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Die gestrige Wanderung hat mir gut getan, auch wenn das Wetter nicht zum Wandern einlud. Nachdem ich danach tatsächlich zwei Stunden am helllichten Tag geschlafen hatte, fühlte ich mich wie neu geboren. Die anschließende heiße Dusche trug zusätzlich das Ihre dazu bei. Daher befürchte ich nicht, dass ich mir durch den Regen eine Erkältung zugezogen habe. Dieser Gedanke spornt mich an, demnächst noch öfter in der Heide wandern zu gehen, egal wie das Wetter sein wird.

Bereits heute will ich meine nächste Wandertour starten. Zuerst fuhr ich nach einem ausgiebigen Frühstück den Berg hinunter nach Lohmar, um Brot, Wurst, Käse und einige Konserven einzukaufen. Außerdem hatte ich mir für meine künftigen Wanderungen einige Päckchen von diesen scharfen Kaminwurz-Würstchen und für heute zwei Brötchen mitgebracht.

Gut gelaunt ziehe ich meine Wanderschuhe und die Regenjacke an. Einen dicken Pullover habe ich direkt heute Morgen angezogen. Dann packe ich die zwei Brötchen, drei dieser kleinen Würstchen und eine Flasche Wasser in den Rucksack und verlasse die Wohnung. Bevor ich losgehe, schaue ich in den Himmel. Es ist zwar bedeckt aber es sind keine dicken Regenwolken zu sehen. Ich vermute, es wird ein angenehmer Herbst-Wandertag. Bereits gestern Abend hatte ich mir eine Route auf einer Karte im Internet herausgesucht und ausgedruckt. Die Karte steckte ich in meine Jackentasche. Geplant habe ich, im Gebiet auf der rechten Seite der Altenrather Straße bis kurz vor Troisdorf zu wandern, dort die Straße zu überqueren und dann auf der anderen Seite durch den Wald wieder zurück zu gehen. Wahrscheinlich werde ich dafür mehrere Stunden benötigen.

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Hals hoch, gehe schnellen Schrittes durch den Ort und bin erstaunt, dass mich der eine oder andere Einwohner freundlich grüßt.

Aus Bonn bin ich das nicht gewohnt. Mich grüßte niemand, wenn ich durch die Stadt ging. Noch nicht einmal in der Straße, in der wir wohnten. Nun ist Bonn natürlich um ein Vielfaches größer als Altenrath und man lebt dort wesentlich anonymer, als in diesem beschaulichen Heidedorf. Außerdem waren sowohl Ronni als auch ich tagsüber fast nie zu Hause. Wer sollte uns da schon kennen und grüßen?

Womöglich haben mich gestern Einheimische durch das Fenster aus ihrer warmen Stube gesehen, wie ich völlig durchnässt von meiner Wanderung zurückkam und haben gedacht: Wieso läuft diese Frau bei solch einem Wetter in der Heide umher und sind erstaunt, dass ich heute erneut unterwegs bin. Vielleicht bin ich bereits nach zwei Tagen Gesprächsstoff bei den Menschen hier im Ort.

Ich schmunzle, wie ich mir vorstelle, wenn ich später wieder ins Bett krieche und den Rest des Tages verschlafe. Sicherlich ist das auch ein Zeichen dafür, dass mein Trainingszustand zurzeit nicht optimal ist.

Seinerzeit auf Mallorca hat mir das Wandern weniger ausgemacht. Körperlich war ich fitter, wenn auch seelisch angeschlagen.

Nachdem ich auch die letzten Häuser hinter mir gelassen habe und mich nur noch die Stille der Natur umgibt, sind sie wieder da, die Gedanken der Vergangenheit.


Die kurze Erinnerung an unsere Wanderungen auf Mallorca ist der Auslöser. Wie im Kino läuft der Film vom ersten Tag des Urlaubs in meinen Gedanken ab.

Die Ankunft in der wunderschön gelegenen Hotelanlage oberhalb des Hafens von Port de Sóller. Das Frühstück im Schein der gerade aufgegangenen Sonne, mit Blick über den Hafen und auf die Berge der Serra de Tramuntana im Hintergrund. Die ersten kleinen Spaziergänge um den Hafen und zur Stadt Sóller. Dann die etwas weiteren Wanderungen ins Gebirge und schließlich die folgenschwere Wanderung ab dem Cúber Stausee.

Wenn ich mich recht erinnere, waren wir an dem Tag, an dem wir zum Cúber-Stausee wollten, direkt nach dem Frühstück zum Hafen hinunter gegangen, um noch für jeden eine Flasche Wasser zu kaufen. Der Bus, der uns zum Stausee bringen sollte, wurde in Port de Sóller eingesetzt und wir beabsichtigten, an der zweiten Haltestelle zuzusteigen.

