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1. Was ist Scheitern?
ОглавлениеSucht man in der Online-Enzyklopädie Wikipedia das Stichwort »Scheitern«, so erhält man die folgende Definition: »Scheitern ist in der Seefahrt ein Schiffsunglück, bei dem das Schiff vom Sturm auf Klippen oder eine felsige Küste geworfen wird und unter den Wellenstößen zerschellt – im Unterschied zum unversehrten Stranden.«1
Diese Definition aus der Seefahrt ist ein passendes Bild für das, was Scheitern im menschlichen Leben meint. Etwas Wichtiges und Wertvolles ist unwiderruflich zerstört und lässt sich nicht mehr reparieren. Es ist aus und vorbei. Eine völlige Neuorientierung steht an. Das Bild vom gestrandeten Schiff hat etwas Gewalttätiges. Gegen Ihren Willen wurde Ihr Lebensentwurf vollständig oder in Teilen zertrümmert. Sie sind der Situation ohnmächtig ausgeliefert.
Um im Bild zu bleiben: Sie können mit diesem Schiff die Reise nicht mehr fortsetzen. Vielleicht empfinden Sie eine gewisse Dankbarkeit, dass Sie immerhin überlebt haben. Aber geht es überhaupt noch weiter? Sind Sie auf einer Insel gelandet und wissen noch nicht, ob diese vielleicht unbewohnt ist – oder von Monstern behaust? Müssen Sie sich wie Robinson Crusoe auf eine ungewisse Zeit des Wartens einstellen? Kommt wie bei Robinson ein »Freitag« als Gefährte auf die Insel? Erscheint nach langer Zeit ein rettendes Schiff am Horizont?
Genau das meint Scheitern. Auch in der Umgangssprache würden Sie wohl nicht sagen: »Ich bin gescheitert«, wenn ein Sommerurlaub verregnet ist oder Sie die ersehnten Konzert-, Kino- oder Theaterkarten trotz langen Schlange-Stehens nicht ergattert haben. Scheitern meint mehr. Scheitern meint, dass ein Lebensplan zerbrochen ist und nachher nichts mehr so ist wie vorher.
Als man Menschen unterschiedlichen Alters aufzuschreiben einlud, was für sie Scheitern bedeute, notierten sie folgende Erfahrungen2:
– stets der Unterlegene sein;
– eine gute Chance haben und sie, obwohl man mit aller Kraft sein Bestes gibt, in den Acker fahren;
– ein großes Ziel nicht erreichen und keine Chance auf Wiederholung bekommen;
– der Traum ist ausgeträumt!
– scheitern ist, wenn ich etwas sehr wünsche und es sich einfach nicht erfüllen mag;
– aufgeben, resignieren, und somit für sich selbst und alle Welt feststellen, dass man etwas nicht hingekriegt hat, was man wirklich schaffen wollte. Addiere eigenes Verschulden an diesem Zustand und du hast »Scheitern«;
– aufgeben, an sich selbst und an Gott zu glauben;
– die Hoffnung zu Grabe tragen und vielleicht nicht einmal begreifen, dass man es nicht gepackt hat;
– mit achtundzwanzig immer noch Praktikant sein;
– nicht erreichen, was andere von mir erwarten; nicht erreichen, was ich mir vorgenommen habe; nicht erreichen, wozu ich fähig bin.
Diese Erfahrungen zeigen, dass wir in allen Lebenssituationen und Lebensaltern scheitern können. In den folgenden Selbstzeugnissen – die natürlich alle so verfremdet sind, dass die Anonymität gewahrt ist – drücken Menschen persönlich aus, wie sie ihr Scheitern erleben oder erlebt haben. Sie können sicherlich ohne große Mühe eigene Erfahrungen hinzufügen und – wenn Sie mögen – diese Liste für Ihr eigenes Leben ergänzen.
Andrea: Ich habe Angst und keine Kraft mehr.
»Unser Leben war stets großen Schwierigkeiten ausgesetzt. In den vergangenen Jahren haben wir jedoch mit mehr oder weniger großen Verletzungen das meiste überstanden. Unser momentanes Problem ist jedoch so schwerwiegend, dass ich Angst habe, es bedeutet das Ende unseres Lebens.
Wir haben beide kaum noch Kraft. Freunde melden sich nicht mehr, Eltern habe ich keine mehr, die meines Partners leben im Ausland und sind schwer krank. Seit Monaten leben wir in Angst, mein Tagesablauf ist von Angst geprägt, und meine Gebete sind in einen ständigen Gedankenfluss verwandelt, der sich immer an Gott wendet, mich allerdings auch jeden Tag an seinem Wohlwollen zweifeln lässt. Mein Freund hat ein großes finanzielles Problem, in das er aus Unachtsamkeit, aus Nachlässigkeit und weil er nicht auf seine innere Stimme gehört hat, geraten ist. Und ich habe manches geahnt, aber auch nicht wirklich wissen wollen, weil ich so sehr mit dem Tod meines Vaters beschäftigt war, dass ich keine Ohren und Augen im Kopf hatte.
