Читать книгу Miriams Baby - Hermann Brünjes - Страница 5
Dienstag, 3.12.
ОглавлениеAls wären Landschaft und Orte mir fremd, so erscheint mir die Anfahrt. Nein, nicht fremd. Farblos, verlassen, triste und kahl trifft es eher. Diese Strecke bin ich oft gefahren, zuletzt Ende August. Der Wald, die Felder, Dörfer und Straßen sind mir bekannt – und doch tauche ich jetzt in eine Welt ein, die ich anders in Erinnerung habe, frischer, freundlicher, sommerlicher. Das gelbe Ortsschild ist der einzige Lichtpunkt, als ich hinab ins Bachtal mit der Wassermühle fahre. Knorrige Eichen und kahle Linden ragen schwarz in den Himmel. Ihre Äste wirken vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Wolken irgendwie gespenstisch. Die Teiche und der zur Mühle gehörende Wasserlauf liegen neben der feuchten Asphaltstraße wie schwarze Löcher im Universum. Ein Hund streunt vor der Landbäckerei herum. Vielleicht sucht er nach Brotresten. Gleich zweimal kreuzen Katzen die Straße, eine schwarze und eine braun gefleckte. Ich muss bremsen. Abergläubisch bin ich nicht. Ich vergesse auch immer die Richtung, in der die schwarze Katze über die Straße laufen muss, damit es gefährlich wird. Außerdem beweisen diverse platt gefahrene Katzen auf unseren Straßen, dass vor allem wir gefährlich sind. Ob auch Katzen abergläubische Weisheiten tradieren? »Mensch von rechts bringt Schlecht’s, Mensch von links, Glück bringt’s.«
Einige Autos kommen mir entgegen, alle mit Licht, obwohl es Vormittag ist. Kein Mensch ist auf der Straße. Die Feldsteinkirche wirkt inmitten der kahlen Eichen nicht mehr einladend und idyllisch wie im lichten Sommer, sondern abweisend wie eine Trutzburg im dunkelsten Mittelalter. Man kann sich jetzt gut vorstellen, dass der heutige Glockenturm damals als Wehrturm gute Dienste leistete.
Ich parke meinen grauen Golf IV vor der Kirche. Das Hinweisschild für einen Besinnungsweg ist nach dem Ortsschild der zweite Farbklecks. An der Kirche beginnt der »Auferstehungsweg«, ein Angebot für Pilger, Natur- und Kunstfreunde, die sich mit den biblischen Ostergeschichten, sich selbst und der Natur auseinandersetzen wollen. Im nächsten Ort gibt es ein Kloster. Dort endet dieser meditative Weg mit Bildern des Künstlers Werner Steinbrecher nach vierzehn Stationen. Der durchsichtige Kasten am Pfosten der Station enthält keine Flyer mehr. Vermutlich ist die Saison für Pilger längst vorbei.
Ob sie irgendwann auch noch einen »Weihnachtsweg« installieren? Das wäre doch mal eine Idee. Für meine Weihnachts-Recherche käme ein solches Projekt zwar zu spät, aber vielleicht wird sie ja zum Auslöser dafür.
Auch am Tagungshaus gegenüber der Kirche sehe ich keinen Menschen. Der Fachwerkgiebel wirkt bei trübem Licht abgewetzt und reparaturbedürftig. Die mächtige Säuleneiche davor hält ihre braunen Blätter fest, als seien es Kinder, die sie nicht loslassen möchte, weil sie um ihr Sterben weiß.
Wieder amüsiere ich mich über das kleine Schild neben dem Eingang. »Luther war hier!« steht dort. Schon im November gab es Minusgrade. Jetzt hat der Weinstock, dessen Reben an der Wand hochklettern, keine Blätter mehr. Deshalb erkennt man schneller das kleine Wörtchen unter dem dicken Text es Schildes: »Nie«. Luther war hier – nie.
Jens Jahnke dagegen war schon hier, wenn auch nur kurz. Ihm widmet allerdings niemand ein Schild. Ich drücke den runden Klingelknopf an der hölzernen Haustür. Hoffentlich ist jemand da.