Bereits von weitem sahen wir den orange-gelben Bus der Verkehrsgesellschaft TIB – Transports de les Illes Balears. Das hinter der Frontscheibe aufgestellte Hinweisschild zeigte an, dass es sich um die Linie 354 mit Zielort Can Picafort handelte. Die automatischen Türen öffneten sich fast direkt vor uns. Wir drängten uns mit den anderen wartenden Reisenden in den Bus. Unser Wunsch war es, einen Sitz in einer der ersten Reihen und falls das nicht mehr möglich war, zumindest einen Fensterplatz zu ergattern. Schließlich hatten wir lange vor der fahrplanmäßigen Abfahrt eine günstige Position in der Menschenschlange verteidigt. Der Busfahrer kassierte den Fahrpreis in stoischer Ruhe. Ihm schien es gleich zu sein, ob er das Endziel mit zehn oder zwanzig Minuten Verspätung erreichen würde. Bei einer Gesamtfahrzeit von drei Stunden fiel eine Verspätung in dieser Größenordnung hier im Süden sowieso nicht ins Gewicht.

„Seien Sie doch vorsichtig mit Ihren Wanderstöcken!“, ertönte die laute Stimme einer älteren Dame, die beinahe unliebsamen Kontakt mit den Spitzen der Stöcke eines älteren Herrn gemacht hatte.

„Entschuldigung“, entgegnete der Mann vor ihr in reinstem sächsischen Dialekt und lächelte die Dame dabei entwaffnend an.

Leider erwischten wir keinen Platz mehr in den ersten Reihen. Wir waren froh, noch zwei Plätze nebeneinander in der Mitte des Busses zu bekommen.

Ronni beanspruchte den Fensterplatz für sich, da er unterwegs einige Fotos schießen wollte. Wir hatten gelesen, dass die Fahrt durch grandioses Gelände mit fantastischen Ausblicken ging.

Bevor ich mich hinsetzte, fiel mein Blick in den hinteren Teil des Busses. Verdammt! Was wollte der denn hier? Ich hatte den Mann in der letzten Reihe sofort erkannt, auch wenn er sich die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen hatte. Er war nicht mit uns eingestiegen, er saß bereits dort. Wahrscheinlich war er an der ersten Haltestelle eingestiegen. Woher wusste er, dass auch ich mit diesem Bus fahren würde? Eines war für mich klar: Dieser Mann nutzte nicht den Bus, um zu einem Ausgangspunkt für eine Wanderung gefahren zu werden. Er war ausschließlich meinetwegen da!

Ronni schien mein Zögern bemerkt zu haben.

„Komm schon, setz dich. Wir fahren sofort ab.“

Zum Glück drehte er sich nicht um und schaute nicht in die Richtung, in die ich gerade blickte. Ich setzte mich neben ihn. Er schien nichts bemerkt zu haben.

Nachdem alle Plätze besetzt waren, schloss der Fahrer die Türen. Den wenigen noch draußen wartenden Reisewilligen deutete er mit einer kurzen Handbewegung an, dass nichts mehr ginge und fuhr los. Die mehr oder weniger lauten Unmutsäußerungen der abgewiesenen Fahrgäste vernahm er nicht mehr.

Der weitaus überwiegende Teil der Reisenden waren Deutsche. Die, die zum ersten Mal einen Bus auf den Balearen nutzen wollten, wussten offensichtlich nicht, dass es Stehplätze, wie in deutschen Bussen und Bahnen üblich, hier aus gutem Grund nicht gab. Auf den engen, kurvenreichen Straßen wäre die Sicherheit auf Stehplätzen nicht gewährleistet.

Der Bus verließ Porto Sóller über die erst vor einigen Jahren fertiggestellte Umgehungsstraße, der Vial 23 sa Figuera, in Richtung Sóller. Dort stiegen einige Fahrgäste aus. Um die freien Plätze entbrannte sofort ein Kampf der wartenden Wanderer. Schnell waren die Plätze wieder besetzt und der Rest der Wartenden scharte sich um die Eingangstür und versuchte, durch lautstarke Verhandlung den Fahrer zu überreden, mitgenommen zu werden. Erst als der Fahrer von seinem Sitz hinter dem Lenkrad aufstand und die Menge energisch und bestimmt aus dem Türbereich drängte, war dem größten Teil der Leute klar, dass sie mit dem nächsten Bus Vorlieb nehmen mussten.

Ohne weiteren Halt ging die Fahrt jetzt hoch hinauf in den Nationalpark, der Serra de Tramuntana.

