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Kapitel 10
ОглавлениеHelene Müller lebte seit dem Tod ihres Mannes allein in dem großen Winzerhaus. Die Kinder hielt nach dem Studium nichts in Kesten, sie zog es hinaus in die weite Welt. Was sollten sie auch in dem Kaff? Kein Bäcker, kein Metzger, von einem Supermarkt ganz zu schweigen. Die Infrastruktur beschränkte sich auf die Dorfkneipe. Das was es dann auch schon. Helene hatte keine finanziellen Sorgen Dafür hatte ihr Mann zu Lebzeiten gesorgt. Aber im Alter was nützte das Geld auf dem Bankkonto. Die Einsamkeit konnte sie nicht wegreden. Seit Tagen plagten die Witwe Schmerzen im rechten Knie. Arthrose, lapidar klang die Diagnose des jungen Spundes von einem Facharzt der Orthopädie. Heilungschancen gering, eher ausgeschlossen. Sie könne froh sein, wenn sich ihr Zustand nicht verschlechterte. Welch ein Trost.
An den schmerzhaften Folgen eines Sturzes vor einigen Wochen litt sie noch immer. Gegen die blauen Flecke der Prellung half nur das Einschmieren mit Salbe und viel Geduld. In der Küchenschublade fand sich zum Glück eine angebrochene Tube Schmerzgel. Ihre Teilnahme am Seniorensport im Dorfgemeinschaftshaus, immer mittwochs, musste für eine Weile ausfallen.
Die ersten Tage nach dem Hinfallen sind immer die schlimmsten. Bei jeder Bewegung merkte Helene wo es weh tat. Also gab es nur eins. Sie telefonierte mit dem medizinischen Dienst und klagte ihr Leid. Schließlich musste die private Krankenversicherung Vorteile mit sich bringen. Zahlungskräftige Kundschaft durfte sich einer gewissen Vorzugsbehandlung erfreuen. Eine Pflegekraft werde sich noch am Vormittag bei ihr melden und alles Nötige in ihrem Sinne erledigen. Geht doch!
Die Aussicht auf Hilfe beflügelte die alte Dame. Flugs erhob sie sich vom Fernsehsofa und humpelte trotz heftiger Schmerzen in die Küche. Dort suchte sie nach einem Zettel und einem Schreibstift um mitzuteilen, sie befände sich im Wohnzimmer und die Haustür sei offen.
So lernte sie Erich Deutschmann kennen. Der junge Mann stand plötzlich in der Tür. Helene Müller musste kurz eingenickt sein, denn das energische Klopfen hörte sie erst beim zweiten Mal. Sogar das Klingeln an der Haustür hatte sie nicht mitbekommen. Der Mann im weißen Kittel mit dem gestickten Firmenlogo lächelte und stellte sich vor. Er komme vom MKM und solle nach ihr sehen. Unverständnis spiegelte sich im Gesicht der auf dem Sofa liegenden hilfsbedürftigen Patientin.
„Ich komme von der Mobilen Krankenpflege Monzel und Umgebung, entschuldigen sie, wir sagen nur MKM zu unserem Verein.“ Wieder sein gewinnendes Lächeln und Helene Müller verstand um wen es sich handelte. Sie rappelte sich erleichtert auf.
„Bitte nennen sie mich Erich, Frau Müller.“ Der junge Krankenpfleger schaffte so Vertrauen bei Helene. Eigentlich meinte sie, nur Frauen würden im Sozialbereich solche Jobs ausführen, doch so war es ihr auch recht. Ihre Freundinnen würden platzen, wenn sie von Erich erzählte. Darauf freute sie sich schon insgeheim. Klar, etwas ausschmücken dürfte sie diesen Krankenbesuch sicherlich. Wenn sie erwähnte, dass besagter Erich sich rührend um ihre Blessuren gekümmert habe. Und erst als er ihr verletztes Bein mit Salbe eingerieben habe …. Vielleicht sollte sie den letzten Teil besser weglassen, sonst hielten ihre Bekannten sie am Ende noch für eine klatschsüchtige Angeberin. Besser nicht allzu sehr übertreiben.
Erich kochte Tee und nachdem er alles notiert hatte, was er einkaufen sollte, plauschte er noch ein wenig mit seiner Patientin. Der junge Mann erzählte, er sei erst vor drei Jahren nach Deutschland gekommen. Aus Ungarn ausgewandert und gehöre zur Landsmannschaft der Donauschwaben. Daher komme es auch, dass er gut deutsch spreche, denn Zuhause sei er zweisprachig aufgewachsen.
