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Donnerstag, 5.12.

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Der Artikel für Samstag macht mir mehr Mühe als gedacht. Nicht, dass mir nichts einfällt. Ich habe genug Stoff über das »Tagungshaus mit Herz« in Himmelstal. Es wird eine anrührende, informative und neugierig machende Geschichte um junge Menschen, die vom Kind in der Krippe inspiriert und motiviert werden. Mangelnder Stoff oder fehlende Ideen sind es also nicht, die mich blockieren.

Es sind vielmehr ablenkende Gedanken. Wenn man nicht bei der Sache ist, wird es schwierig. Und ich bin nicht bei der Sache mit dem Artikel. Ich werde vielmehr die Gedanken um Miriam und ihren Sohn nicht los. Die Geschichte dahinter zu entdecken, erscheint mir spannender als das, was ich vordergründig in Himmelstal gesehen und gehört habe.

Ich schließe das Fenster meines Weihnachtsartikels und gehe ins Internet. »Heinrich Schlüter« gebe ich in die Suchmaschine ein.

Es gibt wie erwartet mehrere Einträge mit diesem gängigen Namen. Einen Viehhändler, einen CD-Shop, einen Lufthansa-Manager und ein paar andere Schlüters mit Vornamen Heinrich. Erst auf der zweiten Seite werde ich fündig. »Erneuerte Heimat, H. Schlüter.«

Klingt das nach rechter Gesinnung? Vermutlich. Allerdings ist weder Heimat noch die Erneuerung derselben aus meiner Sicht verwerflich. Ich lande zunächst auf einer reinen Adressseite, die nichts weiter hergibt.

Ich gebe also nur »Erneuerte Heimat« ein.

Bereits auf der ersten Seite erscheinen die »Neue Heimat«, eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft und die »Alte Heimat«, ein Stadtteilquartier in München. Diverse Seiten von Heimatvereinen werden beworben. Ganz vorn, direkt nach »Tracht und Heimat« finde ich einen hoffentlich brauchbaren Eintrag mit vollem Namen. »Erneuerte Heimat – Honig aus eigener Imkerei.«

Wieder komme ich auf eine Adressseite. Eine Homepage gibt es nicht. Was immer dieser Heinrich Schlüter treibt – ans Licht der Öffentlichkeit will er damit nicht.

Die Adresse liegt zwar nicht direkt um die Ecke, aber doch leicht erreichbar in der Südheide. Google Maps zeigt mir eine Straße und viel, sogar sehr viel Wald. Irgendwo zwischen den Sperrgebieten des Truppenübungsplatzes und dem Testgelände der Waffenfabrik Rheinmetall liegt ein Gehöft. In der größtmöglichen Einstellung ist es mit »Eichengrund« beschriftet.

Ob ich richtig liege? Eben noch Fan des Internets als Recherchemittel, kommt es jetzt an seine Grenzen. Es gibt halt Dinge, die kriegt man nur raus, wenn man sich auf den Weg macht. So smart digital auch ist, ohne Fußarbeit läuft am Ende nichts.

Also auf in die Südheide!

Mir fällt ein, dass ich in Unterlüß jemanden kenne.

Manfred wäre ohnehin ein richtiger Ansprechpartner in Sachen »Rechts«. Ich habe ihn bereits mehrmals interviewt. Er ist ein lockerer Typ und wir waren gleich beim Du. Vor allem aber ist er ein überaus engagierter Pastor und Bürger, sowohl für seine Gemeinde als auch gegen Rechts. Die neuen Nazis hassen ihn dermaßen, dass sie sein Pfarrhaus abfackeln wollten. Der Brandsatz landete zum Glück nicht im Fenster des Schlafzimmers, sondern darunter an der Außenwand. Die jüdische Gemeinschaft sieht in Manfred dagegen einen Kämpfer gegen Antisemitismus und hat ihm deshalb einen ehrenhaften Preis verliehen.

Was also liegt näher, als Manfred zu befragen.

Ich habe Glück. Er nimmt sofort ab.

»Jens! Na, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Wie geht es? Immer noch wegen der Sache in Himmelstal unterwegs?«

»Ja und nein. Die alte Sache um Oliver Bender ist medial abgeschlossen. Aber ich bin da an etwas Neuem dran. Deshalb rufe ich dich an. Sag mal, sind dir die Namen ›Heinrich Schlüter‹ oder ›Erneuerte Heimat‹ schon mal begegnet?«

Ich höre mein Gegenüber tief einatmen und spüre auf der anderen Seite der Leitung eine gewisse Spannung. So, als ob es zu Knistern begonnen hat.