Ronni schien nervös zu sein. Unablässig drehte er den Ehering an seinem Finger. Der Ring schien zu weit zu sein. Ich hatte die Befürchtung, dass er ihn verlieren würde. Bei der Hochzeit stimmte die Weite noch tadellos. Hatten die letzten Wochen und Monate ihm doch stärker zugesetzt als ich dachte? Womöglich war der Gewichtsverlust so hoch, dass der Ehering als Symbol unserer Ehe nur noch lose um seinen Finger hing? Es ist doch erstaunlich, dass manchmal kleine Äußerlichkeiten das Innere eines Menschen und einer Beziehung widerspiegeln, dachte ich damals.

Der Bus schraubte sich in endlos scheinenden Serpentinen ins Gebirge hoch.

Aleppo-Kiefern, Rosmarin und Heidekraut bewuchsen die Hänge rechts und links der Straße. Je höher die Straße ins Gebirge führte, desto dürftiger wurde die Vegetation. Nur die Bergkiefern trotzten in den Höhen noch der Kraft des Windes und der kargen Böden.

Die meisten Menschen kennen das Gefühl, als spüre man einen bohrenden Blick im Nacken, wenn man heimlich beobachtet wird. Manchmal hatte ich dieses Gefühl und ich konnte mich dann nicht mehr auf die Fahrt und die Landschaft konzentrieren. Hin und wieder riskierte ich einen Blick in den rückwärtigen Teil des Busses. Jedes Mal, wenn mein Blick ihn erhaschte, schaute er zum Fenster hinaus und schien sich für niemanden, auch nicht für mich, zu interessieren.

Ronni und ich redeten kaum miteinander. Er malträtierte weiterhin seinen Ehering und schaute dabei zum Fenster hinaus. An einigen Stellen machte er mich mit drei Worten wie: „Schau mal dort“, auf eine besonders schöne Aussicht aufmerksam. Ich antwortete, wenn überhaupt, nur mit einem einsilbigen „Mmh“ oder nickte nur.

Meine Gedanken kreisten unablässig um den Mann mit der Schirmmütze in der vorletzten Reihe. Ich musste unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen – koste es, was es wolle. Solange Ronni bei mir war, war das undenkbar. Wie sollte ich ihm erklären, dass mein Juniorchef Rolf Dabinghaus hier auf Mallorca war, wenn noch nicht einmal ich wusste, was er hier wollte. Eventuell wohnte er ebenfalls in Port de Sóller, womöglich sogar im selben Hotel wie wir. Diese Vorstellung war für mich schrecklich.


Bei dieser Rückschau zieht sich etwas in meinem Inneren zusammen. Bevor mich die Erinnerung gänzlich überrollt, reiße ich mich in die Gegenwart zurück.

Ich stehe an einer Abzweigung des Weges und blinzle in das helle Grau des Tages. Welchen Weg muss ich einschlagen? Ich vermute, ich sollte weiter dem Weg geradeaus folgen. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Vorsichtshalber nehme ich die Karte aus meiner Jackentasche. Richtig, ich darf nicht rechts abbiegen, sondern ich muss weiter diesen Weg gehen, der später in den Eisenweg mündet. Ich stecke die Karte zurück in meine Jackentasche und schaue in den Himmel. An einigen Stellen reißt die graue Wolkendecke auf und es zeigen sich blaue Flecken. Prima, denke ich. Dann werde ich wohl heute vom Regen verschont bleiben. Einen großen Schluck aus der Wasserflasche, dann kann es weiter gehen und nach kurzer Zeit sind meine Erinnerungen wieder da. Ich lasse sie zu und versuche erst gar nicht, sie zu vertreiben. Es wäre vermutlich sinnlos. Vielleicht gehört das fortwährende sich an die Vergangenheit erinnern und sich gedanklich damit zu beschäftigen dazu, sie zu bewältigen. Ändern kann ich ohnehin nichts mehr. Was geschehen ist, ist geschehen.


Nach Ronnis Beichte änderte sich mein Leben völlig – nein, nicht nur mein Leben änderte sich, auch meine Einstellung zum Leben und zur Partnerschaft mit meinem Ehemann änderte sich.

Vorher ging ich so gut wie nie allein aus. Vielleicht auf ein Glas Wein mit den Kolleginnen, mehr auch nicht. Ronni und ich verbrachten unsere Freizeit, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, immer zu zweit.

Das änderte sich jetzt grundlegend. Ich ließ keine Gelegenheit aus, ja, ich suchte jede sich bietende Möglichkeit, allein meine Freizeit zu gestalten. Ich besuchte kreative Kurse der Volkshochschule, entweder allein oder mit der einen oder anderen Kollegin. Ich ging in Museen und in verschiedene Theater in Bonn.