„Noch etwas Tee, Frau Müller?“ Erich hielt die Teekanne in der Hand.
„Gerne, aber vielleicht könnten sie aus der Küche das Honigglas holen. So ist mir der Tee zu bitter.“
„So, jetzt wird ihnen der Früchtetee besser schmecken.“ Langsam glitt der Honig vom Löffel in die Teetasse. „Einmal umrühren und fertig.“ Der Krankenpfleger kannte sich in seinem Metier aus. Helene fühlte sich gut aufgehoben. Zu diesem Urteil gelangte sie schon nach der ersten Viertelstunde. Menschenkenntnis eben.
Erich reichte die Tasse über den Tisch und setzte sich gegenüber auf den Stuhl. Er griff den Gesprächsfaden wieder auf und erzählte.
Er wolle Medizin studieren und Facharzt werden. Beim MKM bereite er sich mit einem Praktikum auf das Studium vor. An der Universität habe er sich für das Sommersemester im nächsten Frühjahr beworben. Der Job bei der Mobilen Krankenpflege sei nicht schlecht. Da könne er praktische Erfahrungen im Umgang mit Patienten sammeln. Auch sei es möglich Geld für später zurücklegen. Wenn er Bafög kriege, werde es irgendwie schon reichen.
Helene Müller hörte gebannt den Worten des jungen Krankenpflegers zu. Ihr gefiel sein Engagement. Wer voran kommen wollte, der musste sich ins Zeug legen. Nicht so wie ihre stinkfaulen Nichten und Neffen, die als Kinder betuchter Eltern ausgiebig und langwierig Nichts studierten.
Über das Gespräch dachte Helene Müller auf ihrem Krankenlager noch lange nach. Helfen würde sie gerne um die Situation des jungen Mannes zu verbessern. Ihm einen Zehneuroschein zustecken, nein, das kam nicht in Frage. Das wäre zu plump. Dann kam sie auf eine Idee.
Endlich wieder ein Mann im Haus. Helene Müller konnte ihr Glück kaum fassen. Ihr Plan schien aufzugehen. Erich Deutschmann freute sich, als er das verlockende Angebot nach einigem Zögern annahm. Tolle Sache, er durfte in der Einliegerwohnung während der Dauer seines Praktikums wohnen, unentgeltlich sogar. Zuerst zierte er sich pro forma., er könne dieses Angebot nicht annehmen. Eine Frage des Stolzes, wie er betonte.
Aber ganz umsonst sollte diese Vergünstigung nicht sein. Helene Müller verstand es geschickt ihn davon zu überzeugen, dass er ihr mit einigen Besorgungen, kleinen Fahrdiensten bei Bedarf ja auch helfen würde und somit sei es doch ausgeglichen. Jeder habe von ihrer Vereinbarung seine Vorteile.
Helene Müller bemühte sich um ihren jungen Logiergast und richtete es oft so ein, dass sobald Erich nach Hause kam, sie wie zufällig, etwas in der großen Scheune im rückwärtigen Bereich des Winzerhauses zu tun hatte. Mal brachte sie einen gefüllten Müllbeutel nach draußen um ihn in die graue Tonne zu entsorgen, Mal suchte sie nach einem x-beliebigen Gegenstand in ihrem Waschraum und beobachtete ihren Hausgast, wenn dieser zur Eingangstür der Einliegerwohnung an ihr vorbei musste. Sie zog den jungen Mann immer in ein kurzes Gespräch. Ihr fiel da immer etwas ein.
„Erich, haben sie schon etwas zu Abend gegessen? Wenn sie mögen, ich habe noch Sauerkraut und Rippchen von heute Mittag auf dem Herd stehen. Kommen sie doch in die Küche.“ So fand Helene immer Gelegenheit um ihren Erich zu bemuttern.
Helene und Erich ergänzten sich prima. Am Wochenende weilte Erich meist außer Haus. Er besuche Freunde und Verwandte in der Gegend von Karlsruhe, wie er sagte. Helene vermutete eher eine kleine Freundin als eine Tante hinter den Ausflügen ihres Untermieters.
Helene Müller fühlte sich nicht richtig gesund. Wie sollte es nur mit ihr weitergehen? So unruhig war sie selten gewesen, ihre Gedanken spielten Karussell mit ihr. In ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Neue Unpässlichkeiten stellten sich ein. Unmerklich trat eine Veränderung ihres Allgemeinzustandes ein. Ihr Knie machte sich beim Treppensteigen bemerkbar, die Schritte wurden unsicher. Unerklärlich aber das Nachlassen ihres Gedächtnisses.