»Ja, das kann man wohl sagen. Der Eichenhof Schlüters liegt in meinem Gemeindebezirk.«

Ich habe also einen Treffer gelandet.

»Das ist ja Klasse. Du könntest mir sehr helfen. Könnte ich zu dir kommen und wir fahren gemeinsam dorthin?«

Wieder schweigendes Knistern.

»Jens, wenn es so einfach wäre. Was willst du denn dort?«

»Ich recherchiere in Sachen Rechtsextremisten. Eine Jüdin hat Probleme mit diesem Heinrich Schröder.«

»Eine Jüdin? Alle Juden. Und alle Türken. Und alle Ausländer. Und alle Deutschen, die nur halbwegs bei Verstand sind! Jens, Heinrich Schröder lebt mit seiner Gefolgschaft nicht ohne Grund einsam und abgeschieden mitten im Wald. Alle haben Probleme mit ihm.«

»Und du meinst, wir können ihn nicht besuchen?«

Manfred lacht.

»Du vielleicht, ich auf keinen Fall. Genau diese Gruppe habe ich in Verdacht, den Anschlag auf mich verübt zu haben. Wenn ich dort auftauche, wäre das Mindeste ein sofortiger Rauswurf oder sie hetzen ihre Hunde auf mich. Wenn du dort wegen einer Jüdin recherchierst, ist das, als wenn du in einem Bienenschwarm herumstocherst. Da fliegst auch du sofort raus. Als Journalist lassen sie dich ohnehin gar nicht erst auf das Gelände.«

Jetzt bin ich es, der einen Moment still ist. Sollte ich in eine Sackgasse geraten sein?

»Manfred, das hört sich schwierig an. Ich muss über diesen Schröder, seine Familie und den Eichenhof wenn möglich alles herauskriegen. Wenn ich dort schon nicht hinkomme, ist es dann wenigstens möglich, dich zu besuchen und du erzählst mir, was du weißt?«

Manfred lacht.

»Okay, das kann ich gerne machen. Du klingst eilig, also komm gleich heute Nachmittag. Bis fünf habe ich Konfirmandenunterricht. Ich sitze gerade an den Vorbereitungen. Nach dem Unterricht hätte ich maximal zwei Stunden Zeit.«

Wir verabreden uns.

Vermutlich infiziert von der öffentlichen Meinung war ich lange Zeit der Meinung, dass Pastoren nur sonntags arbeiten. Inzwischen bin ich besser informiert. Klar, auch Kirchenleute arbeiten mehr oder weniger engagiert, viele von ihnen kommen aber locker auf fünfzig oder gar sechzig Stunden die Woche. Bei Manfred sind es vermutlich noch mehr. Ich freue mich deshalb, dass ich ihn schon heute besuchen kann.

»Ich arbeite im Leben und ich lebe bei der Arbeit!« hat er in einem der Interviews einmal gesagt. »Ich habe nie verstanden, dass ich auf meine ›work-life-balance‹ achten soll. ›Work‹ und ›life‹ sind doch kein Gegenüber! Ich lebe schließlich auch, wenn ich arbeite!« Auf dieses Zitat hin bekam ich damals einige Zuschriften von Lesern, die meinten es sei schädlich für Arbeitnehmer und Gewerkschaften, wenn wir so etwas abdrucken. Leute, die keine Ahnung vom wahren Arbeitsleben hätten, sollte unsere Zeitung nicht unterstützen.

*

Nach meinem Telefonat mit Manfred geht mir der Artikel um das Tagungshaus wesentlich schneller von der Hand. Meine Gliederung spreche ich zur Sicherheit noch einmal mit dem Ressortchef der Online-Ausgabe ab.