Durch die Scheiben der Tür sehe ich eine junge Frau aus einem Raum in den Flur und dann zur Haustür kommen. Sie ist schlank, hat lange dunkle Haare und trägt eine Brille mit braunem Rand.
»Hallo, mein Name ist Jens Jahnke. Ich bin mit Ihrem Chef verabredet, mit Theo Beyer.«
»Kommen Sie herein. Ich heiße Anna Lena und gehöre zur HG. Ich vermute, wir haben schon miteinander telefoniert.«
Richtig, ich erkenne ihre Stimme. Sie öffnet die Eingangstür und ich folge ihr. Gut, dass ich inzwischen weiß, was »HG« bedeutet. Mir scheint, die Leute in diesem Tagungshaus verfallen der Versuchung vieler Gemeinschaften, sich über Abkürzungen und Insidersprache zu verständigen. Nichts dagegen – aber sobald jemand von außerhalb kommt, versteht man sich nicht mehr. Und ich komme von weit draußen! Jetzt wörtlich und was die christliche Szene angeht auch im übertragenen Sinn. Na, ich bin gespannt, was ich hier überhaupt verstehe ...
Anna Lena bringt mich in eine Art Büro mit Esstisch. Dort sitzen mindestens zehn Personen. Vor dem Tisch auf dem Fußboden ist eine dicke Decke ausgebreitet. Dort liegt ein Baby auf dem Bauch und spielt mit einem bunten Clown. Eine junge Frau hockt daneben und hält das Kind bei Laune. Familienfreundlich, denke ich.
Ein schlanker, dunkelhaariger Mann am Kopfende des Tisches steht auf und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Herr Jahnke, danke für Ihr Interesse! Ich bin Theo Beyer, der Leiter dieser Einrichtung.«
Der Mann ist mir auf Anhieb sympathisch. Er ist schlicht in Jeans und Polohemd gekleidet, trägt einen kleinen Kinnbart und seine grüngrauen Augen leuchten im Licht der Deckenlampe. Er wendet sich nach unserer Begrüßung wieder der Runde am Tisch zu.
»Herr Jahnke ist Journalist vom Kreisblatt. Er hat Interesse daran, unsere Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Besonders interessiert ihn, was uns an Weihnachten wichtig ist.« Er wendet sich wieder an mich. »Und wir sind daran interessiert, Sie zu unterstützen und danken gleichzeitig, dass wir so die Chance bekommen, ein bisschen mehr von unserer ›Insel der Seligen‹ bekannt zu machen.«
Allgemeines Schmunzeln und Nicken.
»Wir sitzen gerade in unserer wöchentlichen DB, also der Dienstbesprechung«, informiert mich Theo Beyer, »aber ich bin jetzt entbehrlich und kann mit Ihnen nach nebenan gehen. Die Aufgabenverteilung kriegt ihr allein hin. Andy, übernimmst du die Leitung?«
Der zuletzt angesprochene Andy, ein Mann mit Dreitagebart, der mir irgendwie bekannt vorkommt, und alle anderen nicken. Typisch Teamsitzung, denke ich. Papiere, zwei oder drei Smartphones, Kaffeetassen, O-Saft, Wasser und wichtige bis gelangweilte Minen. Das bedeutet Redaktionssitzung. Hier nennen sie es also DB. Gut, dass wenigstens der Chef gemerkt hat, dass er die Abkürzungen zumindest zu Beginn einem Nicht-Insulaner erklären muss.
»Vielleicht ist es gut, wenn ich Ihnen unser Team vorstelle. Später sprechen Sie ja noch mit den Einzelnen.«
Ich bin mehr als einverstanden. Genauso habe ich es mir gedacht: Zuerst ein Gespräch mit dem Leiter, dann sehen, was hier so läuft, einzelne Interviews, Fotos, vielleicht auch Interviews mit Gästen und ... mal sehn. Wahrscheinlich muss ich noch ein- bis zweimal wiederkommen.
»Fangen wir mit dem Nachwuchs an. Das da unten ist unser aller Jeschu!« Beyer zeigt mit einem gewissen Stolz auf das Baby und schmunzelt. »Manchmal quakt er auch, aber wir freuen uns, dass seine Mutter jetzt bei uns ist.«
Wer von den jungen Frauen hier die Mutter des Kleinen ist, sagt er leider nicht. Vielleicht ist es das Mädchen, das gerade mit Jeschu spielt. Jeschu? Ist das ein jüdischer Name?