Zumindest hat das, was ich mitbekam, nicht den mir normalerweise innewohnenden Abwehr- und Schutzreflex ausgelöst, so dass ich ihn hätte beschützen und die Katastrophe verhindern können. Knapp ein Jahr hat ausgereicht, ihn in diese schwere Situation kommen zu lassen, die noch lange nicht ausgestanden ist. An manchen Tagen blitzt etwas wie Hoffnung auf, dann jedoch ziehen immer sofort wieder schwarze Wolken auf, und ich frage mich das eine um das andere Mal: Hat es noch Sinn? Wir versuchten sogar, gemeinschaftlich Suizid zu begehen, doch im letzten Moment verhinderte es mein Freund.
Mein Freund hat gebeichtet, dennoch nagt das Gefühl großer Schuld an ihm, und er ist so verzweifelt und ich mit ihm. Wir haben immer gekämpft, schwere Krankheiten und Schicksalsschläge überstanden. Ich habe nur Angst, dass Gott bestimmt hat, wir sollen leiden. Das entfernt mich von Gott, und er macht mir manchmal mehr Angst, als er mich tröstet.«
Jule: Ich habe einen Gehirntumor.
Eine Frau, Mitte dreißig und voller Lebensfreude, fühlt sich seit einiger Zeit »schlapp und antriebslos«. Eine ärztliche Routineuntersuchung führt zunächst zu keinem verwertbaren Befund. Nach einem kleinen Unfall wird sie, eher zufällig, geröntgt – mit einem für sie niederschmetternden Ergebnis. Darüber berichtet sie:
»Die Zeit der Untersuchungen und Arztgespräche begann. Das Krankenhaus wurde, so könnte man sagen, mein zweites Zuhause. Ich glaube, ich war jede Woche zweimal dort. Das Ergebnis der MRT der Kopfuntersuchung lag vor: Es handelte sich um einen Gehirntumor! Im Krankenhaus, während ich mit dem Arzt sprach, war ich relativ gefasst. Ja, es kullerten kurz ein paar Tränen über meine Wange, aber echt geweint habe ich nicht. Das fand ich eigentlich total komisch, aber inzwischen weiß ich, dass ich es damals noch gar nicht kapiert hatte. Als ich zu Hause war und mich ein Freund nach dem Ergebnis fragte, bekam ich grad noch den Satz ›Es ist ein Gehirntumor‹ heraus. Dann war’s vorbei – ich konnte nur noch schluchzen und weinen.
Folgendes wurde mir gesagt: Es handelt sich um ein low grade glioma und sitzt frontal an meiner linken Seite. Es ist ungefähr walnussgroß, dem Arzt zufolge handelt es sich um ein – noch – gutartiges Gliom. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es momentan wächst oder nicht. Vielleicht habe ich es schon einige Jahre. Eine Biopsie, um ein Stück herauszunehmen, wäre zu riskant. Unsicher ist, ob man damit die Zelle, die krank ist, auch wirklich erwischt. Außerdem wäre man damit noch nicht weiter in der Frage, ob der Tumor sich weiterentwickelt oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich nach einer Biopsie genauso fit bin wie vorher, ist nicht hoch – es ist halt ein Eingriff ins Gehirn! Ich werde demnächst meine zweite MRT-Untersuchung haben; danach ist es möglich, die Bilder zu vergleichen. Dann wieder in sechs Monaten und so weiter. Ich werde bis zu meinem Lebensende in regelmäßigen Abständen in diese MRT-Untersuchungsröhre geschoben. Jedes Mal wird meine Anspannung groß sein, wenn ich auf das Ergebnis warte. Ich denke, dass es keinen Tag mehr in meinem Leben geben wird, an dem ich nicht wenigstens kurz an dieses Ding in meinem Kopf denken werde.«
Christian: Ich bin arbeitslos und krank.