Meinen Chef Florian mit Zwischenergebnissen zu konfrontieren, wäre Zeitverschwendung. Er will die Auflage steigernde Artikel sehen, mehr nicht. Außerdem ist er häufig unterwegs. Termine mit Büffet und Catering liebt er besonders, allemal wenn dort VIPs verkehren, die sich mit ihm fotografieren lassen. Um nicht fies und illoyal zu wirken muss ich ergänzen, dass Florian Heitmann vielleicht nicht so viel wie ein engagierter Pastor, aber doch relativ regelmäßig und effektiv arbeitet. Unser Verlagshaus hat es vor allem ihm zu verdanken, dass wir mit den Zeitungen mehrerer Landkreise und der Online-Redaktion schwarze Zahlen schreiben und unsere Gehälter pünktlich überwiesen werden. Ich vermute, dass viele der wichtigen Deals für unser Verlagshaus gerade an jenen Büffets plus abendlicher Cocktailbar verabredet werden – in Ergänzung mit einem Dimple-Drink bei Vertragsabschluss im Büro des Chefs. Als wolle er unbedingt dem Klischee eines coolen Chefreporters entsprechen, hat Florian den Whisky in seinem Schrank versteckt.

*

Beim Dönermann gönne ich mir gegen zwölf eine Dönertasche, radle dann zu meiner Wohnung und mache eine kleine Mittagspause. Zeitung lesen, für zehn Minuten einnicken, dann sofort weitermachen – so mag ich es und spüre neue Kraft. Noch ein schneller Espresso aus der Maschine und ich starte meinen Golf IV für die Fahrt nach Unterlüß.

Mein Auto ist zwar ehr eine graue Maus, aber zuverlässig und pflegeleicht. Gerade wenn man nicht auffallen will, sollte man keinen teuren, edlen, roten oder weißen Schlitten fahren. Grau passt immer.

Als ich die B4 verlasse, stecke ich bereits seit mehreren Kilometern mitten in einem riesigen Waldgebiet. Jetzt aber, abseits der Durchgangsstraßen, umschließt mich die grüne Lunge unseres Bundeslandes von allen Seiten. In frischem Grün präsentiert sich mir der Wald heute allerdings nicht. In dieser Region hat es Anfang der Siebziger Jahre einen verheerenden Brand gegeben. Dörfer und Höfe mussten damals evakuiert werden und die Löscharbeiten hatten Wochen gedauert. Inzwischen ist der anschließend aufgeforstete Mischwald gewachsen. Trotzdem werden die meisten Flächen weiterhin mit Nadelwald bewirtschaftet. Vermutlich bestimmt auch im deutschen Wald der Profit den Takt und die Musik schreiben die Konzerne.

Egal ob Laub- oder Nadelbäume, der Wald zeigt sich heute zu beiden Seite der Straße dunkel, dicht und irgendwie feindlich. Die kahlen Stämme und Äste der Buchen, Birken und Eichen wirken genauso abweisend wie die schwarzen Kiefern, die wie eine Armee schlanker Krieger in Reih und Glied aufgestellt wurden. Anders als gestern und vorgestern ist es heute trocken. Die Straße lässt sich gut befahren und die Sicht ist gut. Trotzdem beschleicht mich in diesen schier endlosen dunklen Wäldern ein ungutes Gefühl. Nein, vor dem Wolf graut es mich nicht. Der hat sich zwar seit Jahren in dieser Region verbreitet, wird sich aber vermutlich hüten, auf Menschen loszugehen. Es ist vielmehr ein unbestimmbares inneres Warnsignal, was sich da meldet. »Dieser Wald ist nicht dein Lebensraum. Hier gelten andere Regeln. Wer hier bestehen will, muss stark sein. Hier gehörst du nicht hin!« So oder ähnlich klingt das Echo dieses Waldes in mir, selbst im Vorbeifahren.

*

Im Wohnzimmer meines Freundes sind solche Gedanken und Gefühle bereits nach wenigen Sekunden verflogen. Manfred und ich sitzen bei einer Tasse Kaffee neben seinem Kaminofen. Der runde Keramikofen heizt hervorragend. Er verfeuert nur vier bis fünf Stücke Holz am Tag, berichtet mein Gastgeber stolz. Ein moderner Glastisch steht auf einem weinroten Teppich. Die skandinavischen Sessel, helle Vitrinen und ein Glasschrank passen hervorragend zusammen. Schnell wird klar, dass dieser Raum von einem Schwedenliebhaber bewohnt wird, allemal wenn man die kleine schwedische Fahne am Bücherregal entdeckt hat. Gelbes Kreuz auf blauem Grund, schöne Farben, finde ich.

