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Gestern Abend, ich war gerade zu Bett gegangen und konnte nicht einschlafen, da nahm ich mir vor, heute meine erste Wanderung durch die Wahner Heide zu unternehmen.

Ich öffne die Augen. Im Schlafzimmer ist es fast noch so dunkel wie in der Nacht. Mein Wecker auf dem antiquierten Nachttisch zeigt Montag, 24. Oktober 8:15 Uhr an. Ich habe gestern Abend die Weckfunktion nicht aktiviert, da ich endlich einmal ausschlafen wollte. Vielleicht habe ich auch die Uhrzeit nicht korrekt eingestellt und es ist noch wesentlich früher, und deshalb noch so dunkel. Oder liegt es an den dicken, bunten Vorhängen, die so gut wie kein Licht durchlassen?

Ich erhebe mich von der viel zu weichen Matratze. Das Bett quietscht fürchterlich. Einen Augenblick bleibe ich auf der Bettkante sitzen und resümiere, dass ich trotz der nicht optimalen Verhältnisse gut geschlafen habe. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und ziehe die Vorhänge zur Seite. Was ich sehe, lässt mich meinen Entschluss bereuen. Die natürliche Tristesse eines rheinischen Herbsttages schaut mich an. Leichter Nebel, feucht und grau, wohin ich auch blicke. Als ich mich entschlossen habe, heute wandern zu gehen, konnte ich nicht ahnen, welches Schmuddelwetter mich heute Morgen erwarten würde.

Jetzt nehme ich auch die Kälte wahr, die im Schlafzimmer herrscht. Soll ich mich nochmals unter die Bettdecke verkriechen? Eine verlockende Versuchung. An solch einem Tag würde mir bestimmt nichts entgehen und Termine habe ich ohnehin nicht. Nein, ich entscheide mich dagegen. Stattdessen knipse ich das Licht an, lege mir eine Decke um die Schultern und gehe ins Wohnzimmer.

Auch hier mache ich zuerst einmal Licht und ziehe die Vorhänge zurück. Die gleiche graue Suppe wie vor dem Schlafzimmerfenster. Zum Glück habe ich gestern Abend nicht das Heizungsthermostat zurückgedreht. Daher ist es im Zimmer angenehm warm und gemütlich.

Na ja, Gemütlichkeit sieht in der Regel anders aus. Auf dem Tisch und in einigen freien Ecken stehen noch Umzugskartons, die ich gestern nicht geschafft habe auszupacken.

Was soll‘s, denke ich. Das hat Zeit bis später. Es ist warm und wenn ich geduscht, mir einen Kaffee aufgebrüht und ein Brötchen aufgebacken habe, beginnt der Tag doch recht positiv.

Auf meine erste Wanderung will ich auf keinen Fall verzichten – ich muss einfach raus. Nachdenken, was geschehen ist abhaken und einfach den Kopf frei bekommen.

Nach dem Frühstück ziehe ich mich warm und regenfest an und verlasse mein neues Zuhause.

Beim Verriegeln der Haustür fällt mein Blick auf das Namensschild an der Klingel: „Isabelle Kern“.

Der Vermieter hatte das bereits vor Tagen veranlasst. Glücklich bin ich nicht darüber, aber ich werde demnächst sowieso wieder meinen Mädchennamen annehmen. Dann wird auch der Name „Kern“ nur noch „Schall und Rauch“ sein. Gott sei Dank.

Nachdem ich den Ort hinter mir gelassen habe, orientiere ich mich an der Straße nach Troisdorf. Am Waldrand führt ein Weg parallel zur Straße. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diesem Weg gefolgt bin. Irgendwann biege ich links ab in den Wald hinein. Mehrmals biege ich rechts und dann links in einen anderen Weg ein. Ich habe kein konkretes Ziel, nicht einmal eine geplante Richtung und eine Wanderkarte habe ich auch nicht dabei.

Im Laufe des Vormittags gesellt sich zu dem eintönigen Grau leichter Regen hinzu. Die Sicht wird dadurch noch schlechter. Aber ich habe nicht vor, mir den Wald und die Landschaft anzusehen – heute nicht. Ich will meine Sorgen und Gedanken im Kopf ordnen. Will meinen Kopf regelrecht ausmisten.

