fenster vorbeigestrichen war. Es war Samstag, und einige Männer vertrieben sich dort die Zeit. Tora hängte ihr nasses Zeug zum Trocknen in die Nähe des Ofens. Sie legte noch ein paar Schaufeln Kohle auf, nur um der Mutter zu zeigen, dass sie ihr gerne zur Hand ging.

Ingrid nähte. Sie saß über die alte schwarze Nähmaschine gebeugt, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Nun erhob sie sich langsam, reckte den Rücken und stützte ihn mit der rechten Hand. Sie sah blass und müde aus, aber sie lächelte. Es war ein richtiges Lächeln, als ob sie an etwas Schönes dächte. Dann ging sie hinüber zum Küchenschrank und nahm eines der frischen Brote heraus. Schnitt mit raschem, sicherem Griff in das weiche Brot, das jedes Mal nachgab, wenn sie das Messer durch die goldgelbe Kruste drückte. Die Kruste war knusprig und gab bei jedem Schnitt einen Laut von sich, als ob sie um Gnade bäte. Ingrid schmierte reichlich Butter auf die Brotscheiben und ließ den Zuckerlöffel darüber vibrieren, so dass es weiß und schön auf die ganze Scheibe rieselte.

»Was hat er gesagt, der Ottar?«, fragte sie und bestreute eine zweite Scheibe mit Zucker.

»Nee-ee, er hat nichts gesagt … Ich mein, er hat nur mit den Mannsleuten geredet, die da standen.«

Tora zögerte so lange, dass die Mutter sich umdrehte und Tora das Gesicht zeigte, das sie heute Abend am wenigsten sehen wollte. »Warum sagste das? Warum sagste nicht, wie es ist?« Das klang ärgerlich und ängstlich.

»Was soll ich da sagen?« Toras Stimme war zaghaft, aber sie streckte die Hand nach der Schnitte aus, die die Mutter ihr reichte.

»Setz dich ans Tischende und streu den Zucker nicht überallhin!«

Tora ließ sich am Küchentisch nieder und stellte einen Teller unter die Schnitte, so wie es die Mutter haben wollte. Dass sie es immer wieder fertigbrachte, die Mutter in schlechte Laune zu versetzen. Immer machte sie alles falsch. Es war wie verhext! Und das heute Abend, wo sie allein waren und es so schön hätten haben können.

»Der Ottar hat nichts zu mir gesagt. Das ist bestimmt wahr. Wenn du meinst, er hätt was zu mir sagen sollen, weil ich die Sachen hab anschreiben lassen, so hat er nichts gesagt, Ehrenwort!« Sie schwiegen beide. Ingrid hatte sich wieder dem Küchenschrank zugewandt. Der Zucker knirschte laut zwischen Toras Zähnen. Sie konnte es nicht ändern, denn es schmeckte so gut, und sie war hungrig.

Es trommelte jetzt gegen die Fensterscheiben. Der Regen schloss sie zusammen dort ein. Die Mutter schien das auch so zu sehen, dass nur sie einander hatten, denn plötzlich drehte sie sich um, sah Tora freundlich an und sagte: »Nein, es ist wohl so. Der Ottar ist nett. Du sollst übrigens nächste Woche mit Geld hingehn. Ich werd im Lensmannshof was kriegen fürs Extrawaschen. Ja, und dann krieg ich ja auch die Lohntüte, weißte. Du kannst damit gehn, du!«

Tora kaute und lächelte. Im Geiste sah sie mindestens zehn Zahlen in Ottars Buch vor sich. Aber sie sagte nichts. Rutschte nur unruhig hin und her und leckte den Zucker auf, der auf den Teller gefallen war. Sie nahm dazu den Finger, drückte ihn kräftig auf die Zuckerkrümel, so dass sie zum Mund mitkamen.

