Читать книгу Isabelle - Heribert Weishaupt - Страница 6

Prolog

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Er stellte den Rucksack am Wegesrand ab und kletterte behutsam, teilweise auf allen vieren, über die niedrigen Felsen in Richtung Schlucht.

Er wusste, welche Gedanken jetzt im Kopf seiner Frau kreisten: Was soll das? Immer wieder diese unnötigen Eskapaden. Musst du denn unbedingt mit auf dem Foto abgelichtet werden?

„Bleib doch hier am Weg stehen. Das Foto wird doch ohne dich genauso schön“, rief sie.

„Nein, nein. Wenn schon ein Bild mit dieser grandiosen Aussicht, dann soll ich auch mit auf dem Foto zu sehen sein.“

Er lachte.

„Aber was bringt es, wenn du bei dieser Aktion umknickst und dir den Fuß oder das Bein brichst?“, versuchte sie eine letzte Warnung.

Aber auch dieser Versuch misslang kläglich.

„Du immer mit deinen Ängsten.“

Er lachte wieder kurz auf. Dieses typische, lässige Lachen eines selbstsicheren Mannes.

Schon hatte er die Kante des steil abfallenden Hanges erreicht und richtete sich auf. Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, stand er vor einer imposanten Kulisse und schaute in die Tiefe.

Rechts und links säumten kahle, zerklüftete Felsmassive die Schlucht. Unter ihm breitete sich das Tal von Sóller mit den unzähligen Oliven-, Zitronen- und Orangenbäumen aus. In der Ferne konnte er die Bucht des Hafens erkennen und dahinter spannte sich bis zum Horizont das blaue, glitzernde Meer. Welch ein Panorama.

Ruckartig drehte er sich um. Sein Gesicht zeigte ein zufriedenes Lächeln.

„So, du kannst jetzt den Auslöser betätigen“, forderte er seine Frau auf, die mit ausgestreckten Armen die Digitalkamera vor sich hielt und angestrengt versuchte, im Display etwas zu erkennen.

„Ich kann kaum etwas erkennen. Die Sonne scheint direkt auf das Display.“

„Schirm das Display mit einer Hand ab. Das hilft vielleicht. Das wird bestimmt eines der schönsten Fotos dieser Woche.“

Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, dass es das letzte Urlaubsbild von ihm sein würde.

Ungeduldig verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Seine Euphorie ließ sein Gehör nur mit halber Kraft arbeiten. Daher vernahm er nicht, wie sich mehrere kleine Felsstücke von der Kante lösten und den Abhang herunterkullerten.

„Nun mach schon! Ich kann nicht ewig hier so stehen bleiben!“

Seine Ungeduld und der dadurch ausgelöste kleine Schritt rückwärts, war der verhängnisvollste Fehler in seinem Leben.

Mit den Armen wild rudernd, versuchte er, das Unaufhaltsame noch abzuwenden. Seine Füße rutschten nach hinten über den Grat und er fiel nach vorne auf die harte Felskante. „Hilfe! Hilfe!“, schrie er, dass seine Kehle zu platzen drohte.

Wie weggewischt war seine Euphorie und augenblicklich breitete sich stattdessen Panik aus. Seine Hände suchten hektisch nach einem Halt, aber das Gewicht seines Körpers zog ihn weiter in die Tiefe. Mit den Füßen versuchte er, einen festen Punkt im Felsgestein zu finden. Doch je mehr er mit den Beinen strampelte, desto tiefer rutschte er. Sein Gesicht befand sich bereits unterhalb der Felskante, auf der er vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte.

Die Finger seiner rechten Hand fanden endlich an der Kante ein Stück scharfkantigen Felsen, das etwas hervorstand. Er bot all seine Kräfte auf und krallte sich schmerzhaft daran fest. Der Sog, der seinen Körper in die Tiefe zog, ließ nach. Sofort suchte er mit der anderen Hand einen zusätzlichen Halt. Er schlug die Krallen der zweiten Hand so fest in die Felskante, dass Fingernägel brachen.

Wieder formten sich seine Lippen zu einem lauten, langen Schrei.