Manfred trägt dunkle Jeans, ein kariertes Hemd und darüber eine dunkelblaue Strickjacke. Er wirkt wie immer ruhig, abgeklärt und freundlich. Auf Männer mittleren Alters mit Bart, schütterem Haar und Birkenstocksandalen mag dies häufiger zutreffen.

»Du willst also alles über Heinrich Schlüter, die Erneuerte Heimat und den Eichenhof wissen?«

Manfred stellt es mehr fest als dass er fragt. Er hat sich eine Pfeife gestopft und zündet sie jetzt mit einem langen Streichholz an. Der Tabak verbreitet sein süßes Aroma. Plumcake von McBarren, registriere ich. Auch ich habe früher mal Pfeife geraucht.

»Jens, du sagst mir noch einmal, warum du dorthin willst. Ich erzähle dir von den völkischen Siedlern und dann überlegen wir weiter. Okay?«

Mir soll es recht sein. Während ich ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit von Miriam und Jeschu erzähle, bearbeitet er seine Pfeife. Endlich qualmt es zuverlässig und er muss nicht mehr ständig ziehen und Dampf machen.

»Um es gleich vorweg zu sagen. Heinrich Schlüter und eine Jüdin als Schwiegertochter – das geht absolut und gar nicht. Wenn dieses Kind wirklich von Schlüters Sohn Peter ist, dann hat weder der etwas zu lachen noch die Mutter seines Enkelkindes noch dass Baby selbst! Im Gegenteil. Das Schlimmste zu befürchten wäre vielleicht noch zu harmlos.«

Ich bin nun ganz Ohr und bitte Manfred mehr von Schlüter und seiner Familie zu erzählen.

»Bevor ich dir von Schlüter erzähle, müssen wir klären, ob dir ›die Siedler‹ ein Begriff sind.«

»Abgesehen vom Gesellschaftsspiel nur ansatzweise. Wir hatten vor etwa einem Vierteljahr eine Leserbriefreihe dazu. Da ging es um rechtsextreme Siedler, die sich auch in unserem Landkreis niedergelassen haben. Unser Kolumnist hatte geschrieben, dass er freundliche Nachbarn habe, auch wenn die als Siedler wohl ideologisch reichlich rechts stehen.«

»Und das gab dann deutlich Widerspruch? Hoffentlich! Genau so aber läuft es. Die völkischen Siedler treten häufig harmlos auf, sind nette Nachbarn, sauber, ordentlich und freundlich zu den Leuten im Dorf. Politisch allerdings verstehen sie keinen Spaß. Worum noch mal geht es bei dem Gesellschaftsspiel?«

»Um das Gewinnen und Besiedeln von Land. Wer am Ende das Meiste oder sogar alles hat, hat gewonnen.«

»Genau darum geht es bei diesen Siedlern auch. Viele haben sich zu Gemeinschaften zusammengeschlossen oder bilden Netzwerke. Sie betreiben biologisch ökologische Landwirtschaft, üben ein Handwerk aus oder haben kleinere Läden. Sie sind Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und im Fußballverein.«

»Aber das klingt doch gut!«

»Genau das ist ihre Strategie. Es klingt gut. Was sie dann jedoch über den Menschen sagen und wie sie miteinander und mit anderen umgehen, das klingt nicht mehr so gut. Von der arischen Rassenlehre hast du vermutlich gehört?«

»Klar, Hitlers geistiger Hintergrund. Der deutsche Herrenmensch ist allen anderen überlegen. Ihn gilt es rein zu halten, arische Kinder zu zeugen und die Rasse zu erhalten.«

»Genau. Auf dem Hintergrund der schon zum Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen völkischen Bewegung sind die Siedler so etwas wie eine Bewegung zur Infiltration Deutschlands mit und durch die wahren Deutschen arischer Abstammung. Blut und Boden, Rasse und Land gehören zusammen. Deutschland den Deutschen – das ist ja auch heute in gewissen Kreisen wieder äußerst aktuell.«

Manfred kennt sich aus. Sein Engagement gegen Rechts begann, als Konfirmanden seiner Gemeinde in den Bann der rechten Szene gezogen wurden. Das hat er nicht ertragen und um die Jungs gekämpft. Was für ihn wie für die meisten Gemeindeglieder vorher unsichtbar war, kam immer mehr ans Licht. In vielen Dörfern der Südheide hatten sich Nazis oder Sympathisanten niedergelassen und ihre kleinen braunen Nester gebaut. Sie feiern ihre völkische Sonnenwende, Hitlers Geburtstag, das Maifest oder am Hermann Löns Stein ihre Gelöbnisse. Sie veranstalten Camps mit vormilitärischem Training und Rockkonzerte mit rechten Bands und Liedermachern.