»Eigentlich bin ich – wie man so sagt – in den besten Jahren, aber wann ist man das nicht? Ich bin Diplom-Ingenieur, habe für verschiedene Firmen gearbeitet und bei richtig großen Projekten verantwortliche Aufgaben erfolgreich ausgeführt. Aber dann kam innerhalb von drei Jahren ein Schicksalsschlag nach dem anderen: Als Erstes starb meine Mutter völlig überraschend von einem Tag auf den anderen. Eine Ursache konnte nicht festgestellt werden. Kurz darauf hat sich mein ältester Sohn das Leben genommen. Wenig später wurde ich entlassen. Die Wirtschaftslage ist schlecht, und es gibt keine Aufträge mehr, sagte man mir. Aber vielleicht befürchtete man, ich sei den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Als Arbeitsloser hatte ich alle Zeit der Welt, um nachzudenken.
Ich fühlte mich nutzlos und versuchte, mir das Leben zu nehmen. In der anschließenden Notfallbehandlung wurde festgestellt, dass ich an einer schweren Depression erkrankt bin. Meiner Frau zuliebe blieb ich in der Klinik. Nach drei Monaten wurde ich entlassen; man könne nichts mehr für mich tun, sagte man mir.
Dann fing ich an zu trinken. Als Arbeitsloser hatte ich ja eh nicht viel zu tun. Dann kam die Virusinfektion am Herzen. Unbedingt musste ich das Herz schonen und daher den Sport weglassen. Jetzt hat mein Herz nur noch ein Drittel der ursprünglichen Leistungsfähigkeit. Meine Frau kommt mit der ganzen Lebenssituation nicht zurecht und hat mich vorletzte Woche verlassen. Alles ging sehr friedlich vonstatten. Keine Familie, keine Arbeit, keine Freizeit – können Sie mir sagen, wofür ich noch leben soll?«
Doris: Ich stehe vor den Trümmern meines Lebens.
Eine Frau, die auf die vierzig zugeht, verliebt sich in einen verheirateten Mann. Er verspricht ihr, sich von seiner Ehefrau und seiner Familie zu trennen, um mit ihr zusammen eine neue Lebensperspektive aufzubauen. Nach vielem Hin und Her und dramatischen Höhen und Tiefen in der Beziehung gibt sie ihm zuliebe ihren Beruf auf, kündigt ihre Wohnung und zieht in die Stadt, in der er wohnt. Dort wollen sie heiraten und ein gemeinsames Leben beginnen.
»Aber da hat sich gezeigt, dass mein Freund sich doch nicht wirklich für mich entschieden hatte. Schon bald nach dem Umzug war von Heirat und Kindern keine Rede mehr. Im Gegenteil: Er ging immer wieder zu seiner Ehefrau und seinen Kindern zurück. Das hat mich sehr gekränkt und verletzt. Ich stehe jetzt vor den Trümmern meines Lebens. Ihm zuliebe hatte ich ja meinen Beruf aufgegeben, der mich schon sehr erfüllt hat, und einen neuen habe ich noch nicht gefunden. Jetzt erst merke ich, dass in meinem Freundeskreis für diese Entscheidung von Anfang an kein richtiges Verständnis war.
Mutterseelenallein bin ich jetzt in dieser fremden Stadt. Ich glaubte, dass ich mit meinem Freund Kinder haben und eine Familie gründen könnte. Dieser Traum ist nun ausgeträumt, denn inzwischen bin ich zu alt. Das wird nie gehen. Alles ist zerbrochen.«
Frank: Meine Freundin hat mich verlassen.
»Nach dem Abi, während des Zivildienstes, lernte ich die Mandy kennen. Ich war neunzehn Jahre alt, sie achtzehn. Wir haben uns beide total ineinander verliebt. Ich kann nicht mehr so genau sagen, ob das mehr von ihr oder mehr von mir ausging. Sie machte FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) in derselben Einrichtung, in der auch ich arbeitete. Wir machten viel zusammen, und es war eine total schöne Zeit. Wir arbeiteten nicht nur zusammen, sondern feierten auch und so. Alles passte einfach unheimlich gut zusammen. Sie verstand sich auch gleich mit meinen Kumpels. Ich war noch nie so glücklich wie in dieser Zeit. Nach dem Zivildienst begann ich dann mit dem Studium und sie auch. Da lernte sie den Mark kennen. Das traf mich wie der Blitz. Ich habe keine Ahnung, was sie an dem findet und was der hat, was ich nicht habe. Vor drei Monaten trennte sie sich von mir und ist nun mit ihm zusammen. Ich habe alles versucht, dass sie wieder zu mir zurückkommt. Aber das will sie nicht. Ich muss immerzu an sie denken. Was habe ich bloß falsch gemacht?«
Die Berichte von Andrea, Jule, Christian, Doris und Frank zeigen, wie verschieden man sein Scheitern sehen kann. Die individuelle Einschätzung spielt die entscheidende Rolle. Ich will nun die folgenden Aspekte unterscheiden und präzisieren.