Ich konnte den Zustand unserer Ehe nicht lange vor den Kolleginnen geheim halten. Sie merkten recht bald, dass ich der Zweisamkeit mit meinem Mann entfloh, als wäre sie etwas Unangenehmes.

Immer öfter kam es vor, dass mich eine Kollegin abends zu einem Drink in eine Bar oder zum Besuch einer Disco einlud. In den meisten Fällen nahm ich diese Einladung an und es waren immer schöne Abende, die mich meine Probleme vergessen ließen.

Auch mein Chef merkte die Veränderung und umschwärmte mich mit Komplimenten und manchmal mit einer Einladung zu Events von Kunden oder öffentlichen Veranstaltungen, wo er repräsentieren musste. Ronni blieb in der Zeit meistens zu Hause und hockte sich zerknirscht vor den Fernseher. Darauf wollte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Es war immer ein schöner Abend mit Rolf, meinem Chef. Er stellte mich gerne als seine beste Kollegin vor, das mir selbstverständlich schmeichelte. Fast immer kam es im Laufe des Abends vor, wenn wir ein paar Gläser getrunken hatten, dass wir ein wenig flirteten. So, wie wir es früher öfter getan hatten, unverfänglich und harmlos. Wenn die Abende weiter fortschritten, erhielten unsere Flirts eine andere Dimension und wurden intensiver und eindeutiger. Es war für mich so eine Art Trotzreaktion gegenüber Ronni nach dem Motto: Was du kannst, kann ich schon lange.

An einem Samstagabend besuchte unsere gesamte Belegschaft eine Ü30-Party. Auch Rolf war dabei. Wir tanzten alle ausgelassen. Wegen des Frauenüberschusses besuchten wir häufig nur wir Frauen die Tanzfläche. Zu später Stunde kam es immer öfter vor, dass Rolf meine Nähe suchte und mich als seine Tanzpartnerin wählte. Ich hatte nichts dagegen. Welche Frau wird nicht gerne von einem Mann umworben und dann noch von ihrem Chef? Ich zählte nicht zu den Frauen, die sich das verwehrten.

Meinen Kolleginnen blieb das nicht verborgen und sie lästerten bereits hinter vorgehaltener Hand. Vor dem dritten langsamen Tanz steckte mir eine Kollegin leise, dass Rolf es sei, der sich beim DJ die langsamen Songs wünschte. Na und, dachte ich, soll er doch, wenn es ihm Spaß bereitet. Mir gefiel es ebenfalls, denn Rolf war ein guter Tänzer, der sich alle Mühe gab, mich auch während des Tanzes gut zu unterhalten.

Irgendwann war es dann soweit. Ich hatte es erwartet und sicherlich sogar auch zum Teil provoziert. Er drückte mich fester an sich und seine Hand strich von der Schulter hinunter bis zum Ende meiner Wirbelsäule. Ich ließ es geschehen. Ich sah ihn an und wusste im selben Augenblick, was folgen würde. Er beugte seinen Kopf und berührte mit seinen Lippen zuerst meine Stirn, dann meinen Nasenrücken und endlich meinen Mund. Auch das ließ ich geschehen. Ich wollte es, wobei ich vor meinem inneren Auge Lisa und Ronni sah. Wider Erwarten musste ich feststellen, dass er gut küsste und überraschend musste ich mir gestehen, dass es mir gefiel. Ich spürte seine Erregung und drängte mich stärker gegen ihn. Ich genoss es, wobei meine Erregung sich in Grenzen hielt. Ich genoss die Macht, die ich in diesem Augenblick über ihn hatte und den erhebenden Stolz, es meinem Mann heimzuzahlen.

Wenn es nach Rolf gegangen wäre, wären wir mit Sicherheit in dieser Nacht zusammen im Bett gelandet. Als er mir ins Ohr flüsterte, dass er mich liebe, mit mir sein geheimster und innigster Wunsch in Erfüllung gehen würde, zog ich noch rechtzeitig die Reißleine.

Es war nicht so, dass er optisch nicht meinen Vorstellungen entsprach. Er war groß, schlank, fast muskulös, hatte dunkelblondes Haar und ein männliches Gesicht, das immer ein Dreitagebart zierte. Man konnte mit ihm über jedes Thema sprechen und er hatte auch eine humorvolle Seite, wodurch das Flirten mit ihm mir viel Spaß bereitete. Das Fatale war, dass die Optik und die Tatsache, dass er ein geistreicher Unterhalter war, trotzdem nicht die Regungen meines Herzens ansprachen. Damit war eigentlich schon alles gesagt. Ich konnte nicht einmal genau erklären, was mich gegen eine Beziehung mit ihm unbewusst blockierte. Möglich, dass seine Bestimmtheit und seine, wie ich fand, überzogene, dominante Art das „Gesamtpaket Mann“ überlagerte und mich abstieß. Liebe? – Nein, das war überhaupt kein Thema für mich. Wir wären keine gleichwertigen Partner. Er war noch nicht einmal ein Mann, mit dem ich nur Sex haben wollte. Nicht einmal, um mich an Ronni zu rächen.