Manfred hat mit anderen zusammen eine Initiative gegen solche Umtriebe gegründet. »Die Heide blüht Lila, nicht braun!« ist einer ihrer bekanntesten Slogans.

»Und nun zu Schlüter.«

Manfred steckt seine Pfeife nochmals an, so als solle auch der letzte braune Rest im blauen Dunst verdampfen.

»Schlüter ist einer der übelsten seiner Sorte. Vielleicht hast du ja mal von der ›Colonia Dignidad‹ in Chile gehört. Diese Sekte wurde von einem ehemaligen evangelischen Jugendpfleger aus Deutschland gegründet. Paul Schäfer, schon mal gehört? Dieser Deutsche hat dort wie ein Gottkönig geherrscht.«

Natürlich habe ich von diesem kriminellen Fanatiker gehört. Seine Sekte hat hermetisch abgeschlossen gelebt, Männer wie Frauen wurden unterdrückt, Kinder sexuell missbraucht und nebenbei noch das diktatorische Regime mit Waffen versorgt. Wenn Heinrich Schlüter auch nur ein bisschen von der Brutalität dieses Mannes übernommen hat, ist er schlimmer als alle, die ich je persönlich gekannt habe.

»Du liegst richtig. Schlüter hat sich Schäfer offenbar zum Vorbild genommen. Nur dass er nicht mit religiösem Druck arbeitet, sondern mit völkischem – was aufs Gleiche herauskommt. Sein System ist identisch: Abgeschottetes Grundstück, scharfe Hunde, eingeschworene und auf arische Abstammung überprüfte Gemeinschaft, absoluter Gehorsam, Strafen bei Regelverstoß, unbedingte Einhaltung der Kleiderordnung und Rollenvorgaben für Mann und Frau ... na ja, den Rest kannst du dir denken.«

Ja, das kann ich jetzt. Nach den Strafen wage ich kaum zu fragen, fürchte ich doch das Schlimmste für den Sohn dieses Despoten. Manfred scheint meine Gedanken zu lesen.

»Strafen? Ich weiß da so manches, weil ein Mitglied der Gemeinschaft ausgestiegen ist. Ein junger Mann ist dort sozusagen geflohen. Er wurde danach jahrelang attackiert und musste allerhand ertragen: Drohbriefe, Mobbing in Netzwerken, zerstörte Motorradreifen, eingeworfene Scheiben und zweimal auch Schläge. Im Eichengrund selbst sei es allerdings mindestens genauso schlimm, erzählte er mir. Vor allen anderen Mitgliedern der Gemeinschaft wurde man der Nestbeschmutzung und des Verrates beschuldigt, wurde geschlagen und musste demütig Reue zeigen. Sein Zimmer durfte man danach nicht verlassen, bekam nichts zu Essen ...«.

»Und die Polizei?«

»Welche Polizei? Nach Außen führt Schlüter einen alternativen Biohof, liefert Hühner, Wolle und Honig, bestellt Felder und Wald und hat seinen Laden im Griff. Selbst jener Aussteiger hat keine Anzeige erstattet, vermutlich aus Angst um sein Leben.«

»Der Vater Heinrich ist also dort der Führer. Was ist mit dem Sohn Peter Schlüter?«

»Peter ist jetzt Mitte zwanzig. Sein Vater wollte einmal, dass sein Sohn den Eichengrund übernimmt. Inzwischen hat er es angeblich aufgegeben, seinen Sprössling auf Kurs zu bringen. An Stelle Peters ist jetzt ein gewisser Adolf Hess der ungekrönte Thronfolger. Er ist zwar erst vor etwa zwei Jahren in die Kolonie gekommen, hat aber das volle Vertrauen Schlüters. Als der jetzt so lange krank war, hatte Hess bereits alles unter Kontrolle.«

Hess? Die Namen dieser arischen Übermenschen passen jedenfalls zum Programm der »Erneuerten Heimat«.