Das Team, das sich mir nun vorstellt, ist eine bunte Mischung aus jung und alt – Tendenz jung.
Bereits dies ist in meiner bescheidenen Reporterpraxis untypisch für Kirche. Die kirchlichen Veranstaltungen, über die ich bisher berichtet habe, wurden vor allem von älteren Leuten besucht. Kam man von hinten in einen Raum und sah die Köpfe der Besucher, schaute man auf ein graues Einheitsmuster. Hier jedoch sah man nur bei Andy, Petra und Irmtraud graue Schläfen. Andy ist als Geschäftsführer für die Belegung mit Gruppen zuständig, Petra leitet die Hauswirtschaft und Irmtraud ist Küchenchefin. Sie bilden zusammen mit dem Leiter und dem Pastor der Gemeinde sozusagen das Stammteam des Hauses. Andy ist schon sehr lange dabei. Er grinst mich an.
»Hey, Jens Jahnke! Wir sind uns schon mal begegnet.«
Es stimmt. Ich habe ihn einmal auf einer Lebensmittel-Messe interviewt. Damals war er noch für den Einkauf von Nahrungsmitteln zuständig.
Die Freiwilligen machen einen aufgeschlossenen Eindruck. Anna Lena, Andreas, Christian und Jakob sitzen am Tisch. Yvonne spielt mit dem Baby und Magda hat gerade ihren FT (freien Tag). Sie schütteln mir brav die Hand. Einige haben einen festen, zwei einen laschen Händedruck. Wie in allen Teams dieser Welt wird es auch in diesem hier »solche und jene« geben. Also – alles ganz normal.
Bereits wenn ich eine christliche Gemeinschaft als »normal« bezeichne, würde mein geliebter Florian Heitmann zusammenzucken. Aus seiner Sicht sind sie allesamt entweder religiöse Spinner, Verführte oder Scharlatane. Schade, dass Florian jetzt nicht hier ist, denke ich. Diese jungen Menschen wirken engagiert, offen und modern. Auch die Kleidung entspricht dem, was man heute so trägt. Handys scheinen hier allerdings während der Besprechung tabu zu sein. Wie bei uns in der Redaktion.
Andy übernimmt die Moderation der Besprechung und ich gehe mit Theo Beyer in einen Raum nach nebenan. Das Büro ist ansprechend eingerichtet. An der Wand hängen Originale einer befreundeten Künstlerin. Schreibtisch, Stühle und Schrank sind aus hellem Holz hochwertig gefertigt. Auf dem Schreibtisch steht ein Flachbildschirm und davor zwei Stühle.
»Hier empfängt Andy die Leiter der Gästegruppen«, erklärt Beyer mir. »Er macht die Buchungen und hält Kontakt zu den Gästen. Viele der Gruppen kommen regelmäßig zu uns.«
Ich erfahre, dass es je zur Hälfte Jugendliche und Erwachsene sind, die das Tagungshaus nutzen. Im Moment ist keine Gruppe da. Nun verstehe ich, warum ich auf dem Gelände niemanden gesehen habe. Sonst bevölkern Konfirmanden, Jugendgruppen, Chöre, Kirchenvorsteher, Mitarbeiter und diverse andere kirchliche Gruppen das Gelände und die Häuser.
Theo Beyer vertritt seine Sache ausgesprochen gut. Ich tippe ein paar Notizen in mein iPad. Vor allem Namen vergesse ich schnell, also besser aufschreiben! Er erzählt mir vom Leben der Hausgemeinde. Sie sei das »Herz des Hauses«, ihretwegen kämen die meisten Gruppen. Die jungen Leute laden zur Abendandacht in die Kirche ein und stehen als Mitarbeiter für Gruppen zur Verfügung. Das sei vor allem bei Konfirmandenfreizeiten eine riesige Entlastung der Pastoren.
Das kann ich mir denken. Zu meiner Zeit gab es noch keine Freizeiten für Konfirmanden! Wir mussten vor allem lernen, lernen ... um dann alles wieder zu vergessen.
