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5 Den Kinderschuhen entwachsen

Als ich in die Pubertät kam, war dies bei mir mit keiner grossen Veränderung meines Wesens, meines Charakters, meiner Mentalität verbunden. Ich behielt meinen Modus als anpassungsfähiger und fleissiger junger Mann bei, war weiterhin bestrebt meine Eltern innerhalb des Familienverbandes und die Firma des Vaters nach Kräften zu unterstützen. Mein Verhalten war recht unterschiedlich zu dem meines Bruders Werner. Die Pubertät hatte Werner in dramatischer Weise verändert, was unsere Eltern nicht nachvollziehen konnten und erst recht nicht goutieren wollten. Werner besuchte nun nur noch selten den Frisör, wodurch seine Haare länger und länger wurden. Der Vater gab unserem Familien-Coiffeur Carl Order, dem Werner einen Kurzschnitt zu verpassen. Carls (doch sehr couragierte) Antwort an den Vater war: «Bei mir befielt jener, der mir seinen Kopf hinhält und kein anderer!» Mein Vater widersprach: «Aber ich bin es, der bezahlt!» Der Figaro liess sich nicht umstimmen, stand also auf der Seite des Jungen, obwohl er mit ihm aufgrund der gegebenen Umstände weniger Geschäfte machte als mit unserem Vater. Was unser Familienoberhaupt anbelangte, schien es uns, als würde er den Coiffeur umso eher aufsuchen, je weniger Haare auf seinem Kopf sprossen. Werner trug jetzt manchmal einen Schnauz und manchmal nicht. James Dean gefiel ihm gut, denn dieser war ein Rebell wie er. Deshalb war er sein Vorbild. Mein Bruder gab sich aufmüpfig gegenüber den Eltern und auch gegenüber den Lehrern, insbesondere als er nach der Sekundarschule die Mittelschule besuchte. Seine Lebenseinstellung und insbesondere sein vorlautes Maul entfachten in der Familie und in der Schule Spannungen. Werner war ein Halbstarker mit Lederjacke, wie man solche Jungs damals nannte. Er war ein sehr typisches Exemplar dieses Genres. Vor allem mit dem Vater hatte er nun öfters das Heu nicht mehr auf derselben Bühne und es kam zu Hahnenkämpfen. Die bislang mehrheitlich genossene einträchtige Familienharmonie wurde mehr und mehr auf die Probe gestellt. Diese geriet schliesslich in eine ungemütliche Schieflage, was insbesondere unserer Mutter überhaupt nicht behagte. Dem Vater ging es vor allem darum seinen Sohn, diesen widerspenstigen Kerl, auf jene Linie zu trimmen, von der er glaubte, dass sie richtig sei. Aber Werner war nicht zu bändigen. Werner behielt seine Vorliebe für Provokationen bei und diese gingen auch schon mal über die berühmte Hutschnur. Ich persönlich empfand die Art und Weise, wie der Vater mit seinem zweiten Stammhalter umging, oft als weit übertrieben, kleinlich, unangemessen, ja zuweilen ziemlich ungerecht. Obwohl das Verhalten meines Bruders nicht unbedingt meinem Ideal entsprach, war ich dennoch an seiner Seite. Denn im Grunde war Werner ein patenter, lustiger Kerl mit gutem Wesen und vielen Talenten. Gerne hätte ich mir von unserem Vater mehr Toleranz, ein grosszügigeres Verhalten gewünscht, insbesondere und nicht zuletzt dem Frieden zulieb.

Zu unseren zwei jüngeren Geschwistern bestand in jener Zeit ein eher distanzierter Kontakt, weil die doch ziemlich viel jünger waren - zwischen mir und dem jüngeren Bruder liegen über 12 Jahre. Wir grossen Buben konnten mit den zwei jüngeren Geschwistern in dieser Lebensphase eher wenig anfangen. Die grossen zwei und die kleinen zwei befanden sich je in einer eigenen Kategorie. Nachstehendes Beispiel soll dokumentieren, weshalb die Kommunikation zwischen dem grossen Duo und dem kleinen Duo nicht auf Augenhöhe funktionieren konnte: Als wir – Werner und ich – uns zu einer grösseren Fahrradtour durch die Schweiz aufmachten, sagte der Vater – auf Drängen der Mutter, dass wir jeden zweiten Tag nachhause anläuten müssten, um mitzuteilen, wie es uns gehe und wo wir uns befänden. Man würde uns dann am Ende der Reise die Telefongebühren vergüten (was natürlich letztlich vergessen wurde). Nun wollte es der Zufall, dass stets zum Moment unseres Telefonanrufes, die Eltern zufällig nicht zuhause waren, aber unsere Schwester schon. Wir telefonierten aus Biasca im Tessin und Muggi (so ihr Kosenamen) - wahrscheinlich eine Erstklässlerin - schrieb folgende Notiz für die Eltern auf einen Zettel: Buben sind gut in Alaska angekommen und lassen grüssen. Die Zeile verursachte etwas Unruhe bei den Eltern. Natürlich nahmen Vater und Mutter nicht an, dass wir es bis nach Alaska geschafft hatten. Andererseits hatten sie aufgrund dieser Notiz keine Ahnung, wo wir uns aufhielten; aber wie es schien war es ziemlich weit entfernt von zuhause. Doch die Hauptsache der Mitteilung war wohl, dass wir noch am Leben waren und es uns offensichtlich gut ging. Und das genügte soweit.