Ich ziehe meine Kapuze über und stopfe die Hände tief in die Taschen meiner Regenjacke.

Zu viele Gedanken schwirren unkontrolliert durch meinen Kopf, und je mehr ich nachdenke, desto verwirrender werden sie. Das hat zumindest den Vorteil, dass ich abgelenkt bin und den Regen und die Kälte nicht so spüre.

Immer wieder frage ich mich, wieso ich monatelang nichts bemerkt hatte. Macht Liebe wirklich blind?

Seltsamerweise spüre ich jetzt noch immer das Gefühl, das Gefühl der Geborgenheit. Keine Frage, ich habe Ronni geliebt.


Über vier Jahre lebten wir zusammen – glücklich zusammen. Damals in Duisburg hatten wir uns kennengelernt. Als ich dann in Bonn die Stelle in der Anwaltskanzlei antrat, hatten wir Zweifel, ob unsere Liebe diese Wochenendbeziehung überstehen würde. Ronni besuchte mich jedes Wochenende in meiner Wohnung in der Pension in Poppelsdorf. Ich weiß es noch so genau. Manchmal, wenn die Sehnsucht zu großwurde, kam er sogar für ein paar Stunden abends in der Woche nach Bonn. Diese wenigen Stunden waren meistens schöner und intensiver als ein ganzes Wochenende. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Ronnis Versetzungsantrag nach Bonn stattgegeben wurde. Zu diesem Glück gesellte sich noch der Zufall, dass er wieder mit Frank Eisenstein zusammen arbeiten konnte, der bereits in Duisburg fünf Jahre sein Chef war.

Wie war ich doch selig, als er Weihnachten vergangenen Jahres endlich um meine Hand anhielt. Die standesamtliche Trauung fand im kleinen Kreis statt. Meine Eltern und meine jüngere Schwester, die Trauzeugin war, waren aus Spanien gekommen. Ronnis Eltern waren selbstverständlich auch da. Da er keine Geschwister hat, hatte er Frank Eisenstein gefragt, ob er Trauzeuge werden möchte. Natürlich sagte Frank gerne zu und ich freute mich ebenfalls. Schließlich kenne auch ich Frank seit Jahren und die beiden Männer sind gute Freunde, die die meiste Zeit des Tages beruflich miteinander verbringen und viel zusammen erlebt haben.

Im Juni feierten wir eine wunderschöne Hochzeit. Die Trauung in der kleinen Kirche, mein weißes, tief ausgeschnittenes Brautkleid und mein Mann im dunkelbraunen Anzug mit Fliege. Er sah so toll aus – mein Mann. Wie war ich doch stolz, erinnere ich mich etwas wehmütig.

Es wurde ein riesiges Fest. Alle Verwandten aus meiner Heimat waren angereist. Viele Freunde von mir und von Ronni. Ich erinnere mich noch genau: Sogar Frank hatte mit mir getanzt – und sogar gut getanzt. Das hätte ich dem etwas linkisch wirkenden Hauptkommissar gar nicht zugetraut. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob er nicht vorher, extra für die Hochzeit einen Tanzkurs besucht hat.


Doch das ist jetzt alles überholt und Vergangenheit. Ich muss nach vorne schauen. Nur das Jetzt und die Zukunft zählen!

Als ich mit der Zunge über meine Oberlippe fahre, spüre ich einen salzigen Geschmack. Sind das Reste von Tränen? Habe ich geweint und es im Regen nicht einmal bemerkt?

Seltsam, dass mich nach all den Ereignissen der letzten Zeit unverhofft diese romantische Stimmung überkommt.

Gerade bin ich einem steilen Weg in ein Tal hinab gefolgt und erreiche eine Weggabelung. Ich schaue nach rechts, nach links und kann keinen Entschluss fassen, welche Richtung ich einschlagen soll. Wo bin ich hier? Irgendwo drüben zwischen den Bäumen scheint ein Bach oder Fluss zu fließen. Aber auch diese Erkenntnis ist für mich nicht hilfreich. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Theoretisch bleibt nur die eine Möglichkeit, den bisher zurückgelegten Weg zurückzugehen. Praktisch habe ich enorme Zweifel, den Rückweg wieder zu finden. Es ist kein Mensch zu sehen, den ich fragen könnte, was bei dem Wetter nicht verwundert. Intuitiv entscheide ich mich für den linken Weg durch das Tal.