»Sie sollten morgen wiederkommen. Am Abend wird eine Gruppe hier sein und die Hausgemeinde ihre Andacht feiern. Da hören Sie dann unser Herz schlagen ...«.
Theo Beyer lacht, als er das sagt.
Während der nächsten Dreiviertelstunde führt er mich durch die Häuser, die zum Tagungshaus gehören. Das Haupthaus war einmal die Dorfschule. Durch einen Anbau wurde der Speiseraum vergrößert. Hier können jetzt locker bis hundert Personen verpflegt werden. Aus den Klassenräumen sind ein Clubraum mit Kamin und ein Tagungsraum geworden. Letzterer hat noch am meisten Ähnlichkeit mit einem Klassenzimmer, ist er doch ausgestattet mit Whiteboard, Flipchart und was man sonst so bei Seminaren braucht ... Alles ist sehr stilvoll eingerichtet. Die Möbel sind teilweise neu. Bilder des Künstlers Werner Steinbrecher hängen in vielen Räumen.
»Und hier, schauen Sie sich diese Fotos an!«
Beyer zeigt mir einen Bilderrahmen im Treppenaufgang. Darin sind mehrere Farbfotos als Collage zusammengestellt, Fotos aus Indien. Allerdings ist es ein sehr schlichtes, primitives Indien. Menschen in Hütten, ein großer Fluss, Kinder.
»Dies sind Fotos von 1981. Es sind die ältesten Fotos, die wir von unserer Partnerkirche im indischen Stammesgebiet haben.«
Jugendgruppen werden in Mehrbettzimmern untergebracht. Es erinnert mich an die Jugendherbergen von früher, nur dass hier modernisiert wurde. Trotzdem, in einem Zimmer mit fünf anderen möchte ich nicht mehr schlafen! Auch den Sanitärbereich mit anderen zu teilen, wäre mir unangenehm. Theo Beyer hat meine Gedanken vermutlich erraten.
»Wir werden umbauen!«, sagt er. »Für Erwachsene haben wir ja längst einen anderen Standard in den neuen Häusern. Nun sind die Jugendlichen dran. Die sind heutzutage häufig Besseres gewöhnt.«
Seinem Tonfall entnehme ich ehr »verwöhnt«. Immerhin scheinen sie hier mit der Zeit zu gehen, oder es zumindest zu versuchen.
Der Leiter zeigt mir noch die anderen Häuser. Dort sind Zimmer für Erwachsene mit Hotelstandard. Helles Holz, originale Kunst an den Wänden, gemütliche Clubräume und funktionale Tagungsräume. Die Einrichtung kann sich sehen lassen. Die Bewertungen bei Google und in verschiedenen Gästehausportalen sind also keine Fakes.
»Wie haben Sie das alles finanziert?«
Beyer lacht. Vermutlich hat er auf diese Frage gewartet.
»Teils Zuschüsse der Landeskirche, teils Spenden unserer Freundinnen und Freunde – und die zweite Hälfte hat Gustav bezahlt.«
Wer ist nun schon wieder Gustav? Beyer klärt mich auf.
»Das ist ein Bauunternehmer, der sich hier bei uns, aber auch in anderen Einrichtungen sehr engagiert. Uns ist er von Beginn an verbunden. Ohne Gustav hätten wir all das nicht durchziehen und aufbauen können.«
»Und was hat dieser Gustav davon?« Die Frage kann ich mir nicht verkneifen. Derart große Spenden machen – da steckt meistens etwas dahinter.
»Weiß nicht. Ich vermute, er sieht es als Geburtstagsgeschenk für Jesus – wo Sie schon mal zum Thema ›Jesus aktuell‹ und ›Weihnachten‹ recherchieren.«
Ich bin beeindruckt. Vielleicht sollte ich diesen Bauunternehmer mal interviewen. Beyer lacht.