In der Sekundarschule war Werner der talentiertere Schüler als ich. Er war ein Spitzenschüler (in jedem Fach) ohne je zuhause zu lernen und ohne je die Pflicht der Hausaufgaben zu erfüllen. Und in den Schulstunden war er wohl ziemlich oft nicht aufmerksam, was er sich allerdings leisten konnte. Denn er war offensichtlich meistens unterfordert. Dennoch war er in den meisten Fällen in der Lage den Lehrern die Hausaufgaben vorzulegen. Denn die Mädchen in der Klasse rissen sich darum, für ihn die Hausaufgaben zu schreiben. Dabei war Werner so arrogant zu meinen, dass dies normal sei. Oder zumindest gab er sich so. Werners nicht sehr seriöse Arbeitshaltung in der Schule zeitigte keine negativen Folgen für ihn: Die Zeugnisse, die er nachhause brachte, waren gut, vielleicht mal abgesehen von einer nicht so guten «Betragen»-Note. Diesbezüglich hatte sich gegenüber der Primarschule nichts geändert. Ich andererseits hatte einen Pferdefuss, nämlich das Fach Französisch. Diese Fremdsprache lag mir nicht. In den Mathematischen Fächern war ich ein durchschnittlicher Mitläufer, während ich in anderen Fächern wie Deutsch, Geschichte, Geografie ausgesprochen glänzte, von Sport und Religion gar nicht zu reden. Alle diese Fächer interessierten mich sehr, ja ich liebte sie.

Wenn ich Ungerechtigkeiten erkannte, reagierte ich während der Sekundarschulzeit sensibel. Es gab Ereignisse, die meiner Befindlichkeit gar nicht zuträglich waren. Zum einen waren gleich mehrere Lehrer – insbesondere auch in der abgeklärten Rückbetrachtung von heute - unakzeptabel, weil ungerecht und pädagogisch unfähig. Und auch Mitschüler verhielten sich teilweise - für meine Begriffe - sehr unkorrekt. Ihnen hatte es offensichtlich an einer guten Kinderstube gefehlt. Schulkameraden, die schwach, etwas auffällig oder einfach anders waren, oder die sich schlecht wehren konnten, wurden von gewissen Mitschülern unablässig gemoppt. Es war vielleicht nicht mal reine Bösartigkeit, welche jene Jungs leitete, sondern eher ein gewisses gegenseitiges Imponiergehabe, wie es grössere Buben in den Flegeljahren an den Tag legen können. Ich war einer, der auch als nun grösserer Jugendlicher jeglicher körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg ging und Raufereien hasste. Dennoch genoss ich anscheinend genug Respekt, dass ich nie ins Visier der Gruppe der Flegel geriet. Wahrscheinlich, weil ich einerseits als überdurchschnittlich guter Sportler einen gewissen Bonus genoss und wohl auch, weil ich andererseits versuchte an die Vernunft und Ritterlichkeit der Mitschüler zu appellieren. Einer, der permanent im Fokus dieser Grosstuer stand, war Robert, der Sohn eines Bäckermeisters unseres Dorfes. Die Situation eskalierte einmal so weit, dass einige dieser Angeber in der Pause im Schulhof Pflastersteine ausgruben und diese nach Robert schmissen. Sie riefen: «Achtung, Röbi, fang!» Natürlich war es für den bedauernswerten Robert unmöglich die Steine zu fangen, sondern er konnte nur ausweichen. Weil er dies etwas unbeholfen machte, lachten sie und spotteten und hörten nicht auf, bis ein Stein prompt Roberts Kopf traf und der arme Kerl einen Schädelbruch davontrug. Ich regte mich fürchterlich auf, insbesondere auch deshalb, weil die Schulleitung kaum ein grosses Aufheben machte über den Vorfall und die Steinwerfer nicht mal bestraft wurden. Überhaupt war ich der Auffassung, dass es Pflicht der Lehrer gewesen wäre gegen diese Störenfriede ohne Wenn und Aber dezidiert einzuschreiten.