An der rechten Seite des Weges, der Seite, wo der Bach fließt, ist der Waldboden mit ausgedehnten Wasserlachen überzogen. Blätterlose Äste und Ranken hängen wie abgestorben an den Bäumen. Aus den Wasserlachen ragen verrottete Baumstämme heraus. Ein modriger Geruch erfüllt den Wald. Die linke Seite des Weges bildet ein mit Bäumen und Sträuchern bewachsener Hang, der steil hoch in den grauen Dunst des „Hundewetters“ führt.

Trotz des Regens nehme ich hin und wieder ein Rascheln und das Geräusch brechender Äste hinter den Sträuchern wahr. Irgendwie machen mich diese Geräusche nervös. Grundsätzlich bin ich kein ängstlicher Mensch, aber ist es auszuschließen, dass mich jemand beobachtet? Zumindest bin ich mir sicher, dass bei diesen Witterungsverhältnissen niemand zufällig hinter irgendwelchen Sträuchern umherirrt. Falls da jemand sein sollte, kann er sich nur meinetwegen dort aufhalten. In mir besteht eine Anspannung, die ich nicht leugnen und ignorieren kann.

Ich beschleunige meine Schritte. Der Weg ist breit und ich versuche, möglichst viel Abstand zwischen mir und dem Hang zu halten. Unablässig suchen meine Augen die linke Seite des Weges und das Buschwerk ab.

Sollte tatsächlich jemand meinen neuen Aufenthaltsort herausbekommen haben? Und das bereits am ersten Tag? Eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen.

Plötzlich schießen zwei Rehe wie aus dem Nichts vom Abhang über den Weg und verschwinden zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Weges.

Wie angewurzelt bleibe ich stehen und schaue ihnen hinterher. Erleichterung breitet sich in mir aus, aber noch kein Aufatmen. Zu sehr hat mich der Gedanke beschäftigt, dass mir jemand auflauert. Aber wer soll das sein? Der Einzige, der vielleicht einen Grund dazu hätte, kann es nicht mehr.

Der Rest des Weges verläuft unspektakulär, trüb, grau und regnerisch. Alles wie gehabt.

Ich erreiche eine Straße, die aus dem Tal den Berg hinauf führt. Als ich auf dem Straßenschild den Namen „Rambusch“ lese, bin ich stolz auf meine Intuition, dass ich den richtigen Weg gewählt habe. Den Namen kenne ich und weiß, die Straße führt zum Heidedorf Troisdorf-Altenrath in der Wahner Heide, in dem ich seit gestern wohne.

Völlig durchnässt erreiche ich die Haustür zu meiner Wohnung. Ich streife die Kapuze vom Kopf und schüttle den Regen von meiner Jacke und damit auch die sentimentale Anwandlung und Ängste, die mich unterwegs überkommen hatten. Wieder zufrieden mit mir, öffne ich die Haustür.

Dabei zwinge ich mich, das Klingelschild nicht anzusehen.

Im Flur hänge ich meine nasse Jacke an die Garderobe und entledige mich ebenfalls der nassen Jeans. Im Wohnzimmer ist es gemütlich warm. Ich gehe auf direktem Weg zum Kühlschrank in die Küche, die sich in einem kleinen Raum befindet, der sich direkt am Wohnzimmer anschließt. Im Tiefkühlfach finde ich die letzte der beiden Pizzen, die ich gestern gekauft habe. Die muss für heute reichen. Morgen werde ich einen Großeinkauf machen und danach die restlichen Kartons auspacken.

Jetzt will ich erst einmal Siesta halten. Dazu verkrieche ich mich in mein quietschendes Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf. In mir fließt nun einmal spanisches Blut und ich bekenne mich zu diesem sinnvollen Ritual. Sie gehört zu uns Spaniern wie Tapas, Flamenco oder Pablo Picasso. Nur eine ausgiebige Siesta kann die Menschen vor Verrohung und Aggressivität bewahren. Mich diesen Gefahren aussetzen, indem ich auf die wohlverdiente Siesta nach dieser anstrengenden Wanderung verzichte, will ich nun wirklich nicht.

Diese Gedanken sind das Alibi für meine Alltagsflucht ins Bett und ich schlafe darüber ein.

Isabelle

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