Читать книгу Deutschenkind - Herbjørg Wassmo - Страница 6
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ОглавлениеTora konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie einmal auf einen Hocker geklettert war und einen schwarzen Knopf neben dem Türrahmen angefasst hatte. Eine ungeduldige Stimme hatte gesagt: »Nein, du musst drehen. Du musst drehen – so!« Die Stimme war tief und hart und machte alles um sie herum so merkwürdig leer, machte die ganze Welt tot. Die große Hand presste sich um ihren Handrücken.
Die Finger taten weh, als die große Hand drehte und sowohl ihre Hand als auch der Schalter gehorchen mussten.
Dann flammte grelles Licht im Raum auf. Füllte alle Ecken aus, schmerzte hinter den Augen, schmerzte so, dass es im Kopf rauschte. Da dachte sie an die große Muschel, die sie so oft ans Ohr gehalten hatte, um das Meeresrauschen aus dem Märchen zu hören, so wie die Großmutter es ihr gezeigt hatte, bevor sie starb. Es war aber nur eine Art Pfeifen in der Muschel, ein klagender, schmerzlicher Laut, ganz anders als das, was sie sich vorgestellt hatte. Das Märchen war weit entfernt von dem pfeifenden Geräusch, das sie in der Muschel hörte.
Ähnlich war es mit dem Licht, das von dem Schalter und der großen Faust beherrscht wurde. Es war auf keinen Fall so warm und nah wie das Licht der Petroleumlampe, die auf einer Kuchendose hoch oben auf dem Tisch stand. Tora wusste nicht, ob sie nach der Geschichte mit dem Schalter das Licht, das aus der Birne an der Decke kam, leiden konnte oder ob sie es nur hinnahm, weil es für manche Dinge nötig war. Die Mutter packte die Petroleumlampe weg.
Licht! Sie fühlte es im Frühling auf den Augenlidern, wenn noch Schnee lag. Es funkelte und flimmerte. Und sie schien noch auf dem Hocker zu stehen, mit der kleinen Hand an dem Knopf, ohne zu wissen, dass man alle Kraft einsetzen musste, wenn man klein war und doch Licht haben wollte. Sonst kam die große Faust und nahm einem alles weg. Machte es fremd und unangenehm wie der Sonnenschein im April, nachdem man eine ganze Woche mit Fieber im Bett gelegen hatte und plötzlich wieder kräftig genug sein sollte, um hinauszugehen.
Wenn die uralten Vogelbeerbäume vor dem Küchenfenster rot wurden und voller Beeren hingen, so dass sie nur die Hand durch das Ausstellfenster zu strecken brauchte, um sich eine Dolde zu holen, war die Zeit für die Fleischsuppe gekommen. Jedes Jahr lag dann eine Zinkbütte umgedreht auf dem Schrank im Flur. Darin holte die Mutter Kartoffeln und Gemüse. Sie ging in abgeschnittenen Gummistiefeln die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus und hinter das Haus, von wo der Pfad zu den Fischtrockengestellen und zum Gemeinschaftsacker führte.
Manchmal ging Tora mit. Sie sah die Hacke zwischen Mutters Beinen. Die Hacke ragte deutlich heraus und war doch auf sonderbare Weise ein Teil der Mutter. Der Schaft bewegte den Rocksaum und grub seine Eisennase tief in die Erde. Hier und da traf die Hacke unerwartet eine Kartoffel und spaltete sie in zwei Teile. Dann seufzte die Kartoffel, und die Hacke hielt einen Augenblick inne, als ob sie sich ärgerte. Und die Mutter sagte: »Ach, haste das gesehn!« Dann machte sie weiter.
Die Möhren waren nach Toras Geschmack, wenn die Zähne sie zermahlen hatten und sie als ein süßlicher, grober Brei in der Mundhöhle lagen.
Sie hatte auch an den Kartoffeln genagt. Trotz Schale und Sand. Da musste sie wohl schrecklich klein und dumm gewesen sein. Aber sie konnte sich deutlich daran erinnern.
Der Suppentopf auf dem Tisch. Das Fett, das in Ringen und Blasen herumschwamm. Die Farben waren schön.
Am liebsten sah sie das gekochte Gemüse, denn es schmeckte abscheulich. Die tiefe Stimme drohte trotzdem etliche Löffel gekochte Möhren und wenigstens ein Kohlblatt in sie hinein. Mit den Kartoffeln ging es, die war sie gewohnt.
Mit dem Fleisch ging es auch. Aber es war ekelhaft anzusehen. Es stülpte sich beim Kochen vor ihren Augen gleichsam um und verdarb alles. Und im Mund war es zäh. Aber bevor es in den Topf kam, war es braunrot, mit einem Häutchen in allen Regenbogenfarben. Nichts anderes hatte eine so schöne rote Farbe wie das rohe Fleisch auf dem Brett.
Manchmal war noch Blut daran. Die Mutter schnitt das Fleisch vorsichtig in mäßig große Stücke. Und die Farben wechselten mit ihren Handbewegungen und den Schatten.
Das Messer blinkte immer so schön und gefährlich, wenn die Mutter damit schnitt.
Anschließend ging sie mit dem Brett zum Herd hinüber und schob die Fleischstücke schnell und geschickt in den Topf. Dann war Schluss. Tora wusste, dass die Fleischstücke bald grau und ausgelaugt und unansehnlich aussehen würden.
Möhren, Kohl und Kohlrüben indessen würden in der Fleischbrühe aufglühen und sich gegenseitig die Farben erhalten, so dass eine schöne Verwandtschaft daraus wurde.