Wenn ich unsere Lehrer in der Sekundarschule hätte benoten dürfen, wären sie sehr schlecht weggekommen! Diese waren mehrheitlich miserable Pädagogen und ohnehin keine Psychologen. Ihr Umgangston war oft – selbst für Rheintaler Begriffe - grob und die Umgangsform demotivierend, statt aufbauend. Die grossen Klassen mit den pubertierenden Jugendlichen machten ihnen offensichtlich übermässig zu schaffen. Auf jeden Fall waren diese Lehrer keine Freunde der Kinder, wie dies hätte sein sollte. Sie waren nie in der Lage irgendwelche positiven Signale auszusenden, um das Selbstvertrauen der Jugendlichen – in diesem Alter ohnehin oft fragil - zu stärken. Als wir in der ersten Klasse der Sekundarschule starteten, zählten wir 33 Schüler und Schülerinnen - eine viel zu grosse Klasse! Nach einem Jahr wurden 11 rausgeschmissen – dies kündigte man uns schon am Anfang des Schuljahres an. Danach ging es in der 2. Klasse mit 22 Schülern weite. Ausnahmslos alle 11 Rausgeschmissenen wurden wegen eines Ungenügens in Französisch auf die Verliererbahn gedrängt. So als wäre Sein oder Nichtsein von dieser Fremdsprache abhängig gewesen. Von den verbliebenen 22 Schülern war die Hälfte immer noch schlecht bis miserabel in Französisch, mich eingeschlossen. In einer solchen Situation hätte man sich schon fragen müssen, ob vielleicht das System, die Methodik mangelhaft sei. In der Tat stand wohl leider jenes System on y va, das zur Anwendung gelangte, ziemlich im Abseits. Der Hauptfokus wurde nämlich auf die Grammatik und die Rechtschreibung gelegt. Das Sprechen, die Kommunikation wurde weitgehend vernachlässigt. Weil die französische Grammatik mit der komplizierten Konjugation, insbesondere der unregelmässigen Verben, wirklich eine Herausforderung darstellt, waren wir alle – auch die guten Schüler - permanent überfordert und verunsichert. Wir kamen mit einem Wort überhaupt auf keinen grünen Zweig. Und das Unbegreifliche ist: Als meine Kinder – eine Generation später – Französisch lernten, verwendete man dieses problematische System noch immer in weitgehend unveränderter Form. Auch die Generation meiner Kinder hatte die identischen Schwierigkeiten wie wir. Auch bei ihnen wurde vor allem Wert auf ein korrektes Passé Composé gelegt und auch sie konnten nach Schulabschluss kaum einen spontanen Satz in Französisch sprechen. Man kann es nicht fassen!

Wie gut unser damaliger Französisch-Lehrer Q diese Sprache beherrschte, kann ich nicht beurteilen. Denn wir hörten ihn ja nie richtig sprechen, geschweige denn hörten wir ihn je in einem Gespräch zum Beispiel mit einem Menschen mit französischer Muttersprache reden. Aber abgesehen von seiner Kernkompetenz (die wir eben nicht beurteilen konnten), nahm ich ihn als Ignorant wahr. Das gravierendste Beispiel meiner Beanstandung: Bei jeder Prüfung erstellte der Mann eine Skala: 0 Fehler = Note 1. 2 Fehler = Note 2. 4 Fehler = Note 3, und so weiter. Aber seine Skala hörte nicht mit der schlechtesten Note 5 auf, sondern ging munter weiter. Wenn einer 20 Fehler hatte, bekam er Note 10. Einer schrieb mal gar die Note 20. Es ist leicht auszurechnen, was in einem solchen Fall passierte: Wenn man einmal einen solch hochgradigen «Ausreisser» eingefangen hatte, war die Zeugnis-Note – die aus dem Durchschnitt der Klausuren und der Skala 1 bis 5 gerechnet wurde - in jedem Fall jenseits von Gut und Böse. Da hätte man anschliessend noch so viele sehr gut oder gut abliefern können, es hätte nichts genützt. Ich versuchte den Lehrer in wiederholten Gesprächen darauf hinzuweisen, dass seine Benotung ein falsches System sei. Er lachte in jedem Fall voller Hohn und zwar mit einer erhabenen, wie auch gleichermassen abschätzigen Geste: «Du wirst mir ja nicht vorschreiben können, welches System ich bei der Benotung anwenden soll! Ich bin hier der Lehrer. Du bist nur der Schüler!» Und damit hatte sich jegliche Grundlage für eine faire Diskussion selbst erledigt.