»Was für eine Krankheit hatte Heinrich Schlüter?«

»Einen Herzinfarkt. Er hat seit Anfang dieses Jahres bis Ende September damit zu tun gehabt. Klinik, Reha, das ganze Programm.«

»Manfred, alle Achtung. Du hast echtes Insiderwissen.«

Der politisch so agile Pastor lacht.

»Ja klar. Die ›Erneuerte Heimat‹ kann sich eben letztlich nicht völlig abriegeln. Sie brauchen Kunden, haben Lieferanten, kaufen in Läden hier und in Hermannsburg, müssen gelegentlich zum Arzt ... und da höre ich eben, was alle so weitererzählen. Außerdem arbeiten wir im Netzwerk gegen Rechts. Da laufen viele Infos zusammen! Aber ich bin sicher, das ist nur die Spitze des Eisberges.«

Ich frage Manfred, ob es nicht doch einen Weg gibt, diese Kolonie zu besuchen. Kann ich nicht mit einem Lieferanten fahren? Oder irgendwie als Besucher dorthin gelangen?

Mein Freund hat sich bereits eine neue Pfeife gestopft. Nun nimmt er ein Streichholz. Manfred kann vermutlich beim Stopfen, Anzünden und Rauchen seiner Pfeife am besten denken. Ihm scheint nun tatsächlich etwas einzufallen. Er kratzt sich am Kinn.

»Vielleicht gibt es doch eine Chance.«

Jetzt bin ich gespannt.

»Am dritten Adventwochenende geben sie im Eichengrund ein Rockkonzert.«

»Und da könnte ich hin?«

»Vielleicht. Wir könnten versuchen, dich dort einzuschleusen. Das Konzert ist nicht öffentlich, wie wir es verstehen. Aber es ist für völkische Siedler und Sympathisanten in ganz Norddeutschland. Da kennen sich zwar viele, aber nicht alle untereinander. Mit solchen angeblich modernen Veranstaltungen soll Unterschiedliches erreicht werden. Die Siedler wollen zeigen, dass ›Erneuerte Heimat‹ eine ganz normale Jugendarbeit macht. Sie wollen ihren jüngeren Mitgliedern gelegentlich etwas bieten, damit die bei der Stange bleiben. Und natürlich sind solche Konzerte auch eine gute Möglichkeit, ihre Hassbotschaften sowie aktuelle Verschwörungstheorien zu verbreiten. Aber vor allem: Die Siedler wollen angeworbene junge Leute Stück für Stück integrieren und an sich binden.«

»Aber wenn ich da hingehe? Falle ich da nicht auf? Ich bin Mitte Fünfzig!«

Manfred schaut mich grinsend an. »Stimmt, du fällst auf. Du siehst auch einfach nicht völkisch genug aus!«

Mein Gesichtsausdruck amüsiert ihn jedenfalls. Ich ahne Schlimmes.

»Aber das kriegen wir hin. Einen flotten Faconschnitt, etwas Gel, andere Klamotten ...«.

Oh je.

»Was wichtiger ist: Du brauchst eine völkische Identität.«

»Und wie soll das gehen? Einen Ariernachweis wird mir der Landkreis ja wohl kaum ausstellen.«

Manfred lacht. »Nicht nötig. Ich stelle dir einen deutschen Sohn zur Seite. Du begleitest ihn als besorgter Vater. Du bist AfD-Mitglied und warst mal in der NPD. Das müsste als Identität reichen.«

Welch ein verrückter Plan!

*

Als ich zurückfahre ist es zwar erst halb acht, aber stockdunkel. Den Wald rechts und links sehe ich nicht mehr. Ob schwarz oder grün spielt in der Dunkelheit keine Rolle. Wenn ich etwas nicht sehe, macht es mir auch keine Angst.

Irgendwo dort hinten liegt der Eichenhof. Wie mag es dort aussehen? Was mag dort gerade geschehen? Ich habe fast keine Vorstellungen davon.

Ich erinnere mich an gestern Abend und nehme meinen Fuß vom Gas. Wenn schon im Stadtwald der Kreisstadt Wölfe auftauchen, wie viel wahrscheinlicher dann hier in der Wildnis? Und wenn es keine Wölfe sind, dann Rehe, Wildschweine, Dachse, Füchse, Hasen oder schwarze Katzen – egal, ich gönne allen, dass sie weiterleben! Mir selbst am allermeisten.

Miriams Baby

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