»Sorry, der ist bei seinem Chef angekommen, im Himmel. Aber Sie können ja mal seinen Sohn oder seine Enkel fragen. Die machen weiter, was Gustav begonnen hat. Aber Themenwechsel: Bleiben Sie noch zum Mittagessen?«
Gerne sage ich zu. Für mich als Junggesellen gehören solche Einladungen zu den Sternstunden des Daseins. Zwar hatte ich mich schon auf den Griechen im Nachbardorf eingestellt, aber so kann ich noch ein paar Eindrücke mehr gewinnen.
Das Essen ist heute angeblich schlicht. Reis, frischer grüner Salat, Hühnerbein, zum Nachtisch Joghurt. Abgesehen vom Joghurt, den ich bereits als Kind nicht mochte, ist es aus meiner Sicht ein Festessen.
»Wir haben nur Reste aufgewärmt«, meint Irmtraud, »weil wir ja nur unter uns sind.«
Christian, ein kräftiger blonder Mann mit rundem Gesicht, rennt in den Keller und holt für mich ein Vanilleeis aus dem Gefrierraum. Beyer hat mir erzählt, dass »Gastfreundschaft« eines ihrer Leitbilder ist. Zumindest diese Truppe hier scheint es auch mit Leben zu füllen.
Ich frage meine Tischnachbarn, wie sie Weihnachten feiern. Ich erfahre, dass sie über die Weihnachtstage gar nicht hier sind. Sie werden in ihren Familien feiern.
»Am dritten Adventwochenende wird das Haus noch einmal voll,« erzählt Christian, »da ist FKT.«
»Freundeskreistreffen der Ehemaligen aus der Hausgemeinde!«, erklärt Anna Lena. »Christian, du musst deutsch reden und ohne Abkürzungen, wenn jemand Fremdes da ist!«
Na, das gefällt mir. Man erzieht sich hier gegenseitig.
»Wir ziehen dann unser Weihnachtsfest ein bisschen vor. Zwar gibt es keine Geschenke, aber extrem viel Spaß und einen tollen Gottesdienst. Immerhin feiern wir ja den größten Geburtstag aller Zeiten! Na ja, zum Schluss wird noch einmal alles geputzt und dann fahren wir in die Weihnachtsferien!«
Nun muss ich rechnen. Das bedeutet, ich habe für meine Recherchen nur zwei Wochen Zeit. Danach ist dieses Haus geschlossen. Okay, dann fange ich gleich an. Christian hat mir ja gerade eine Vorlage geliefert.
»Was meinst du mit größtem Geburtstag aller Zeiten?«
»Na, ich meine den von Jesus.«
Er tut so, als sei das selbstverständlich. Für unsere Leser ist das alles andere als klar.
»Christian, wenn du unseren Lesern in zwei Sätzen sagen sollst, was dieser Geburtstag für dich bedeutet – was sagst du?«
Nun ist mein junger Gesprächspartner etwas verunsichert. Anna Lena springt ein. »Ich sage: Weil Jesus geboren ist, haben wir eine Vorstellung von Gott und wissen, wie er ist.«
»Aber dann musst du auch sagen, wie.«
Andreas mischt sich ein. Er ist ein schlanker, smarter Typ mit dem Versuch eines Dreitagebartes. Vermutlich mögen ihn die Mädels.
»Klar. Durch Jesus weiß ich, dass Gott eine Person ist, unser Vater. Jesus hat gezeigt, was Gott wichtig ist und wie wir zusammen leben sollen und können.«
Selbst durch die Brille hindurch erkenne ich das Funkeln ihrer Augen, als Anna Lena von Jesus schwärmt. Oder funkelt sie Andreas an? Könnte auch sein. Immerhin leben hier ja Jungs und Mädchen zusammen, und das in genau jenem Alter, wo man sich gegenseitig sucht und findet.
Andreas geht auf Anna Lena ein: »Das sehe ich genauso. Allerdings ist Weihnachten für mich noch mehr. Gott wird Mensch. Gott ist an meiner und unserer Seite. Das finde ich echt cool. Nicht irgendwo oben im Himmel, sondern hier unten ist er zu finden!«
Christian lacht. »Genau, Gott bleibt nicht im Himmel, sondern er geht ins Tal. Ins Himmelstal eben!«
Sein Wortspiel finden alle gut. Wir lachen. Ich spüre, hier sind Leute, für die Weihnachten nicht ein Konsumfest ist, sondern die sich mit der wahren Bedeutung auseinandersetzen.