Ein anderer Lehrer X, der Naturkunde und Biologie, Geografie und Mathematik unterrichtete, war ebenso inkompetent, wenn auch auf eine andere Art und Weise. Er stand wenige Jahre vor der Pensionierung. Der Mann war unverheiratet und lebte mit seiner greisen Mutter zusammen. Er war ungepflegt und unordentlich. Sein Auto war sowohl innen wie aussen der reinste Saustall – um es mal salopp zu formulieren. Er war schwul veranlagt (was die Spatzen von den Dächern pfiffen) und das war in jener Zeit zumindest auf dem Land ein Makel. Allerdings sah man im Dorf dennoch grosszügig über seine sexuelle Orientierung hinweg. Und das war ja nicht mehr als angebracht, denn er liess sich ja nie etwas Illegales zu Schulden kommen. Immerhin war nicht zu übersehen, dass dieser Lehrer (gewisse) Buben auffallend bevorzugte, während er die Mädchen in der Klasse gesamthaft fies, ja eigentlich himmeltraurig schlecht behandelte. Mich persönlich betraf sein eigenartiges Verhalten nicht. Ich war für ihn sozusagen luftleerer Raum und das passte mir gar nicht so schlecht. Ich verabscheute den Kerl, weil er so unmenschlich unfair war und natürlich spürte er dies auch. Die Mädchen in der Klasse hassten ihn abgrundtief und sie zeigten es ihm auch unverhohlen, was er auf eine laszive Art in einer demonstrativ aufgesetzten Dulderrolle genoss. Seine Sprüche sprudelten oft in abartiger Weise aus seinem Mund. In einer Welt, in der me too völlig unbekannt war, sparte man dieses Thema grosszügig aus. Hinten im Klassenzimmer hatte Lehrer X hell beleuchtete Aquarien, in denen unzählige bunte Fische schwammen - ein schönes Schauspiel. Alles hatte jedoch seine Tücken. Einmal in jeder Stunde schritt er zu seinen Aquarien, grub kleine Würmer aus einem geheimnisvollen Erdpott, zerhackte diese mit seinem Taschenmesser auf einem Holzbrettchen als wären die Tierchen Schnittlauch und streifte die noch immer zappelnde Masse mit den Fingern in eines der Aquarien. Dann klappte er in einer Art Ritual das Taschenmesser langsam zu und lief anschliessend eiligen Schrittes zurück zu seinem Pult vorne im Zimmer. Dabei putzte er im Verbeigehen bei einem der Mädchen – immer kam ein anderes Kind an die Reihe - seine Wurm-Finger in deren Haaren ab. Je mehr die Mädchen kreischten, umso mehr Freude empfand er. Und auch die meisten der Buben hatten ihren Spass dabei und lachten mit. Ich lachte nie, im Gegenteil! Ich fand sein Verhalten krank. Sein Leibspruch war (leider viel zu oft gehört): «Keine Bange, Würmer sind sehr reinliche Tiere!»

In der dritten Klasse der Sekundarschule erhielten alle Klassen neue Lehrer zugeteilt, auch unsere. Einer der Lehrer war Professor H., ein katholischer Geistlicher. Ausser Religionsunterricht erteilte er erstaunlicherweise auch weltliche Fächer wie Deutsch, Geschichte und Französisch. In den Fünfzigerjahren war noch kein Priestermangel zu spüren, sodass man sich solcher Art Luxus anscheinend leisten konnte. Der Professor sprach schnell und leise. Er hatte die Eigenart hinter fast jedem Satz ein «nicht wahr» anzufügen, was nervte. In der Klasse meines Bruders Werner wirkte Professor H. als Klassenlehrer, war somit ein Hauptlehrer mit vielen Lektionen. Unter diesen Umständen war sein stereotypes «nicht wahr» fast nicht auszuhalten. Ein Kollege von Werner mit Namen Schöner wollte es einmal wissen und machte bei jedem «nicht wahr» einen Strich auf einen Zettel, so ähnlich wie beim Jassen. Schöner war ein humorvolles und intelligentes Bürschchen, aber – entgegen nomen est omen – mit eher wenig attraktivem Äusseren. Er war dicklich und leicht gebeugt, seine Augenlider drohten unablässig nach unten zu fallen, sodass er seinen Kopf stets in einer eigenartigen Position nach oben recken musste, um aus den untersten Schlitzen gucken zu können. Beim vierundfünfzigsten Strich fragte der Professor: «Was machst Du da, Schöner? Die Stunde ist zum Lernen da, nicht für Allotria, nicht wahr!» Wieder machte Schöner einen Strich, den fünfundfünfzigsten in dieser Stunde. Keine Antwort des Schülers. Der Professor: «Aber ich möchte gerne wissen, was Du machst, Schöner, nicht wahr!» Wieder ein Strich, aber erneut keine Antwort. Der Professor wurde wütend: «Es ist mein Recht zu wissen, was Du tust, Schöner, nicht wahr!» Strich. In diesem Moment dämmerte es dem Lehrer und er verharrte eine Minute in Schockstarre, vielleicht ähnlich der Salzsäule in Lod am Toten Meer. Von diesem Augenblick an fiel das «nicht wahr» kein einziges Mal mehr. Eine sehr erstaunliche Konzentrationsleistung des Professors.

