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Scheitern ist nicht dasselbe wie Krise

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In eine Krise gerät jemand, wenn die bisher gelernten Bewältigungsmöglichkeiten nicht mehr ausreichen, um mit einer neuen schwierigen Situation zurechtzukommen und eine neue Herausforderung zu bewältigen.

Krisen kommen meist überraschend. Sie führen dazu, dass die betroffenen Menschen sowohl in ihrem Selbstwertgefühl wie in ihren sozialen Kontakten labil werden. Die bisher vertrauten Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster geraten außer Kraft. Es charakterisiert eine Krise, dass sie Chance und Risiko in sich birgt. Bei einer Krise besteht noch die Möglichkeit, dass sich die krisenhafte Situation zum Besseren wenden wird. Nicht alle Menschen scheitern in einer Krise, wie es bei Andrea und Christian der Fall zu sein scheint.

Krisen kommen vor bei Wachstums- und Reifungsschritten und bei Prozessen der Lebensveränderung und sind also in gewisser Weise normal. Krisenzeiten sind etwa die Einschulung, der Tod eines Haustiers, die Pubertät, das erste Verliebtsein, Loslösung von den Eltern, Auszug von zu Hause, Eheschließung, Partnerschaft und Elternschaft, Ausscheiden aus dem Berufsleben, Altwerden, die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Wir Menschen erleben Veränderungen in diesen Zeiten oft als weniger bedrohlich, wenn wir unsere Erfahrungen mit anderen Menschen teilen und darüber sprechen können.

Schwieriger zu bewältigen sind schicksalhafte Krisen, die durch besonders kritische oder traumatische Lebensereignisse ausgelöst werden, z.B. durch einen Unfall, den Tod eines nahestehenden Menschen, eine plötzliche Krankheit, den Verlust des Arbeitsplatzes oder dadurch, dass jemand von anderen »an die Wand gespielt« oder gemobbt wird. Jule ist durch die Diagnose »Gehirntumor« in eine krisenhafte Situation geraten, aber offenbar nicht gescheitert, anders als Christian und Doris. Und oft wird übersehen, dass nicht nur ein schlechtes Prüfungsresultat oder das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung verarbeitet werden muss, sondern auch ein Lottogewinn, die Begegnung mit der großen Liebe des Lebens oder ein unerwartetes Stellenangebot.

Krisen können nicht nur einzelne Menschen, sondern auch ganze Bevölkerungsschichten treffen. Ich denke etwa an Umweltkatastrophen, an die Wirtschaftskrise oder an Kriegswirren. Dabei spielt die objektive Stärke des Krisenauslösers offenbar eine weniger große Rolle als das subjektive Erleben. Ein Erdbeben wird offenbar psychisch leichter verarbeitet als ein Kriegsgeschehen, die Vergewaltigung durch einen Fremden leichter als die durch einen Angehörigen.

Die Psychotherapeutin Dorothea Rahm benennt folgende zehn Anzeichen von Krisen3:

– Anspannung, Unsicherheit, Ängstlichkeit;

– Einengung und Starre in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten;

– fehlende oder gegen sich selbst gerichtete Aggressivität;

– fehlende Trauerreaktion;

– zunehmend inadäquates Verhalten;

– suizidale Anzeichen;

– Wertewandel: Nichts ist mehr von Bedeutung, alles ist sinnlos;

– Kopfschmerz, Schwindel, Appetit- und Schlaflosigkeit;

– Ausdünnung und Verlust von sozialen Kontakten;

– Realitätsverlust, Gedankenflucht, wahnhafte Ideen.

Der idealtypische Verarbeitungsprozess von Krisen scheint immer ähnlich zu sein. Rahm benennt die folgenden vier Phasen:

1. Nicht-wahrhaben-Wollen, Schock;

2. Aufbrechen chaotischer Emotionen;

3. sich trennen, suchen, finden;

4. Neuorientierung.

»Idealtypisch« heißt, dass diese Phasen nicht von jedem Menschen gleich erlebt werden und auch nicht immer nacheinander in dieser Reihenfolge ablaufen. Im nächsten Kapitel wird es darum gehen, was wir Menschen tun können, um dem Scheitern vorzubeugen. Nach aller Erfahrung hilft es ja, beizeiten eigene oder fremde Ressourcen zu mobilisieren. Wenn das gelingt, dann muss aus einer Krise auch bei ungünstigen äußeren Rahmenbedingungen kein persönliches Scheitern werden.

Scheitern

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