»Hoffentlich. Schön wär’s ja«.
Das kommt von Magda. Sie ist eine hübsche, schlanke Frau, ein Model-Typ. Allerdings versteckt sie das unter eher lässigen Klamotten. Ihre langen dunklen Haare hat sie hochgebunden. Ein Ökoschal verdeckt Hals und Schultern. Ihren freien Tag verbringt sie offensichtlich hier im Tagungshaus.
»Magda. Schon wieder Zweifel?« Es klingt ein bisschen ironisch, so als ob Anna Lena ihre Kollegin bereits gut kennt.
»Ja. Was vor zweitausend Jahren passiert sein soll – wieso sollen wir das heute feiern? Ein Kind wird geboren. Gut. Das passiert jeden Tag. Aber die Geschichten darum herum, wer kann denn so etwas glauben!«
»Meinst du die Jungfrauengeburt? Da steht doch einfach ›junge Frau‹ in der Bibel. Vermutlich wurde die Jungfräulichkeit Marias später von der Kirche als angeblicher Beweis der Bedeutung Jesu verbreitet. Meinungsmache damals!«
Anna Lena schaut mich an. So als wäre ich für die Meinungsmache heute zuständig – was ja irgendwie auch stimmt.
»Ja, ich meine aber auch das ganze Drumherum. Die Hirten, die Engel, die Typen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken, der hinterhältige König Herodes, der Stall, die Krippe als Kinderbett, der Stern über Bethlehem ... das riecht doch alles nach Legendenbildung und Märchenbuch.«
Eben noch dachte ich, vor mir sitzt eine einheitlich fromme und gläubige Gruppe junger Leute, engagiert für ihren Glauben und ihren Gott – jetzt merke ich, dass es in dieser recht intensiven christlichen Gemeinschaft große Unterschiede gibt. Was ich gut finde: Sie reden drüber. Sie haben selbst hier am Tisch vor einem Journalisten keine Angst, ihre Zweifel zu artikulieren. Alle Achtung.
Das Gespräch geht weiter. Auch Andy mischt noch mit. Theo Beyer sitzt am Nachbartisch. Als er mitkriegt, worum es geht, bietet er an, das Thema Weihnachten im nächsten Bibeltreffen mit der Hausgemeinde mal biblisch-theologisch zu bearbeiten. Ich frage, ob ich da mal mitmachen kann. Er schaut in die Runde. Als kein Widerspruch kommt, meint er:
»Normalerweise ist das vierzehntägige Treffen intern. Da das Team jedoch einverstanden ist, habe auch ich nichts dagegen. Allerdings mit einer Auflage: Sie berichten nichts davon in Ihrer Zeitung, jedenfalls nichts von dem was wir persönlich von uns preisgeben.«
Ich bin einverstanden.
*
Als ich satt und ein bisschen mittagsmüde in meinem Golf sitze, überlege ich, ob ich Maren Bender besuchen soll. Ich beschließe, es jetzt nicht zu tun. Vermutlich ist sie ohnehin in Lüneburg. Dort arbeitet sie im Krankenhaus. Vielleicht fahre ich morgen Abend mal vorbei, bevor ich die Andacht in Himmelstal besuche ... wenn ich mich traue.
Den Nachmittag verbringe ich am Schreibtisch in der Redaktion. Jeder von uns hat mehrere Aufgaben. So kann auch ich mich in diesen intensiven Dezemberwochen nicht nur dem Thema »Jesu Geburtstag« widmen, sondern muss auch zur Jahresversammlung des Kleingartenvereins, zu zwei Märchenaufführungen ins Theater, in einen Schützenverein und als Vertreter eines kranken Kollegen zu zwei Gerichtsverhandlungen.
All das will vorbereitet sein. Wie gut, dass wir das Internet haben! So bekomme ich die meisten, früher mühsam erfragten Informationen schon vorab und kann gezielt Fragen stellen. Auch die Fehlerquote bei Zusammenhängen, Namen und Hintergründen verringert sich spürbar. Jedenfalls, wenn man seinen Job als Journalist ernst nimmt. Selbstverständlich ist das leider nicht.