Unsere neu zuständige Lehrperson in Deutsch und Französisch war nun Y, ein dicker Mann von etwa fünfzig Jahren, der zwar während einer Lektion nie rauchte, dafür die restliche Zeit ohne Pause. Dabei benützte er stets ein sehr langes Filtermundstück, was seinem Rauchen eine gewisse Eleganz und Lässigkeit im Stil eines Dandys verlieh. Die negativen Folgen seines Rauchens waren monumentale Hustenanfälle, an denen er manchmal fast zu ersticken drohte. Y war gepflegt, hatte volle, leicht gewellte Haare. Er trug schöne, weit geschnittene Anzüge der damaligen Mode entsprechend, die wohl das Ziel hatten, seine Fettleibigkeit zu verbergen. Seine Krawatten waren auffallend attraktiv, vermutlich von ziemlich edler Qualität (was ich damals allerdings überhaupt nicht beurteilen konnte). Zuhause hatte Y eine junge Frau und mehrere kleine Kinder, wie die bösen Buben in der Klasse mit höhnischem Zwischenton berichteten – ein viel zu alter, viel zu dicker Vater, wurde befunden! Y war zu den jungen Mädchen in der Klasse ganz besonders lieb, aber auch zu uns Buben nicht unfreundlich. Unsere Klassenkameradinnen liebten allerdings die Zuneigung des Lehrers augenfällig überhaupt nicht. Die Mädchen sassen im Block vorne auf der linken Seite, die Buben im Block auf der rechten Seite. Die bösen Buben der Klasse besetzten in corpore die vordersten Reihen. Sie fielen durch laute Zwischenbemerkungen und gemeinsame Lachsalven auf. In seinen Deutsch- und Französisch-Lektionen rief der Lehrer jeweils einen Schüler oder eine Schülerin auf, einen Text aus dem Buch vorzulesen. Wenn Mädchen an der Reihe waren, erhob sich Y nicht selten von seinem Stuhl und stellte sich hinter das grosse Kind. Seine Hand griff dann von hinten über die Schulter des Mädchens nach unten in Richtung Pultplatte, sein Zeigfinger wies auf die Zeile, die zu lesen war. Dabei streifte die Hand des Lehrers offensichtlich zufällig die Brust des Mädchens. Natürlich ist mit fünfzehn nicht jede Mädchenbrust identisch weit entwickelt, weshalb die bösen Buben zwischen Herzlichen und Herzlosen unterschieden. Lehrer Y schien sich diesbezüglich bevorzugt mit Herzlichen zu befassen, was unter den gegebenen Umständen nachvollziehbar schien. In diesen Fällen reckten die bösen Buben die Hälse und ihre Frage war wiederkehrend: Hatte Y nun eine Beule vorne in der Hose bekommen oder nicht. Man konnte dies als reine Wahrheit betrachten oder aber als Bubenfantasie abtun, dem Alter der Jungs entsprechend. Ich persönlich kann gar nichts bezeugen, weil mein Platz viel zu weit hinten war. Da ich den bösen Buben in der Klasse grundsätzlich nicht traute und vieles, was aus ihren Mündern kam, nicht goutierte und ohnehin das meiste nicht glaubte, zuckte ich auch in diesem Fall mit der Achsel. Just in einer solchen Situation machte es PLOP und ein grosser Knopf von vier Zentimeter Durchmesser hüpfte zwischen den vordersten Bänken und dem Lehrerpult auf den Boden. Ein Schüler aus der ersten Reihe stürzte sich aus seiner Bank und hob den Knopf auf, streckte diesen in die Höhe, so als wäre er eine einzigartige Trophäe. Die bösen Buben lachten: „Solch gigantische Knöpfe hat er vorne rum am Hosenladen, damit alles gut zusammenhält!“ Aber natürlich stammte der Knopf nicht von der Hose des Lehrers, sondern von seinem Wintermantel, der am Kleiderhaken hing und dort zufällig abgefallen war.

Der Lehrer Doktor Z war möglicherweise ein Genie in Physik und Chemie, aber sicher nicht als Erzieher. Er sonnte sich in seinem offensichtlich überragenden Wissen und dieses verlieh ihm anscheinend das Recht, seine absolut ignoranten Schüler systematisch zur Schnecke zu machen. Die Lektionen von Z waren für jeden Schüler eine Tortur und echt, ich hätte mir manchmal lieber einen Zahn ohne Narkose ziehen lassen wollen, als die quälende Physik- oder Chemie-Stunde ableiden zu müssen. Dieser Lehrer plagte eigentlich jeden Schüler, die ganze Klasse, wobei er fortwährend ausrief, wie idiotisch die heutige Jugend sei, er müsse jedes Jahr einen noch dümmeren Jahrgang ertragen, der zu überhaupt nichts fähig sei. Wie habe er sich nur ein solches Leben verdient, in dem er sich mit einer solch gewaltigen Ansammlung von Trotteln und Idioten Tag für Tag herumschlagen müsse. Er fragte sich, fortwährend mit sich selbst gestikulierend, wohin diese Katastrophe wohl führen werde…? Halt eben zum Niedergang des Abendlandes, nichts anderes könne man erwarten! Immer wieder griff er Schüler physisch und in Worten an. Zu einem sagte er: „Der Sieber der wird Zimmermann, das sieht man seinem Grinde an!“ Und in der Tat machte der Sieber schliesslich eine Lehre als Zimmermann. Der arme Kerl war offensichtlich von Z so paralysiert, dass er es wohl beinahe als schicksalhaft betrachtete, den Zimmermanns-Beruf erlernen zu müssen.