Zum Glück war er ein Mann mit Stil, gewissermaßen ein Gentleman. Er akzeptierte mein Nein, zumindest an diesem Abend. Wir setzten uns an einen Tisch, weitab der Tanzfläche und unterhielten uns. Zeitweise kam es mir vor, als hätte es diese Annäherung von vorhin nicht gegeben.

Irgendwann kamen wir auf mich, auf meinen Mann und unsere Ehe zu sprechen. Wahrscheinlich weil ich zu viel Alkohol getrunken hatte, erzählte ich ihm in einer schwachen Minute von Ronnis Seitensprung und seinen Träumen.

Ich sagte ihm auch, dass wir nach Mallorca fliegen wollten, sozusagen als Neuanfang unserer Beziehung.

„Und wenn das nicht funktioniert mit dem Neuanfang, was machst du dann?“, fragte er und schaute mich dabei unerwartet ernst an.

„Dann suche ich mir dort einen neuen Mann“, lachte ich.

„Leider stehst du dort dann nicht zur Verfügung“, fügte ich mit einem Augenzwinkern hinzu.

Er schaute mich gespielt unglücklich an. Oder war das gar nicht gespielt?

Wir sprachen noch darüber, wie schade es sei, dass nach einer so kurzen Ehe bereits solch enorme Schwierigkeiten auftraten. Dabei unterstrich ich immer wieder, dass diese Schwierigkeiten nicht durch mein Fehlverhalten aufgetreten seien, sondern Ronni allein die Schuld daran tragen würde.

Rolf war sehr mitfühlend und hatte für mich Verständnis. Leider beging ich den Fehler und ließ mich von ihm trösten. Dabei kamen wir uns erneut näher und wir küssten uns flüchtig auf den Mund. Und wieder bildete ich mir ein, Ronnis Fremdgehen zu strafen.

Obschon nicht mehr geschehen war, hatte ich das Gefühl, mit Rolf einen Verehrer zu haben, der seine Chance weiterhin suchte und in Zukunft nicht locker lassen würde. Ich ahnte damals nicht, wie Recht ich damit haben sollte.


Nun saß er im Bus und ich rätselte, was er vorhatte, was er von mir wollte. Dass er zufällig auf Mallorca, zufällig in Porto Sóller und zufällig hier im Bus war, konnte ich nicht glauben.

Vielleicht musste ich gar nicht den Kontakt zu ihm aufnehmen, um seine Absicht zu erfahren. Möglicherweise würde er sogar den Kontakt zu mir aufnehmen wollen. Hoffentlich würde er dann so diskret sein, einen Zeitpunkt zu wählen, wenn mein Mann nicht in der Nähe war.

Aber wieso sollte er eigentlich? Sollte Ronni doch erfahren, dass auch ich meine Männergeschichten hatte. Er wäre der Letzte, der mir etwas vorwerfen könnte.

So tendierten meine Gedanken einmal in die eine, dann in die andere Richtung, ohne dass ich mich für eine Variante hätte entscheiden können.

Nachdem der Bus den Straßentunnel Mirador-Ma-10 passiert hatte, öffnete sich das Gelände und eine fantastische Bergwelt lag vor uns. Wer bisher noch nicht seine Kamera gezückt hatte, nahm sie jetzt zur Hand. Im Bus war das fortwährende Klicken der Auslöser zu hören. Auch mein Mann gab sich ganz der Landschaft hin und schoss ein Bild nach dem anderen.

Die Straße verlief jetzt unterhalb des Puig Major, der mit 1445 m der höchste Berg Mallorcas ist. Nachdem wir die Militärbasis Puig Major passiert hatten, führte uns die Straße leicht abwärts und wir sahen in der Ferne den Cúber-Stausee in seiner intensiv blau schimmernden Farbe. Wenige Minuten später hielt der Bus auf dem Wanderparkplatz an und Ronni und ich, sowie ein kleiner Teil der Reisenden stiegen aus. Der Rest würde sicherlich weiter zum Kloster Lluc oder nach Can Picafort zum Baden fahren.

Ronni warf sich den Rucksack über die Schulter und stürmte sofort los in Richtung See. Ich folgte ihm in zwei bis drei Meter Abstand, wobei ich unauffällig Ausschau nach Rolf hielt. Würde er die gleiche Strecke wandern wie wir? Die übrigen Reisenden wählten einen anderen Weg. Rolf war nirgendwo zu sehen. Weder war er bei der Gruppe der anderen Wanderer, noch folgte er uns.