„Hiiiilfe!“

Nichts geschah. Wo blieb seine Frau? Sie musste doch gesehen haben, was geschehen war.

„Hiiiiilfe!“, schrie er erneut.

Stille. Totenstille! Nicht einmal der Laut eines Vogels war zu hören.

Wieso hört sie nicht meine Hilfeschreie und kommt hierher?, dachte der Mann verzweifelt.

Die Sonne stand am höchsten Punkt und brannte erbarmungslos auf ihn nieder. Schweißtropfen rannen ihm in die Augen. Er spürte, wie die Schwerkraft versuchte, ihn nach unten zu ziehen. Es war unerträglich. Er würde sich nicht mehr lange halten können. Mit seinen Füßen versuchte er noch immer, einen Halt zu finden. Allerdings wesentlich vorsichtiger als vorhin, denn jede unbedachte Bewegung könnte den Griff seiner Hände lösen – und was das bedeuteten würde, war ihm erschreckend klar.

War das sein Ende? Sollte ihre Ehe nur von solch kurzer Dauer gewesen sein? Ja, er hatte einen Fehler begangen – einen riesigen Fehler. Er hatte ihn eingestanden und ihr die unverfälschte Wahrheit über alles, was geschehen war, gesagt. Sogar das, was er dabei gefühlt hatte. Seitdem lasteten dieser Fehler und sein Geständnis wie ein dunkler Schatten auf ihrer Beziehung. Der Urlaub sollte ein Neuanfang sein. Ein Neuanfang, der auch vielversprechend begonnen hatte. Bis jetzt – bis vor wenigen Augenblicken. In jedem Moment könnte er zu Ende sein.

Der Schotter oberhalb der Felskante knirschte. Waren das Schritte? Ja – unendlich langsame Schritte!

Das konnte nur seine Frau sein. Wieso ging sie so langsam? Wieso kam sie nicht zu ihm gerannt?

Er legte den Kopf vorsichtig etwas in den Nacken und blickte sehnsüchtig nach oben. Er sah lediglich einen braunen Wanderschuh mit einem hohen Lederschaft. Den Wanderschuh seiner Frau? Ohne Zweifel, es konnte nur der Fuß und der Schuh seiner Frau sein.

Sie wird mich retten! Sie ist stark! Sie kann das!, machte er sich Hoffnung.

„Fass mit beiden Händen einen Arm von mir und zieh mich hoch! Mit der anderen Hand versuche ich, mich abzustützen. Gemeinsam schaffen wir das!“, rief er der Person zu, die oberhalb der Felskante stand und seine Frau sein musste.

Er erhielt keine Antwort.

Dann hörte er eine Stimme, eine dunkle Stimme. Er verstand die Worte nicht, die die Stimme sagte. War das eine männliche Stimme? Ja – er fand keine Erklärung dafür.

Der Fuß mit dem braunen Wanderschuh hob sich vom Boden ab und senkte sich auf seine linke Hand hinab. Das Profil drückte sich in die Haut seiner Hand. Er war schockiert, als er begriff, was da gerade geschah. Sein Herz raste und sein Atem zischte fiebrig aus seiner Lunge.

„Hiiiilfe“, formten seine Lippen, aber nur ein undefinierbares Krächzen kam aus seinem Mund, das nur taube Ohren erreichte.

Erneut legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben zur Felskante. Was er dort sah, grub sich tief in seine Gehirnwindungen ein, ließ sein Blut gefrieren und sein Herz brechen.

Er hörte nicht das Knacken, als die Knochen seiner Finger brachen. Er spürte lediglich den fürchterlichen Schmerz in seiner Hand und in seiner Seele, als er begriff.

Das Gewicht seines Körpers zog ihn gnadenlos in den Abgrund, während sich gleichzeitig seine Hand von dem Fels löste. Er hatte keine Kraft mehr, sich dem Unausweichlichen zu widersetzen. Weiter, immer weiter stürzte er in die Tiefe, in das schroffe, unwegsame Gelände.

Ein nicht enden wollender Schrei verließ seine Lippen und das Poltern des Gesteins begleitete ihn hinab bis zum Ende – zu seinem Ende.

Isabelle

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