Auch ich musste einmal einen Übergriff dieses Sadisten Doktor Z über mich ergehen lassen. Es war nach einer Pause und die Schüler waren wieder an ihren Plätzen in Erwartung einer Physiklektion. Aber es ging nicht los, weil Z fehlte. Das Physik-Zimmer war nach hinten ansteigend, sodass jeder bei Chemie- oder Physik-Versuchen eine gute Sicht nach vorne hatte. Der Klassenraum war in direkter Verbindung zum Lehrerzimmer, in dem die Lehrpersonen ihre Pausen verbrachten. Mein persönlicher Platz in diesem Zimmer war vorne links, was in diesem Fall höchst unvorteilhaft war. Unvermittelt stürmte Doktor Z in seinem wallenden weissen Kittel von hinten ins Klassenzimmer, wütend, schreiend, die Hände verwerfend, beschwerte er sich über uns, diese Saubande… OK, es war vielleicht etwas laut, aber da sassen ja keine Mönche und Klosterfrauen in den Exerzitien, sondern normale, lebhafte Schüler von 15 Jahren. Unvermittelt schlug der Lehrer mir von hinten seine Faust mit dem dominanten Siegelring an den Hinterkopf, sodass ich blutüberströmt vom Stuhl fiel. Ich war nicht der Lauteste der Klasse, sondern ich hatte nur das Pech, an der exponiertesten Stelle zu sitzen, exakt in der Reichweite seiner Faust. Er wollte mich bestimmt auch nicht persönlich strafen. Ich war zufällig als sein Blitzableiter auserkoren und musste sozusagen als Opferlamm der Schulklasse herhalten. Ich rappelte mich auf, versuchte mit meinem Taschentuch das Blut zurück zu halten, was nur mässig gelang. In kürzester Zeit war ich übervoll von Blut, das munter weiter sprudelte. Es war nicht der Schmerz, der mir zusetzte, sondern die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren war. Wortlos packte ich meine Sachen in die Tasche und schickte mich an, den Raum zu verlassen. In der Klasse herrschte Totenstille. Z stellte sich mir in den Weg und sagte: «Du bleibst hier, Du darfst das Schulzimmer nicht verlassen! – Wenn ich befehle, Du bleibst da, dann bleibst Du da! Ich bin Dein Lehrer!» Aber der Kerl konnte mir in dieser Situation befehlen was er wollte, ich machte einen Bogen um ihn und verliess wortlos das Klassenzimmer. Meine Eltern erschraken, als ich blutüberströmt nachhause kam und den Vorfall schilderte. Der Vater läutete sofort in die Schule an, während die Mutter meinen Kopfschwarten-Riss verarztete. Im Gespräch mit meinem Vater gab sich Doktor Z so, als wäre er sich überhaupt keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, er beklagte sich über diese unsere Klasse, die er „Sauklasse“ nannte, wegen ihres ungezogenen Verhaltens und zeigte sich sogar grosszügig und kulant: Wenn sich der Grabher (er nannte mich im Gespräch mit meinem Vater nicht mit dem Vornamen) entschuldigen würde, dürfte er auch wieder zurück in die Klasse kommen – trotz seines unakzeptablen, ja unverzeihlichen Ungehorsams. Wenn das nicht ausgesprochen grossherzig war!

Meine Entscheidung stand fest: Nie wieder wollte ich je an diese Schule zurückkehren – ohnehin nicht mehr zu diesem Lehrer. Mein Vater bearbeitete mich intensiv und liebevoll: «Es war ungerecht, was dieser Lehrer machte. Es war auch ungerecht, wie er sich nachher Dir gegenüber verhielt. Aber wir können es nicht mehr ändern. Bring dieses letzte Halbjahr, diese paar Monate noch hinter Dich. Nachher beginnt ein neuer Lebensabschnitt für Dich!» Ich liess mich von meinem Vater überreden und war am nächsten Tag wieder in der Schule. Ich entschied mich vor allem deshalb dafür und sprang über meinen eigenen Schatten, weil ich meiner Familie nicht Probleme bereiten wollte. Immerhin war Werner gleichzeitig mit mir auch ein Schüler dieser Sekundarschule zwei Jahrgänge unter mir. Und danach kamen noch zwei weitere meiner Geschwister nach. Ich wollte nicht, dass unsere Familie negativ auffiel, ich wollte meinen Brüdern und der Schwester keinen Bärendienst erweisen.

Am nächsten Tag verhielt sich Z so, als wäre nie etwas Besonderes vorgefallen. Natürlich änderte er auch in diesem meinem letzten Schulhalbjahr seinen Stil um kein Jota. Und es tut mir heute noch leid, dass ich mich einmal in der Folge hinreissen liess, als falscher Fünfziger zu agieren. Und das kam so: Da stand nämlich wieder eine dieser unsäglichen Lektionen in Physik an. In der Pause sagte ich beiläufig zu einem Kollegen aus der Parallel-Klasse, der eben seine Physik-Stunde hinter sich gebracht hatte: «Ihr könnt glücklich sein Euren heutigen Krieg mit Z abgehakt zu haben!» Seine Antwort: «Es ist ja immer das gleiche. Der Kerl frägt etwas, das niemand wissen kann und dann quält er die Klasse bis zum Schluss und teilt Idioten, blödes Pack, dümmste Klasse, die er je unterrichtete aus. - Ich erkläre Dir jetzt, worum es geht, nämlich um die kinetische Energie. Es ist die Bewegungs-Energie, die man so nennt. Z wird zu Beginn nach Begriffen fragen, welche mit Bewegung zu tun haben. Er will dabei aber nur ein einziges Wort hören, nämlich Kino. Beim Kino bewegen sich die Bilder, weshalb dieser Begriff abgeleitet wurde!» OK, verstanden! Die Lektion begann wie immer, er fragte nach Begriffen, die von der Bewegungs-Energie abgeleitet würden. Der Lehrer sagte, dass er ein Wort suche, einen Begriff, den wir gut kennen würden. Ich streckte meine Hand auf und sagte: «Es ist die kinetische Energie. Und den Begriff, den Sie hören wollen, ist das Kino, da geht es ja um bewegte Bilder!» Z war perplex. Die Kreide fiel ihm unvermittelt aus der Hand. «Eine perfekte Antwort!» lobte er mich. Mir ging es aber zu allerletzt darum, irgendwelche Anerkennung oder Lob einzuheimsen (was ich ja nicht verdiente). Mir ging es lediglich darum ihm den Wind aus den Segeln nehmen. Ich wollte mich und meine Klasse in dieser Lektion vor seinen endlosen, quälenden Schimpftiraden verschonen. Wäre Z nicht so in seinen eigenen Kreisen gefangen gewesen und wäre er in der Lage gewesen nur auf fünf zählen zu können, hätte er mir auf meinen Kopf sagen müssen: «Hallo, mein Freund, welcher Kollege aus der Parallel-Klasse hat Dir das geflüstert?» Aber um so weit zu denken, war sein gebildetes Hirn viel zu verbaut. Beeindruckend interessant war dann, wie lammfromm er sich in der Folge in dieser Stunde gebärdete, einer Lektion, bei der er sein Pulver offensichtlich gleich zu Beginn verschossen hatte.