Wahrscheinlich war er im Bus geblieben und hatte andere Pläne. Irgendwie war ich beruhigt.

Ich schloss zu Ronni auf und genoss zum ersten Mal an diesem Tag die überwältigende Landschaft. Den Puig Major im Rücken, ging es zunächst bequem am linken Stauseeufer entlang in Richtung Staumauer. Vor dem Überqueren der Staumauer stellten wir uns abwechselnd an das Geländer und machten die üblichen, gestellten Touristenfotos.

Nach kurzer Zeit stieg der Weg an und wir durchquerten das Gelände der großen Finca L‘Ofre. In der Ferne sahen wir bereits den Sattel, den höchsten Punkt unserer Wanderstrecke. Wir verließen den bisher breiten Weg und bogen in einen schmalen Pfad ein, der steil bergauf führte.

Vorher drehte ich mich nochmals um und suchte mit den Augen, soweit ich schauen konnte, den bisher gegangenen Weg ab. Von meinem Juniorchef war keine Spur zu sehen.

Oben angekommen, gingen wir noch ungefähr fünfzig Meter bis zu einem Aussichtsplatz. Von dort hatten wir einen freien Blick auf Sóller und seine Umgebung. Die Felswände fielen von hier steil in eine Schlucht ab.

Bisher hatten wir nur wenig miteinander geredet. Wenn, dann nur über die großartige Landschaft und das tolle Wetter. Das war ganz in meinem Sinne. Für tiefgreifende Gespräche war ich Moment nicht in der Stimmung.

Ronni stellte den Rucksack ab, gab mir die Kamera und kletterte zum Rand der Schlucht.

„Bleib doch hier am Weg stehen. Das Foto wird doch dann genauso schön!“, rief ich ihm hinterher.

„Nein, nein. Wenn schon ein Bild von dieser grandiosen Aussicht, dann soll ich auch auf dem Foto zu sehen sein“, war seine Antwort, die ich auch in dieser Form erwartet hatte.

Ich ärgerte mich immer wieder über solche waghalsigen Aktionen und fragte mich, wieso er unbedingt mit auf dem Foto abgelichtet werden musste. Die tolle Landschaft mit Blick auf Sóller und dem Meer in der Ferne reichte doch völlig aus. Ein solch schönes Landschaftsbild würde mir auch in Zukunft noch gefallen. Fotos, auf denen mein Mann im Vordergrund stand, interessierten mich nicht mehr. Sollte er sich doch die Beine brechen. Mir war das grundsätzlich egal. Nur dass in solch einem Fall mein Urlaub beendet sein würde, ärgerte mich.

„Aber was bringt es, wenn du bei dieser Aktion umknickst und dir den Fuß oder das Bein brichst?“, versuchte ich ihn daher von seinem Vorhaben abzubringen.

„Du immer mit deinen Ängsten.“

Dabei lachte er kurz und drehte sich lächelnd zu mir um. Ich lächelte nicht zurück. Mir fehlte einfach die Lockerheit.

„So, du kannst jetzt den Auslöser betätigen“, forderte er mich auf.

„Ich kann kaum etwas erkennen. Die Sonne scheint direkt auf das Display.“

„Schirm das Display mit einer Hand ab. Das hilft vielleicht. Das wird bestimmt eines der schönsten Fotos dieser Woche“, orakelte er lachend.

Mir war völlig unverständlich, woher er seine Hochstimmung und gute Laune nahm. Seitdem ich Rolf gesehen hatte, war bei mir keine Hochstimmung vorhanden, sondern nur noch Hochspannung. Trotzdem unternahm ich verschiedene Versuche, das Display vor der Sonne abzuschirmen, damit ich etwas erkennen konnte.

„Nun mach schon! Ich kann nicht ewig hier so stehen bleiben!“, rief er jetzt ungeduldig.

Ich konzentrierte mich auf das Display, damit ich endlich das geplante Foto einigermaßen beurteilen konnte.

Mit einem Mal lenkte mich das Gepolter von Steinen ab. Ich schaute von meiner Kamera auf und blickte in die Richtung des Abhangs. Verzweifelte Hilfeschreie ertönten. Mein Mann stand nicht mehr an der Stelle, an der er vorher noch für das „schönste“ Foto posiert hatte. Ronni war weg – einfach nicht mehr da.

Mir war sofort klar, dass er abgestürzt sein musste. Ich war zu keiner Reaktion fähig. Ich stand da, mit dem Fotoapparat in der Hand und konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich war wie versteinert.