»Sitz nicht so da«, sagte die Mutter. »Es ist ekelhaft, beim Essen an den Fingern zu lecken.«

Tora senkte den Kopf und hörte auf, Zucker zu lecken. Sie bekam einen Knoten im Magen, und die Brotscheibe, die ihr gerade gereicht wurde, war zu groß. Sie fühlte sich so elend, dass sie keinen anderen Rat wusste, als die Mutter noch einmal anzulächeln. Aber es gelang nicht recht, und die Mutter sah es auch nicht, denn sie hatte sich wieder zum Küchenschrank umgedreht, um das Essen wegzuräumen. Dann ging Ingrid zu dem Tisch, auf dem die Nähmaschine stand. Immer mit dem Rücken zu Tora. Tora fühlte eine Leere in sich. Mamas Rücken schien ihr die ganze Zeit feindlich gesonnen zu sein.

»Soll ich dir Kaffee kochen?«, fragte sie nach einer Weile vorsichtig.

Ingrid wandte sich langsam um und sah das Mädchen an, als ob sie sie vorher nicht richtig gesehen hätte. Blinzelte, als ob sie schlecht sähe, nachdem ihre Augen sich an das starke Licht über der Nähmaschine gewöhnt hatten und nun plötzlich in die Dunkelheit hineinschauen sollten.

»Nein, Tora … Aber du kannst mir helfen, die Jacke anzuprobieren. Ich plag mich mit den Ärmeln. Die Rakel ist ja kleiner als ich. Schmaler. Deswegen muss ich Keile einsetzen, guck! Aber das Wenden ging gut. Die Jacke sieht wie neu aus.«

Sie hielt Tante Rakels abgelegte und gewendete Sonntagsjacke vor Tora hoch. Tora wischte sich den Mund ab und stürzte zu ihr hin. »Ja! Was soll ich machen?«

Die Mutter erklärte und dirigierte. Sie zog die Jacke an und drehte sich vor dem Spiegel, den sie aus der Stube geholt und gegen eine Stuhllehne gelehnt hatte. Tora steckte die Stecknadeln dorthin, wo Ingrid hinzeigte. Die nackte Birne über dem Tisch legte einen Glorienschein um die beiden einander zugeneigten Köpfe. Nach einer Weile war die Anprobe beendet, und Ingrid setzte sich wieder an die Nähmaschine. Es summte, wenn sie die Handkurbel in Bewegung setzte. Tora hing über dem Tisch und sah zu. Wagte es jetzt. Sie hatte den Stuhl herangezogen und konnte den ganzen Arbeitsablauf verfolgen.

Die Mutter war zufrieden. Die Jacke sah gut aus, und ein Ende der Arbeit war abzusehen. Die tiefe Falte zwischen den Augen verschwand. Sie glättete sich auf eine so feine Weise, dass es Tora innerlich ganz warm wurde.

Dann bat die Mutter sie, doch Kaffee zu kochen. Und sie sprachen davon, wie erstaunt Tante Rakel sein würde, wenn sie sah, wie schön die Jacke geworden war.

Sie waren noch nicht fertig, als Henrik kam. Hatten nicht darauf geachtet, dass unten die Haustür ging, denn sie erwarteten ihn an einem Samstag erst später.

Er war nicht so fürchterlich voll, das konnte Tora sehen. Setzte sich an den Küchentisch und wollte schwatzen.

Er gab Tora die Schere, die auf dem Tisch liegen geblieben war, nachdem sie für die Mutter Fäden abgeschnitten hatte. Für Tora schien die Schere nicht mehr dieselbe zu sein. Diese hier war kälter. Fremd. Es war auf sonderbare Weise ekelhaft, sie entgegenzunehmen. Deshalb tat sie es ordentlich und ruhig. Ohne ihn anzusehen. Sie sagte laut: »Danke!«

Später fragte er, wie es in der Schule gehe. Aber da war er bereits ganz schläfrig geworden, und Ingrid stand von der Nähmaschine auf und half ihm ins Bett.

Als die Mutter und Henrik in die Stube gegangen waren und Tora sie zusammen durch die halboffene Tür sehen konnte, überfiel sie eine plötzliche Übelkeit. Sie beeilte sich, in ihre Kammer zu kommen, und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.

Es war kalt da drinnen. Alles war still, und niemand sah sie. Sie stand mitten im Raum und hatte Mitleid mit dem Engel, der unter Glas im Rahmen an der Wand hing. Er hielt sich die eine mollige Hand an die Wange und blickte ins Leere.

Er war ganz allein.

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