Gegen Ende der 3. Klasse wurden wir gedrängt – als Zeichen des Dankes und der Solidarität – dem «Verein ehemaliger Sekundarschüler» beizutreten. Auch ich unterzeichnete, wenn auch widerwillig, denn ich spürte keinen Funken der Dankbarkeit in mir, auch nicht, dass ich irgendwelche Schuldigkeit oder Verpflichtung gegenüber der Schule hatte. Bei der Jahresversammlung des Vereins - kurze Wochen später - waren alle ehemaligen Lehrer anwesend. Die Lehrer schüttelten mir, wie auch allen anderen ehemaligen Schülern die Hand, als wären wir immer beste Freunde gewesen. Nur Doktor Z schnauzte mich von oben herab an, statt einer Begrüssung: «Du bist mir immer noch etwas schuldig. Du hast eine Landkarte, die Du leihweise hattest, nicht zurückgegeben. Als ehemaliger Klassenlehrer bin ich dafür verantwortlich, dass Du diese Karte noch zurückbringst. Und zwar unverzüglich»! Weil ich mir absolut sicher war, dass ich diese Landkarte am Ende des Schuljahres abgegeben hatte, wie alle anderen Leihprodukte auch, antwortete ich: «Herr Doktor. Erstens habe ich die Landkarte abgegeben. Wenn Sie ein schlecht funktionierendes Kontrollsystem haben, ist das nicht mein Problem. Zweitens befehlen Sie mir jetzt und heute nichts mehr, diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Und drittens: Dies ist meine erste und meine letzte Versammlung dieses Vereins. Ich brauche das nicht. Adieu!» Ich drehte mich auf dem Absatz um und verliess den Raum, noch bevor die Versammlung offiziell begonnen hatte.

Ich war unendlich erleichtert und befreit, dass ich diesem Schulhaus, auf dem in grossen Lettern zu lesen war Das taten unsere Väter den Rücken kehren konnte. Ich mochte es kaum erwarten, in die Firma des Vaters einzutreten, denn dort im Büro wartete eine Menge Arbeit auf mich. Ich hatte den ganzen Tag alle Hände voll zu tun, die telefonischen Bestellungen in Empfang zu nehmen, die Aufträge – auch die schriftlichen – abzuwickeln, Papiere zu erstellen, die Waren zu verpacken und zu spedieren. Während der Sommermonate, in der Hauptsaison, waren 50 Bestellungen und mehr an der Tagesordnung. Ich war auch verantwortlich für den Wareneinkauf. Ich hatte die Lieferantenrechnungen zu bezahlen, Löhne abzurechnen und Lohnzahlungen auszuführen, die Belege für die Buchhaltung vorzubereiten. Der Vater überliess mir diese Arbeit von heute auf morgen, ich ersetzte das bisherige Bürofräulein (wie man damals die entsprechende Fachperson nannte). Endlich konnte Hanny, die treu gediente Dame des Sekretariats in Pension gehen. Diese Arbeit war in keiner Weise neu für mich, denn ich verwendete ja schon während der Schulzeit fast meine gesamte Freizeit – die Ferien sowieso - damit im Büro einzuspringen. Jetzt konnte ich auch mein (schmales) Französisch anwenden, denn viele unserer Kunden stammten aus der Westschweiz. Durch die Praxis wurde mein Französisch mit den Monaten und Jahren etwas besser, ja schon fast passabel – soweit es sich um simple Bestellungsaufgaben handelte. Aber in Wahrheit befand ich mich immer noch Meilen entfernt vom Niveau, das mich glücklich gemacht hätte. Und mein Zehnfinger-System auf der Schreibmaschine war – ohne jetzt vollmundig tönen zu wollen – ziemlich unschlagbar. Zwar beteiligte ich mich nie an einem offiziellen Wettbewerb. Aber als ich einmal las, wie viele Anschläge der Weltmeister machen würde, testete ich mich unverzüglich selbst und sieht da, ich war im Stande eher mehr Anschläge zu leisten als er. Nun, wie ich mich in einem ernsten Wettkampf geschlagen hätte, das bleibt dahingestellt.