Erneut drang ein langgezogener Hilferuf an mein Ohr, der aus der Tiefe des Abhangs zu kommen schien.

Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Meine Starre schien sich noch zu verstärken, falls das überhaupt möglich war. Mein Gehirn versagte seinen Dienst.

„Bleib ganz ruhig. Jetzt hast du die Chance, die du haben wolltest. Du kannst endlich Rache üben, für das, was er dir angetan hat. Ich stehe zu dir, was auch immer du jetzt tun wirst.“


Mir läuft gegenwärtig ein Schauer über den ganzen Körper, als ich mich erinnere, wie ich Rolfs Stimme hinter mir erkannte. Ich habe bis heute keine Ahnung, wo er so plötzlich herkam. Ich hatte ihn bei der Ankunft am Wanderparkplatz vergeblich gesucht. Auch unterwegs hatte ich mich mehrmals erfolglos nach ihm umgeschaut. Und plötzlich war er einfach da. Wie aus dem Nichts.


Meine Lebensgeister erwachten wieder und ich schüttelte die Hand von meiner Schulter. Wie in einem Albtraum, in dem man das Ende des Weges nie erreicht, kletterte ich über die Felsen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich den Abhang.

Ronni hielt sich mit beiden Händen an einer schmalen Felskante fest. Seine Fingerkuppen waren blutig.

Mit spröder Stimme bat er mich, mit beiden Händen einen Arm von ihm zu fassen und ihn hochzuziehen.

Er legte seinen Kopf ein wenig in den Nacken und schaute mir in die Augen, so wie er mir noch nie in die Augen gesehen hatte. Ich sah seine Angst, seine Todesangst. Dann schwenkten seine Augen zu Rolf, der neben mich getreten war.

„Du entscheidest, was jetzt geschehen soll.“

Rolf war neben mich getreten und sprach so ruhig wie jemand, den die groteske Situation in keiner Weise berührte.

Ronnis Augen weiteten sich, als er verstand, was geschehen würde. Sein letzter Hilfeschrei drang noch bis an mein Ohr, aber nicht mehr in meinen Kopf.


„Guten Tag. So ganz alleine hier in der Heide?“, ertönt neben mir eine freundliche männliche Stimme.

Ich erschrecke fast zu Tode und werde abrupt aus meinem Horrorszenario der Erinnerungen gerissen.

„Oh, Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Nicht so schlimm“, lüge ich.

„Ich war so in Gedanken versunken, dass ich Sie nicht bemerkt habe“, füge ich als Erklärung hinzu.

Ich drehe mich zur Seite und schaue in ein Gesicht mit markanten Zügen, einem breiten Kiefer und einem ausgeprägten Kinn. Ein freundliches Lächeln um seine Mundwinkel und seine gebräunte Haut lassen ihn für mich seriös erscheinen. Nach dem ersten Blick würde ich sagen: Der Mann gefällt mir, auch wenn er mindestens zehn Jahre älter ist als ich.

„Wo wollen Sie denn hin?“, will er wissen.

„Bis kurz vor Troisdorf und dann auf der anderen Straßenseite zurück nach Altenrath“, gebe ich bereitwillig Auskunft.

„Und wohin wollen Sie?“, frage ich leicht naiv hinterher, obschon ich den Mann doch überhaupt nicht kenne und mich das auch grundsätzlich nicht interessiert.

„Ich gehe bis zu den ersten Häusern von Troisdorf. Dort habe ich dann meine kleine Wanderung beendet. Am Waldrand steht mein Auto“, antwortet der Mann und führt sofort das Frage und Antwortspiel weiter.

„Meine Wanderstrecke ist bei weitem nicht mit Ihrer Strecke vergleichbar. Sind Sie denn gar nicht ängstlich? Als junge Frau ganz allein hier in der Heide? In dieser Jahreszeit und dann an einem Wochentag sind hier nicht viele Menschen unterwegs.“

Dabei mustert er mich von der Seite. Ein zufriedenes Grinsen zeigt mir, dass sein Urteil gut ausgefallen zu sein scheint.

„Nein, ich bin nicht ängstlich. Ich glaube, es gibt wesentlich weniger schlechte Menschen, als allgemein angenommen wird“, antworte ich und gebe ihm ein Lächeln zurück.

„Dann können wir doch bis Troisdorf zusammen gehen, wenn Sie nichts dagegen haben? Es sei denn, Sie möchten wieder Ihren Gedanken nachhängen?“

„Nein, nein. Es ist schon in Ordnung, wenn ich nicht so viel nachdenke. Ein wenig Abwechslung tut mir sicherlich gut.“

Während der Unterhaltung sind wir langsam weitergegangen. Jetzt, da wir ein gemeinsames Ziel haben, schlagen wir wieder ein normales Wandertempo an.