Sie durfte eine Weile still bei Tisch sitzen und nur schauen und riechen, während sie darauf wartete, dass die Suppe abkühlte. Dann würde ihr die Stimme befehlen, alles aufzuessen, und sie würde das verhasste Kohlblatt Löffel für Löffel vorbeisegeln lassen, bis sie es endlich hinunterwürgen könnte.
Die Tobiashütte hatte schon immer da gestanden, das wusste Tora. Sie war alt und kalt, mit Säcken in den Fensterlöchern und einer schiefen Tür, die grauenhaft jammerte, wenn jemand kam oder ging. Die Hütte wurde nur benutzt, um Kisten und Gerümpel zu lagern oder um sich samstags zu einem Kartenspiel zu treffen, falls es warm genug und man ein Mann war.
Die Hütte stand für sich allein, hatte ein niedriges Dach und keine so steile Treppe wie andere Fischerhütten. Es war leicht, hineinzukommen und auch wieder hinauszutorkeln.
Einmal hatte Henrik sie in die Tobiashütte mitgenommen, weil die Mutter irgendwo gegen Bezahlung waschen musste. Das war vor langer Zeit, als man Tora noch nicht allein lassen konnte und die Mutter noch nicht in die Fabrik arbeiten ging.
Henrik hatte mit einem Glas dagesessen und Geschichten erzählt. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, wie immer, wenn er etwas zu trinken und zu erzählen hatte.
Er war in der Welt draußen gewesen, der Henrik – da, wo so allerlei geschah. Wenn er davon erzählte, schien er seine schiefe Schulter zu vergessen, die er gewöhnlich unter der Jacke zu verbergen suchte. Die anderen Männer saßen breitbeinig da, den Oberkörper hoch aufgerichtet. Henrik saß immer vornübergebeugt und ließ die verkrüppelte Schulter herunterhängen wie ein flügellahmer Kormoran.
Aber erzählen konnte er.
Manchmal schien er aus den erwartungsvollen Gesichtern um ihn herum Kraft zu schöpfen, so dass er die Schulter plötzlich hochzog und sie für einen Augenblick auf den kraftlosen Ellenbogen stützte. Das Sonderbare und Erschreckende an Henriks Oberkörper war jedoch nicht die verstümmelte Schulter. Es war die gesunde! Sie quoll gewaltig unter seinen Kleidern hervor. Die Hand und der Arm waren ein einziges Bündel trotziger Muskeln, in ruheloser Bewegung. Aber auf der linken Seite hingen Arm und Hand völlig unterentwickelt und passiv herunter und sprachen Henriks ganzem Wesen Hohn.
Dichter Rauch aus den Pfeifen und den selbstgedrehten Zigaretten hatte damals in der Tobiashütte um die Petroleumfunzel gelegen, die wie ein müdes, gereiztes Tier oben zwischen den Balken zischte. Der Glühstrumpf leuchtete bösartig in dem Glas und warf Blitze auf den blanken Metallgriff.
Tora merkte, dass sie aufs Klo musste, und zupfte an Henriks Ärmel, um es ihm zu sagen. Aber sein Gesicht war so weit da oben, und sie war so klein und ganz unten auf dem Fußboden. Er hob mit der gesunden, großen Hand das Glas und erzählte. Er war Samson und sah sie nicht. Da fing es an zu laufen. Erst war es warm und gut auszuhalten, aber es war fürchterlich schlimm. Einer von den Männern sah, was los war, und sagte es Henrik. Die anderen lachten. Sie zeigten auf Tora und schlugen sich auf die Knie und nannten Henrik ein unbegabtes Kindermädchen. Das Gelächter schwoll immer mehr an, bis es ihren ganzen Kopf ausfüllte und nicht von dieser Welt war. Sie kroch in ihre Schande hinein und war allein gegen alle. Aber das war nicht das Schlimmste.
Sie musste auch ein großes Geschäft machen. Es kam einfach. Sie konnte es nicht zurückhalten. Sie merkte, wie es drückte und herausfloss. Die Männer lachten noch mehr, schnupperten und rümpften die Nase und trieben ihre Scherze mit Henrik, weil er so schlecht auf Ingrids Kind aufpasste.
Innerlich zitterte sie. Aber nach außen war sie ganz ruhig. Es lief an den weißen Wollstrümpfen hinunter bis auf den Boden. Dünner, dünner Kot.
Sie hatte in der Tobiashütte ihr Gesicht verloren, deshalb ging sie nicht mehr gern dorthin. Es kam allerdings vor, dass sie dazu gezwungen war, wenn jemand sie mit einem Auftrag hinschickte. Da konnte sie spüren, wie es knackte, als ob sie etwas in sich hätte, was immer wieder zerbrechen würde. Sie hatte noch den Geruch in der Nase und sah die braunen Flecken auf den Strümpfen. Und die Erinnerung an das derbe Lachen aus den weit aufgerissenen Mäulern erfüllte sie immer noch mit Scham.
Elisif, die im Dachgeschoss wohnte, war sehr fromm, und sie hatte Tora erklärt, dass die Scham von Gott erfunden sei. Das machte das Ganze so hoffnungslos, denn unter diesen Umständen war es ja unmöglich, von der Scham loszukommen. Gott hatte es so eingerichtet, dass man sich schämen sollte, das tat den Menschen gut, sündig, wie sie nun einmal waren. Und Tora hatte begriffen, dass sie solch ein Mensch war. Sie log, wenn sie glaubte, dass es so einfacher wäre, und sie nahm ohne zu fragen mehr Pflaumen, als die Mutter erlaubt hatte. Aber es wunderte sie trotzdem, dass einige Menschen so aussahen, als ob sie sich wegen nichts in der ganzen Welt schämten, obwohl sie sich unerträglich aufführten.