Meine Arbeit in Vaters Firma machte ich gerne und sie befriedigte mich ziemlich. Ich wurde lockerer und meine allgemeine Gefühlslage hob sich auf einen guten Level. Mein Ziel, das ich seit meiner Kindheit mit mir herumtrug, behielt ich hartnäckig weiter im Visier: Ich wollte professioneller Fussballer werden. Es war ein Traum, den ich nicht als vermessen beurteilte, denn ich verfügte über ziemlich viel Talent. Dass ich mit 15 Jahren schon in der ersten Mannschaft unseres Fussball-Clubs eingesetzt wurde, war für mich nur logisch. Ich fühlte mich gut genug und auch der Trainer war offensichtlich dieser Meinung. Wir hatten ein feines Team und einen guten Trainer. Wir stiegen innert zwei Jahren zwei Ligen höher. Auch das betrachtete ich – wie übrigens alle meine Kollegen auch – als völlig normal und die Fortschritte entsprachen unseren nicht eben bescheidenen Ansprüchen. Denn wir trainierten viermal in der Woche intensiv – aussergewöhnlich viel für eine Amateurmannschaft. Im Winter wurde ohne Unterbruch weiter trainiert, bei jedem Wetter und immer an der frischen Luft. Die guten Resultate waren der Lohn, den wir uns verdienten. Andererseits zeigte mein Vater weder Verständnis noch Freude an meinen sportlichen Ambitionen. Im Gegenteil, er verabscheute meine diesbezüglichen Aktivitäten, weil er in ihnen offensichtlich eine Art Konkurrenz sah: Wenn ich Sport machte, konnte er in dieser Zeit nicht über mich verfügen. Überdies war er ein Antisportler in seiner reinsten Form, ein Mensch ohne jeglichen Bezug zum Sport und deshalb in meinen Augen hochgradig inkompetent. Er vertrat die Ansicht, dass ich viel zu viel meiner Zeit «für diesen nutzlosen Blödsinn» vergeuden würde. Meine Eltern besuchten in allen zwölf Jahren meiner Aktivzeit kein einziges Spiel, bei dem ich mitwirkte. Und auch die Spielberichte über unsere Matches in der Zeitung ignorierte mein Vater demonstrativ aus Prinzip. Das ärgerte mich und ich verachtete insgeheim diese seine Ignoranz. Dabei möchte ich betonen, dass ich nicht meinen Vater verachtete (denn mir war das von Gott gegebene Gebot allgegenwärtig – Religionsunterricht sei Dank, wonach ein Kind seinen Vater und seine Mutter zu ehren habe…). Was ich verachtete war Vaters engstirnige Denkweise! Und das konnte mir niemand verbieten! Ausserdem wurmte mich noch immer all die Zeit eine andere Gegebenheit: Als ich weniger als zehnjährig war, staunte mein Vater über meine Fertigkeit den Ball zu jonglieren. Ich erklärte ihm bestimmt, dass ich mal Fussballer werden möchte. Er lachte mich aus und sagte: «Bis Du das entsprechende Alter erreicht haben wirst, existiert Fussball überhaupt nicht mehr. Fussball ist nur eine blöde momentane Zeiterscheinung, um die vom Krieg verwirrten jungen Leute abzulenken. Diese Mode wird genauso schnell vergehen, wie sie gekommen ist! Du wirst sehen: Sobald Du im entsprechenden Alter sein wirst, werden Dir ganz andere Sachen wichtiger sein»! Ich nahm die Aussage meines Vaters sehr ernst. Er zerstörte damit meine grosse Illusion. Ich war masslos enttäuscht, über lange Zeit traurig. Ein Dutzend Jahre später erinnerte ich ihn an diese seine Aussage, bemerkte, dass er absolut falsch lag mit seiner damaligen Prophezeiung. Wie er selbst feststellen könne, sei Fussball populärer denn je! Der Vater antwortete, dass er sich nicht erinnern könne, je etwas in diese Richtung gesagt zu haben. Natürlich verfehlte ich mein Ziel ein Fussballprofi zu werden schlussendlich um Welten. Meine fussballerische Entwicklung stockte ab meinem 18. Lebensjahr, weil das ganze Paket an Anforderungen an mich immer grösser wurde, das Fuder wohl überladen war. Ich besuchte nun eine Handelsschule in St.Gallen, machte aber meine Arbeit im Betrieb meines Vaters in identischer Weise weiter. Um das Arbeitspensum bewältigen zu können, arbeitete ich täglich bis spät in die Nacht. Unter diesen Umständen verkam der Fussball zwangsläufig zu einem Nebenschauplatz. Rückblickend staune ich über mich selbst, wie gelassen und reif ich damals diese nicht einfache Situation hinnahm, nämlich so, wie sich mir das Leben in der Realität eben darbot. Zumindest in diesem Punkt entpuppte sich die seinerzeitige Aussage meines Vaters als nicht falsch

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von wegen früher war alles besser

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