Damit die Unterhaltung nicht ins Stocken gerät, frage ich ihn, ob er sich seine Bräune im Urlaub im Süden geholt habe.

„Nein. Ich war nicht in Urlaub. Im Frühjahr und im Sommer lebe ich in Spanien, auf Mallorca. Im Herbst komme ich dann nach Deutschland. Ich bin erst vor einer Woche angekommen.“

Jemand, der in Spanien lebt, wenn auch nur zeitweise, weckt natürlich mein Interesse.

„Und wo leben Sie auf Mallorca? Bestimmt in einer dieser Touristenmetropolen? Dort liegen Sie den ganzen Tag am Strand in der Sonne oder vertreiben sich die Zeit mit Wassersport.“

Ich versuche, ihn mit dieser Behauptung ein wenig aus der Reserve zu locken.

„Nein, um Gottes willen, nein“, lacht er mir ins Gesicht und zeigt mir dabei seine strahlend weißen Zähne, um dann sofort ernsthaft eine Erklärung hinterherzuschicken.

„Meine Mutter betreibt in Biniaraix, das ist ein kleines Dorf im Tramuntana-Gebirge, eine kleine Taberna. Im Frühjahr und Sommer, wenn die Touristen vom Cúber-Stausee oder von Fornalutx kommen und durch das Dorf nach Sóller wandern, helfe ich ihr. Im Herbst und Winter gehe ich dann meinen Geschäften in Deutschland nach.“

Bei den Worten „Biniaraix“, „Tramuntana-Gebirge“ und „Cúber-Stausee“ bleibe ich unbeabsichtigt stehen. Ich bin geschockt. Mir wird übel.

„Was haben Sie? Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragt mein Begleiter besorgt.

„Nein, nein. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Mir wurde nur gerade schwindelig.“

„Sie sind auch ganz schön blass. Haben Sie das öfter?“

„Ja, manchmal. Aber es geht wieder.“

„Sind Sie sicher? Ich kann vorgehen, das Auto holen und Sie gerne nach Hause fahren.“

„Nein, nein, das ist nicht notwendig. Es ist schon vorbei. Mir geht es wieder gut.“

„Dort unten ist die Straße. Von dort ist es nicht mehr weit bis zu der Stelle, von der Sie zurück nach Hause gehen können.“

Er zeigt mit ausgestrecktem Arm zum Ende des Weges. Durch die kahlen Sträucher kann ich die Straße bereits sehen.

„Wir überqueren die Straße und halten uns danach links. Ich begleite Sie noch bis zur Altenrather Straße. Dort können Sie dann, so wie Sie es geplant haben, auf der anderen Straßenseite nach Altenrath zurückgehen. Ich habe von dort aus nur noch ein kleines Stück Weg bis zu meinem Wagen, der kurz vor Troisdorf steht.“

Die Unterhaltung ist beendet, obschon mir eine Menge Fragen auf den Lippen brennen. Mir fehlt der Mut, diese Fragen zu stellen, da ich Angst vor den Antworten habe.

Ich spüre, wie er mich hin und wieder von der Seite prüfend anschaut. Wahrscheinlich macht er sich Sorgen um mein Wohlergehen, denke ich. Als wir die Straße erreichen, die ich vom Wald aus gesehen habe, sind es vielleicht nur noch fünfhundert Meter bis zur Altenrather Straße.

Bevor er sich verabschiedet, vergewissert er sich nochmals, dass es mir wieder gut geht und bietet erneut seine Fahrdienste an, die ich aber dankend und entschieden ablehne.

„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Rückweg und passen Sie auf sich auf. Ich bin sicher, wir sehen uns demnächst wieder“, sagt er zum Abschied.

„Vielleicht treffen wir uns erneut beim Wandern hier in der Heide“, fügt er nach dem nächsten Atemzug hinzu.

Ich bin froh, als er mir die Hand gibt und sich verabschiedet. Ich benötige nun unbedingt etwas Zeit und Ruhe, um das, was dieser Mann soeben über sich, seine Mutter und über Mallorca gesagt hat, zu verarbeiten und einschätzen zu können.

Erst jetzt fällt mir ein, dass ich noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt habe. Der Mann hatte aber auch nicht nach meinen Namen gefragt – vielleicht zum Glück. Oder kennt er meinem Namen und hat deshalb nicht danach gefragt? Ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen und meine Beine werden zittrig.

Ich lehne mich gegen einen Baumstamm. Nach kurzer Zeit habe ich mich soweit erholt, dass ich die Straße überqueren und den Heimweg antreten kann.

Isabelle

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